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Das Ein-Vers-Gedicht (8)

Fliehet, euch mit dem zu gatten, was Verderben nach sich ziehet.

 

– Wenn man ein Ein-Vers-Gedicht durch einen Vorne-Hinten-Reim gestalten kann, wie in (7) angeregt: wie lang kann dann der Vers sein, bevor der Gleichklang an Versbeginn und Versende nicht mehr hörbar ist?! Der oben angeführte Vers ist ein trochäischer Achtheber, geschrieben von Catharina Regina von Greiffenberg (im 17. Jahrhundert, wie die „Langformen“ fliehet, ziehet schon vermuten lassen), und er legt nahe: Bei dieser Länge liegt irgendwo die Grenze.

Obwohl der Vers als Sinnspruch gut alleine stehen kann, als Ein-Vers-Gedicht, hat ihn von Greiffenberg so nicht gedacht; er stammt aus einem längeren Gedicht, „Ketten- oder Ringel-Reimen“, und wenn man den Vers davor dazunimmt, sieht man: da reimt sogar die Versmitte!

 

Lasset den beleidten Schatten, diese Welt: den Himmel fasset.
Fliehet, euch mit dem zu gatten, was Verderben nach sich ziehet.

 

Schon eigenartige Verse, bei denen mir der Vorne-Hinten-Reim wirkmächtiger erscheint; und die daher brauchbare Ein-Vers-Gedichte abgeben, selbst wenn durch die Vereinzelung der Mittelreim wegfällt.

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Natur und Landschaft

Der Esel begegnete einem Giftmüllfass, Das Undicht War. „Was stehst du dumm in der Landschaft rum?! Tu was!“ rief er. „Zurück zur Natur!“ antwortete das Fass und wartete, bis Gras über die Sache gewachsen war.

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Die Bewegungsschule (28)

Die in (27) vorgestellten Verse entsprachen zwar den metrischen Vorgaben des Verses, der hier in der Bewegungsschule vorgestellt worden ist; durch ihren Verzicht auf die möglichen Abwandlungen wirkten sie aber recht eintönig.

Friedrich Schillers berühmter „Taucher“ benutzt einen anderen Aufbau, allerdings kann sich der verwendete Vers manchmal so ausformen, dass er „unserem“ Vers entspricht, in allen Abwandlungen; von daher möchte ich zu Übungszwecken einige der schillerschen Strophen hier vorstellen! Jede von ihnen enthält einen Vers der Art „ta ta TAM ta ta TAM || ta ta TAM ta ta TAM„, rein oder in Abwandlungen (wem die nicht mehr gegenwärtig sind – bitte noch einmal nachschauen in den älteren Einträgen). Die Aufgabe an jeden, der mag, wäre: diesen Vers herauszufinden! Am Schluss werden die entsprechenden Verse dann aufgelistet. Also los!

 

1 Und sieh! aus dem finster flutenden Schoß,
Da hebet sich’s schwanenweiß,
Und ein Arm und ein glänzender Nacken wird bloß,
Und es rudert mit Kraft und mit emsigem Fleiß,
Und er ist’s, und hoch in seiner Linken
Schwingt er den Becher mit freudigem Winken.

2 Und er kommt, es umringt ihn die jubelnde Schar,
Zu des Königs Füßen er sinkt,
Den Becher reicht er ihm kniend dar,
Und der König der lieblichen Tochter winkt,
Die füllt ihn mit funkelndem Wein bis zum Rande,
Und der Jüngling sich also zum König wandte:

3 Es riss mich hinunter blitzesschnell –
Da stürzt mir aus felsigtem Schacht
Wildflutend entgegen ein reißender Quell:
Mich packte des Doppelstroms wütende Macht,
Und wie einen Kreisel mit schwindelndem Drehen
Trieb mich’s um, ich konnte nicht widerstehen.

