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Erzählverse: Der iambische Trimeter (12)

Eduard Mörikes „Auf eine Lampe“ ist ein sehr bekanntes Gedicht. Zu Recht!

 

Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du,
An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier,
Die Decke des nun fast vergessnen Lustgemachs.
Auf deiner weißen Marmorschale, deren Rand
Der Efeukranz von goldengrünem Erz umflicht,
Schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelreihn.
Wie reizend alles! lachend, und ein sanfter Geist
Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form –
Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein?
Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.

 

Wunderbare Verse. Mörike hat viele Trimeter-Gedichte geschrieben und diesen Vers fast immer vorbildlich behadelt; wer den Trimeter wagen möchte, sollte sich also auf jeden Fall diese Werke zu eigen machen!

Auch hier lässt sich viel lernenaus der Art, wie Mörike jeden Vers anders gliedert als den davor erklungenen, wie er manchmal einen Zeilensprung setzt, und manchmal nicht, bis schließlich im Schlussvers ein wirlich vollkommener Trimeter das Gedicht eindrucksvoll beschließt. Auch die verwendeten Wörter sollte man sich genau anschauen!

Zu diesem Gedicht gibt es auch viele Auslegungen, durchaus auch im Netz; wer schaut, wird fündig werden. Aber eigentlich begeistert mich hier am meisten Mörikes Vers-Meisterschaft.

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Rätsel

Auf fremder Schwelle weint ein Kind.
Du stellst die Silben vor ihm um –
Schon schwimmt ein Kind im Meer herum.
Nun sag mir, wer die Kinder sind!

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Erzählverse: Der Hexameter (47)

Friedrich Gottlieb Klopstocks „Der doppelte Mitausdruck“

Klopstock hat sich über seine Vorstellungen von Dichtung auch dichterisch geäußert, oft in der Gestalt von Epigrammen. „Der doppelte Mitausdruck“ ist ein solches Epigramm! Es ist kurz, vier Verse nur, und besteht durchgängig aus Hexametern – erstaunlich eigentlich, üblicher wäre da doch ein doppeltes Distichon gewesen?! Hier jedenfalls der Text:

 

Der doppelte Mitausdruck

„Silbenmaß, ich weiche dir nicht, behaupte mich, ziehe
Dir mich vor!“ „Wohlklang, ich liebe das Streiten nicht. Besser
Horchen wir jeder mit wachem Ohr dem Gesetz und vereinen
Fest uns. Wir sind alsdann die zweite Seele der Sprache.“

 

Nun sollte natürlich kurz besprochen werden, worum es Klostock hier geht; aber zuerst möchte ich auf eine Lesung dieses Stückes hinweisen, die auf einer sehr schönen Seite von Fritz Stavenhagen zu finden ist:

Der doppelte Mitausdruck

Daran finde ich nämlich einiges Bemerkenswertes. Das geht schon in der Überschrift los, die Stavenhagen für mich so liest:

v — v v — — —

Also bei „Mitausdruck“ drei annährend gleichschwere Silben, jedenfalls aber deutlich schwerere als das „-pel-te“, wodurch ein schöner Ausdruck entsteht!

Im ersten Vers steht das „-maß“ auf einer betonten Stelle, da hätte ich mir vielleicht ein wenig mehr Nachdruck gewünscht, um das „— v —“ noch deutlicher hörbar zu machen; aber so geht’s natürlich auch. Im zweiten Vers wird dem Leser einiges abverlangt, der metrische Aufbau ist wohl dieser:

Dir mich / vor!“ „Wohl- / klang, ich / liebe das / Streiten nicht. / Besser

— — / — — / — || v / — v v / — v v / — v

Also eher „antik gemessen“ … Nun fallen die beiden ersten Betonungen auf recht schwache Silben („Dir“, „vor“), und das eigentlich sehr schwere und betonte „Wohl-“ steht in einer Senkungsposition, wodurch sich einer jener berüchtigen „geschleiften Spondeen ergibt. Wie löst der Sprecher nun dieses Kuddelmuddel? Sinnig, scheint mir: Er betont „Dir“ und „mich“ auf einer Höhe, geht dann, notgedrungen, beim „vor“ etwas runter (vielleicht eine Kleinigkeit zu weit?!), ehe er das „Wohl-“ nicht allzustark heraushebt und das „-klang“ schön streckt, um sie einander anzunähern. Der eine „unantike“ Trochäus „— v“ ist schon von Klopstock so verwandt worden, dass er die Zäsur enthält und sich durch die Sprechpause „längt“. Also: Trickreich, das alles.

Im dritten Vers ist schade, das die eigentliche Verszäsur gar nicht hörbar gemacht wird. Im vierten Vers hätte ich mir das einletende „Fest“ stärker gewünscht; passt zum Metrum, passt zum Inhalt.

Genau, der Inhalt … In Prosa klingt Klopstock, redet er über das Machen von Gedichten, so:

Erst der Inhalt, hierauf der Ausdruck, das ist Worte, die dasjenige bestimmt bedeuten, was wir damit sagen wollen, indem sie zu dieser Absicht sorgfältig gewählt und geordnet sind; die denjenigen Wohlklang haben, der zu der vorgestellten Sache gehört und die durch die Bewegung, welche ihre Längen und Kürzen hervorbringt, noch mehr und noch lebhafter dasjenige dedeuten, was sie bedeuten sollen.

Oder, in zwei knappen Sätzen:

– Der Klang der Wörter ist Mitausdruck.
– Silbenmaß ist Mitausdruck durch Bewegung.

Wobei die „Bewegung“ für Klopstock immer eine viel wichtigere Rolle gespielt hat als der „Wohlklang“ – wenn man’s recht bedenkt, schimmert das auch durch den Dialog (Klopstock liebte es, in Dialogform zu theoretisieren) des Epigramms durch – das „Silbenmaß“ beansprucht doch den größeren und eindrucksvolleren Teil der vier Verse für sich …

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Erzählverse: Der trochäische Vierheber (23)

Der Fall in den Fluss

 

Lene Levi lief besoffen
Nächtlich in den Nebenstraßen,
Hin und wieder „Auto“ brüllend.

Ihre Bluse war geöffnet,
Dass man ihre feine, freche
Unterwäsche und das Fleisch sah.

Sieben geile Männlein rannten
Hinter Lene Levi her.

 

Sieben geile Männlein trachten
Lene Levi nach dem Leibe,
Überlegend, was das kostet.

Sieben, sonst sehr ernste Männer
Haben Kind und Kunst vergessen,
Wissenschaft und die Fabrik.

Und sie rannten wie besessen
Hinter Lene Levi her.

 

Lene Levi blieb auf einer
Brücke stehen, atemschöpfend,
Und sie hob die wirren blauen

Säuferblicke in die weiten
Süßen Dunkelheiten über
Den Laternen und den Häusern.

Sieben geile Männlein aber
Fielen Lenen in die Augen.

 

Sieben geile Männlein suchten
Lene Levis Herz zu rühren.
Lene Levi blieb unnahbar.

Plötzlich springt sie aufs Geländer,
Dreht der Welt die letzte Nase,
Jauchzend plumpst sie in den Fluss.

Sieben bleiche Männlein rannten,
Was sie konnten, aus der Gegend.

 

Ein Gedicht von Alfred Lichtenstein, der den Vierheber hier nicht reiht, sondern vier Gruppen bildet, von denen jede wieder aus zweimal drei und einmal zwei Versen besteht.  Jede dieser kleinen Einheiten fasst einen Satz.

So gesehen ein streng gebautes Gedicht?! Um so mehr fallen die beiden Dreizeiler der dritten Gruppe ins Ohr, da sie zum einen die Regel „Drei Verse = Ein Satz“ durchbrechen und zum anderen auch noch verschwenderisch viele Zeilenumbrüche aufweisen.

Auch bemerkenswert: sowohl in Bezug auf die „sieben Männlein“ als auch auf Levi wechselt der Text einmal in die Gegenwart!

Insgesamt also einiges an Auflockerung, die dem recht festen Aufbau entgegenwirkt, und aus dem entstehenden Spannungsverhältnis gewinnt Lichtensteins Gedicht eine schöne Lebendigkeit?!