4 Das hörte die Tochter mit weichem Gefühl,
Und mit schmeichelndem Munde sie fleht:
„Lasst, Vater, genug sein das grausame Spiel!
Er hat Euch bestanden, was keiner besteht,
Und könnt Ihr des Herzens Gelüsten nicht zähmen,
So mögen die Ritter den Knappen beschämen.“

5 Da ergreift’s ihm die Seele mit Himmelsgewalt,
Und es blitzt aus den Augen ihm kühn,
Und er siehet erröten die schöne Gestalt
Und sieht sie erbleichen und sinken hin –
Da treibt’s ihn, den köstlichen Preis zu erwerben,
Und stürzt hinunter auf Leben und Sterben.

 

Es gibt durchaus noch einige mehr; aber das soll genügen. Klar ist, es kann keiner der letzten beiden Verse jeder Strophe sein – die enden immer auf einer unbetonte Silbe. Bleiben noch vier Möglichkeiten; aber da der zweite Vers stets dreihebig ist, sind es sogar nur drei Möglichkeiten. In den jeweiligen Strophen sind es diese Verse:

1 Und es rudert mit Kraft und mit emsigem Fleiß,

ta ta TAM ta / ta TAM || ta ta TAM ta ta TAM

„Und ein Arm und ein glänzender Nacken wird bloß,“ wäre von der Silbenanordnung auch passend, aber es fehlt eine Zäsur?! Nicht, dass man in einem „richtigen“ Text, der diesen Vers nutzt, nicht auch einen zäsurlosen Vers unter die gewöhnlichen, zäsurierten mischen könnte; einmal ist keinmal.

2 Und er kommt, es umringt ihn die jubelnde Schar,

ta ta TAM / ta ta TAM || ta ta TAM ta ta TAM

– Da kann die Zäsur sicher auch eine Silbe später gelesen werden?!

3 Wildflutend entgegen ein reißender Quell:

TAM TAM ta / ta TAM ta || ta TAM ta ta TAM

Versetzte Betonung am Anfang, die Zäsur ist um eine Silbe veschoben.

4 „Lasst, Vater, genug sein  das grausame Spiel!“

TAM TAM ta / ta TAM ta || ta TAM ta ta TAM

Einer der Verse, die es bis zum bekannten Zitat geschafft haben … Vom Versbau her aber sehr ähnlich dem vorigen?! Bei „Und mit schmeichelndem Munde sie fleht:“ passt wieder die Silbenanordnung; und wieder fehlt eine Zäsur.

5 Da ergreift’s ihm die Seele mit Himmelsgewalt,

ta ta TAM / ta ta TAM ta || ta TAM ta ta TAM

In dieser Strophe gibt es sogar noch eine zweite Möglichkeit: „Und er siehet erröten die schöne Gestalt“ mit fast derselben Versbewegung!

Insgesamt fünf in Kleinigkeiten unterschiedliche Verse. Eine Gemeinsamkeit haben sie allerdings auch: Schiller verzichtet in der zweiten Vershälfte auf einen Sinneinschnitt, viermal verwendet er dort ein dreisilbiges Adjektiv!

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Erzählverse: Der Hexameter (52)

Vom Wirklichen

Hexameter tun sich schwer damit, abstrakte Inhalte zu vermitteln – die langen Verse sind einfach zu sehr auf Gegenständlichkeit angewiesen, um nicht langweilig zu klingen; wie im Leerlauf. Dementsprechend setzen die meisten Hexameter-Texte auch mit Handlung ein, oder zumindestens mit einer Beschreibung. Goethes „Achilleis“ etwa:

 

Hoch zu Flammen entbrannte die mächtige Lohe noch einmal,
Strebend gegen den Himmel, und Ilios’ Mauern erschienen
Rot durch die finstere Nacht; der aufgeschichteten Waldung
Ungeheures Gerüst, zusammenstürzend, erregte
Mächtige Glut zuletzt. Da senkten sich Hektors Gebeine
Nieder, und Asche lag der edelste Troer am Boden.

 

Da kann man sich von Beginn an über fehlendes Ansprechen der Sinne eigentlich nicht beklagen! Als Gegenstück wähle ich den Anfang von Moritz Hartmanns „Adam und Eva“:

 

Glücklich in solcher Zeit, und dreimal glücklich ist jeder,
Dem ein Winkel gehört, dahin er vermag sich zu flüchten:
Sei’s ein Winkel, versteckt und vergessen im lieblichen Talgrund,
Fern dem Geräusche der Welt und nahe dem Rauschen der Quelle,
Nahe dem Brausen des Hains und nahe dem Liede der Lerche,
Wo er bald mit der Quelle, dem Hain und der Lerche sich Eins fühlt –
Sei’s ein Winkel in eigener Brust, ein Tuskulum, das stets
Mit ihm ziehet und flieht – ja glücklicher ist er zu preisen,
Denn die Natur, sie hat trotz Lerchen und Hainen und Quellen
Trotz Katarakten und Seen und Blumen und Leuchten der Gletscher
Nichts so schönes gemacht, als sich findet in jeglichem Herzen,
Wenn nur selbst es versteht den eingeborenen Reichtum.

 

Nicht, dass das jetzt schlechte Verse wären – aber man verspürt angesichts der zahlreichen Worthülsen der Art „im lieblichen Talgrund“ doch zunehmend den Drang, dem Verfasser ein „Nun fang endlich an, Mann!“ zuzurufen?! Hartmann allerdings fährt noch ein ganzes Weilchen so fort … Mich wundert nicht, dass sein Werk heutzutage unbekannt ist.

Dann doch lieber ein Abstecher zum Goethe-Anreger und Stammvater der epischen Dichter, Homer! In einem Vers aus dem zweiten Gesang  der Ilias führt Elphenor seine Männer in die Schlacht, aber dabei heißt es dann nicht einfach „Sein Volk folgte ihm rasch“, wobei „rasch“ ein sehr bildarmes Adjektiv wäre, sondern, wie Voss übersetzt:

 

Rasch ihm folgte sein Volk, mit rückwärtsfliegendem Haupthaar

 

„Mit rückwärtsfliegendem Haupthaar“! Eine sehr eindrückliche Verdeutlichung der Handlung! Und der Rest des Auftritts ist kaum weniger voll mit Anschaulichkeit:

 

Rasch ihm folgte sein Volk, mit rückwärtsfliegendem Haupthaar,
Schwinger des Speers und begierig, mit ausgestreckter Esche
Krachend des Panzers Erz an feindlicher Brust zu durchschmettern.

 

Drei Verse genügen, um einen Leser wirklichkeitssatt zu machen für, sagen wir, eine Woche.

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Erzählverse: Der Blankvers (34)

In „Der iambische Trimeter (9)“ habe ich einige Verse aus Gerhart Hauptmanns „Kaiser Maxens Brautfahrt“ vorgestellt; Dabei war die Wirkung erstaunlich, die aus dem Nebeneinander der gewählten, „normdeutschen“ Ausdrucksweise des Kaisers und dem Dialekt der Bergbäuerin sich ergab.

In Marie von Ebner-Eschenbachs „Die Erdbeerfrau“ tritt genau dieselbe Wirkung ein zwischen den Versen des Normdeutsch sprechenden „Ich“ und der Dialekt sprechenden „dürren Alten“, nur, dass es diesmal ein Gedicht ist und keine „szenische Dichtung“; und Blankverse verwendet werden statt der Trimeter. Ein Auschnitt aus dem längeren Text:

 

„Gsund bin i, Gott sei Dank!“, schloss sie vergnügt,
und zwinkert‘ nach den glutumsäumten Bergen
voll Liebe hin, „und hon aa koani Sorgn.“
„Im Sommer, doch wie sieht’s im Winter aus?“
„Mit Gottes Gnad, halt so, a bißl wiescht,
ma hofft halt immer, daß bal Frühling wird.
An Oaschicks bringt ihm scho so kloanweis furt.“
„Das ist der Trost der Einsamen,“ sagt‘ ich,
„wie Ihr es seid, vielleicht von jeher wart?“

Gutmütig, heitren Spotts zuckt sie die Achseln.
Ob meines Irrtums. „Na, von jeher nit,
i hon amal a schöns Awesn gheit‘
an braven Mo, fünf Kinder – ja amal!“
„Fünf Kinder? Hab und Gut? Und steht allein
und arm jetzt in der Welt? … Wie ging das zu?“
„No, schiefri ebba. ’s Unglück hat uns hoamgsucht,
verbrunna san mer aa“, gab sie zur Antwort
und schien zu denken: Ei, was kümmert’s dich?
Doch mählich eines Bessern sich besinnend,
hob leise seufzend sie von neuem an:
„Vor dreizehn Jahren – wartens – na, vor achtzehn,
ja wirkli, achtzehn – wie die Zeit vergeht!
Da is bei uns das großi Feuer gwest.
In d’Tenna eigschlagn hat der Blitz vom Himmi –
und voll mit Troad wies war, so is verbrunnen,
und aa der Mo, sechs Küh, zwoa Kinder, alls
verbrunna.“
„Wie? Verbrannt?!“
„Ja, ja, verbrennt.
Mi selba hat der Nachbar no am Zopf,
der damal armsdick war – wer möcht dees glaubn? –
herauszerrt aus die lichtrlohn Flammen.
Die Gloabiger hon si den Grund biholten,
und wiar i gangn, wiar i gstandn bin,
so bin i von der Brandgstätt weiterzogn.“
„Mit Euren Kindern?“
„Jo, mit denen drei,
die übri bliebn san, zwoa Diendln und
an kloan Buebn“, entgegnet sie gelassen.

 

„Wie?“ möchte ich hier und da auch fragen – ob ich alles verstanden habe, weiß ich nicht wirklich … Aber das allermeiste doch, und auch eine Bewegungslinie finde ich für die meisten Verse; nur bei einigen ist es schwierig:

herauszerrt aus die lichtrlohn Flammen.

herauszerrt aus die lichtrlohn Flammen.

Vielleicht?! Dann wäre der Vers, wie vom Blankvers verlangt, fünfhebig. Oder ist er doch bloß vierhebig? Schon erstaunlich, wie hilflos man ist, wenn man den Klang der Worte nicht im Ohr hat …

Jedenfalls eine bermerkenswerte Art von Blankversen. Auch wenn ich als eher Norddeutscher bei allem Wollen fremdle – es ist immer wieder erstaunlich, was dieser Vers für Möglichkeiten hat!

Ein Vergleich mit Hauptmanns Trimetern lohnt sich sicher auch. Wer mag …

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Der kleine Gott des Sommers

Ein leiser, warmer Regen
Fällt ohne Hast und Eile
Schon seit so mancher Stunde.
Der kleine Gott des Sommers
Hat Schutz gesucht am Stamme
Der hochgewachsnen Eiche
Und wartet dort gemütlich
Im Schatten eines Astes.
Er freut sich an des Wassers
Vergnügter Himmelsreise,
Und immer, wenn die Winde,
Aus ihrem Schlaf erwachend,
Den Regen seitlich treiben,
Versucht er, allen Tropfen
Mit anmutsvollen Schritten
Und Sprüngen auszuweichen.
So tanzt er mit dem Regen,
Bis sich einmal zu viele
Der Tropfen auf ihn stürzen –
Und einer schließlich trifft!
Dann lacht der Gott und schüttelt
Das Wasser von sich nieder,
Verbeugt sich tief, um damit
Den Regen und die Winde
Als Sieger dieser Runde
Zu preisen und zu rühmen,
Und schaut dann auf zum Himmel:
Das Regengrau der Wolken
Zeigt keine hellen Stellen.
Der kleine Gott des Sommers
Reibt sich vergnügt die Hände
Und wartet auf die Böe,
Die bald mit ihrem Wehen
Den nächsten Tanz eröffnet.

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Die Bewegungsschule (27)

Zu den viersilbigen Bewegungseinheiten gibt es noch viel zu sagen, und zu den mehrsilbigen erst recht; aber ich möchte auch den Vers nicht in Vergessenheit geraten lassen, den das erste Dutzend Bewegungsschulen-Einträge entwickelt hat!

ta ta TAM ta ta TAM || ta ta TAM ta ta TAM

So sieht er bekanntlich aus – in der Grundform; davon ausgehend gab es verschiedene Möglichkeiten der Abwandlung, das Vertauschen zweier leichter mit einer schweren Silbe, das Erweitern zweier leichter Silben zu drei leichten Silben, das Vermindern zweier leichter Silben zu einer leichten Silbe, und schließlich: Das Verschieben der Zäsur um eine Silbe „nach hinten“. Dieses Verschieben lässt sich in dem folgenden Gedicht von Alfred von Berger sehr gut verfolgen. Es ist strophisch gebaut, und die Verse reimen sich; das entspricht ja nicht dem eigentlichen Gedanken! Aber: Durch den Reim wandert die Aufmerksamkeit hin zum Vers-Schluss, weg von den Bewegungsmöglichkeiten im Versinnern; und tatsächlich sind die zweisilbigen Senkungen durchgängig eingehalten und auch mit sehr leichten Silben besetzt („vor-wärts„, „durch-glüht“ ist schon das Höchstmaß an vorhandener Schwere!), die Versbewegung ist also sehr einheitlich. Die Verschiebung der Zäsur fällt da besonders ins Ohr!

 

Und ein Rätsel die Welt und ein Rätsel auch du,
Und ein Rätsel der Kampf und ein Rätsel die Ruh,
Und ein Rätsel der Schmerz und ein Rätsel das Glück,
Und es wandern die Wellen – nicht eine zurück!

Und ein Rätsel das Gute, das selbst sich belohnt,
Und ein Rätsel die Sünde, die keinen verschont,
Und ein Rätsel die Schönheit, die duftend erblüht,
Und ein Rätsel die Lieb‘, die das Herz dir durchglüht,

Und das stumme Gebet, das der Brust dir entschwebt,
Und die Ahnung der Gottheit, zu der sichs erhebt.
Und ein Rätsel des Schicksals verworrenes Spiel,
Und das schweigende Grab am gefürchteten Ziel!

Und doch vorwärts, nur vorwärts, ermattete Brust,
Wie die Wellen im Flusse mit brausender Lust,
Und so frag nicht erst lange, woher und wozu –
Und ein Rätsel die Welt und ein Rätsel auch du!

 

Wiederholung, vielleicht ein wenig viel, und Abwandlung! In der ersten Strophe haben die ersten drei Verse die gewöhnliche Mittelzäsur, der vierte bricht das inhaltliche Muster und verschiebt dabei auch die Zäsur!

Die ersten drei Verse der zweiten Strophe behalten dann die verschobene Zäsur bei, der vierte Vers kehrt zur Mittelzäsur zurück – durchaus etwas gewalttätig: „Lieb'“. Die zweite Vershälfte ist im Gegensatz zur ersten Strophe mit Relativsätzen gefüllt (Abwandlung); durchgehend (Wiederholung)!

In Strophe drei wieder etwas neues: zwei verschobene Zäsuren in den Mittelversen, eingerahmt von zwei gewöhnlichen Zäsuren; eine Ordnung, gegen die der Reim und das ein letztes Mal auftauchende „Rätsel“ anarbeiten! Wobei im dritten Vers der deutlichere Einschnitt vielleicht sogar hinter „Rätsel“ liegt?! Ich denke, man kann im Vortrag die eine wie die andere Zäsur verwirklichen (nur nicht beide gleichzeitig).

Die Schluss-Strophe beginnt wieder mit drei verschobenen Zäsuren, schließt dann aber mit einer gewöhnlichen; und der ganze Vers ist eine Wiederholung des Eingansverses.

Hm. Insgesamt wiederholt von Berger unglaublich viel, der Text wirkt dadurch eintönig; dann wieder bringt er viel Abwandlung hinein, um diese Wiederholung nicht Überhand nehmen zu lassen. Ganz glückt es ihm nicht, denke ich, der Text hat da kein wirkliches Gleichgewicht, aber vielleicht muss er das ja auch gar nicht – „vorwärts, nur vorwärts“! Der Prüfstein ist wie immer der Vortrag; also wer mag, der versuche sich und bewerte den Text im Anschluss selbst!

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Erzählverse: Der Hexameter (51)

Theokrits „Die Rinderhirten“

Ich lese immer mit Freude in den Übersetzungen Eduard Mörikes – zum Beispiel in denen der Werke Theokrits. Der, ein griechischer Dichter aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert, hatte es mit der Bukolik, also mit der Hirtendichtung. In seinen „Rinderhirten“ geschieht das, was in solchen Hirtengedichten des öfteren geschieht: Zwei Hirten einigen sich auf ein Wettsingen, machen einen Einsatz – und los geht’s:

 

Daphnis

Schau, Polyphemos! Da wirft Galateia die Herde mit Äpfeln
Dir, und Geißhirt schilt sie dich, „o du stockiger Geißhirt!“
Doch du siehst sie nicht an, Unseliger, sondern du sitzest
Nur süß flötend für dich. O sieh, da wirft sie schon wieder
Nach dem Hüter der Schafe, dem Hund; der bellet und blicket
Starr in das Meer, und es zeigen die Nymphe die lieblichen Wellen,
Sanft am Gestad aufrauschend, wie unter der Flut sie dahinläuft.

 

Der Zyklop Polyphem und die (Meeres-)Nymphe Galateia werden nicht nur hier besungen – sie sind ein ziemlich häufiges Thema?! Das „aufrauschend“ der letzten Zeile hat eine sehr hübsche Bewegung, und auch die Vorstellung der „unter der Flut laufenden Nymphe“ hat etwas!

Daphnis singt zwar noch mehr, aber ich springe gleich mal zu seinem Gegenüber.

 

Damötas

Ja, beim Pan, ich hab‘ es gesehn, wie sie warf in die Herde!

Aber ich ärgre sie wieder dafür und bemerke sie gar nicht,
Sag auch, ein anderes Mägdelein hätt ich. Wenn sie das höret,
Päan! wie eifert sie dann und zergrämt sich! Wild aus der Meerflut
Springt sie hervor und schaut nach der Höhle dort und nach der Herde.

 

Auch eine Vorgehensweise …

Vom Vers her betrachtet sind diese bukolischen Gedichte wegen der Zäsur bemerkenswert. Die Hauptzäsuren sind ja diese:

X x (x) / X x (x) / X || x || (x) / X || x || (x) / X x x / X x

Die drei roten Zäsuren sind allgemein üblich; die vierte, orangene, nach der ersten unbetonten Silbe der vierten Einheit, haben die Griechen im allgemeinen gemieden, die lateinischen und die deutschen Hexameter benutzen diese Zäsur aber gleichwertig mit den anderen. Alle vier liegen jedenfalls, wie es sich gehört, innerhalb der entprechenden metrischen Einheiten!

Die bukolischen Dichter haben eine weitere Zäsur regelmäßig benutzt: die „bukolische Diärese“. Das meint den Einschnitt nach der vierten Einheit:

X x (x) / X x (x) / X x (x) / X x (x) || X x x / X x

In den vorgestellten Versen kommt dieser Schnitt gleich dreimal nacheinander vor:

Sag auch, ein anderes Mägdelein hätt ich. || Wenn sie das höret,
Päan! wie eifert sie dann und zergrämt sich! || Wild aus der Meerflut
Springt sie hervor und schaut nach der Höhle dort || und nach der Herde.

– Wobei das beim letzten Vers, zugegebenermaßen, etwas schwerer zu bemerken ist.

Wenn die Zäsur so weit „nach rechts“ verschoben wird, prägt das den Vers doch deutlich, auch und vor allem, weil dann sehr oft am Anfang des Verses eine zweite Zäsur hinzukommt und der Vers dreigeteilt wird!

Aber zurück zum Wettsingen der beiden Hirten: Das ging untentschieden aus, wie der Schlussvers berichtet:

 

Sieger jedoch war keiner, denn fehllos sangen sie beide.