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Erzählverse: Der Blankvers (32)

Ein Gegenstück zu den Blankversen von Henry von Heiseler, vorgestellt im gestrigen Eintrag, sind die Blankverse dieses Eintrags, entnommen aus Karl Kraus‘ „Nach dreißig Jahren“ (ein langes Stück):

 

Nicht Schranken sind errichtet, nur ein Maß.
Und nicht von mir, bloß durch mich; weil ich bin,
nicht weil ich es bestimme. Solchen Wahns
verwäge und vermesse ich mich nicht
und maße mir nicht an, das Maß zu geben,
der längst erfuhr, wie gegen seinen Willen
die Welt läuft und wie seines Wirkens Spur
unkennbar wird im Fortschritt dieser Zeit.
Doch hebt die Spur sich ab vom Gegenteil,
im Negativ der Menschlichkeit bewahrt.
Vorhanden bin ich, und es hat sich vieles
an mir entschieden, da es von mir schied.
Nicht standzuhalten meiner Gegenwart
war die Bestimmung der Umgebenden,
und Rettung vor der Stimme, die sie anrief:
ein abgeredet Schweigen, das da wähnt,
ich sei nicht auf der Welt. Wie Angst im Wald,
sich Mut zu machen, schreit vor einem Feind,
der nur vermutet ist, so schweigen sie
laut auf vor dem, der immer gegenwärtig
und spürbar wirkend ihre Zeit durchquerte.

 

– Wie von Heiselers Verse voll sind von Gegenständlichkeit, so sind Kraus‘ Verse frei davon. Gänzlich frei! Tatsächlich ist ein Allerweltswort wie „Wald“ das gegenständlichste, was zu finden ist … Dadurch spielt sich für den Leser das Erfassen des Inhalts fast vollständig auf der Verstandes-Ebene ab, was ich ein wenig mühselig finde. Das soll nicht heißen, ein Gedicht dürfe nicht gedanklich oder philosophisch wirken; aber hier kommt ja auch noch dazu, dass Kraus den Satz dem Vers gegenüber bevorteilt, oft bis zur völligen Auslöschung, bis zur Unkenntlichkeit des Verses; und das ist dann doch etwas zuviel Prosanähe und etwas zu wenig an Gedichthaftem – zumindest für meinen Geschmack …

Und nicht von mir, bloß durch mich; weil ich bin,

Dieser Vers zeigt sehr deutlich, was ich meine: Nur Einsilber, nur Bauwörter; der Vers gewinnt keine Bewegungslinie, weil keine Silben wirklich herausgehoben zu werden verdienen?! Eine stumme, eine Gedanken-Übung eben.

ich sei nicht auf der Welt. Wie Angst im Wald,

Auch wenn es nur „Welt“, „Angst“ und „Wald“ sind: Auch dieser Vers besteht nur aus Einsilbern, aber die drei „Sinnwörter“ geben ihm immerhin einen gewissen Halt!

Warum ist das Publikum so frech gegen die Literatur? Weil es die Sprache beherrscht. Die Leute würden sich ganz ebenso gegen die anderen Künste vorwagen, wenn es ein Verständigungsmittel wäre, sich anzusingen, sich mit Farbe zu beschmieren oder mit Gips zu bewerfen.

Die Kraus’sche Prosa mag ich, im Gegensatz zu seinen Versen ; die vielen Aphorismen sind herrlich, eigentlich: alle.

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Erzählverse: Der Blankvers (31)

Henry von Heiseler hat eine ganze Reihe von sogenannten „Einzelreden“ geschrieben, darunter auch die folgende.

 

Dichter

Ich schloss der Schätze goldne Kammer auf
Und hob aus allem Zierat ferner Tage –
Auf denen Licht liegt wie von einem Stern –
Geschmeide, das ich vor die Menge warf
Aus vollen Händen: hier der krause Reif,
Mit Zaubersprüchen, die voll Heilkraft sind,
Hier Zeichen, vielfach in den Stein geritzt,
Und vieler Grotten Glanz in Strahlenfarben.

Ich nahm aus alten Truhen voller Schmuck
Der Worte viel, die von erwähltem Leben
So überflossen wie aus gelben Zellen
Der Honig fließt – da wuchsen heilig mir
Die Worte in der Hand – wie Traubensaft
Der Beere Rundung dehnt – hin floss der Wein
Und ward ein starker Strom in meiner Hand
Und goss in alle Weiten seine Wellen.

Dann sang ich euch, was mir die Zeichen wiesen.
Da war ein Staunen rings und Preisen viel:
Nun baue, Meister! … Und ich rüstete
Den reichsten Tempel, und ihr lobtet mich,
Dem Schwung der Bögen gabt ihr hohen Ruhm,
Den Bildern, Fliesen, bunten Lampen auch
Und meiner Brunnen weißer Plätscherspielen …

Doch keiner suchte das verborgne Tor
Zum Heiligsten, darin geheimes Wunder
Aus eignen dunklen Kräften schäumt und glüht.
Dort hängt ein Spiegel, der das Feuer spiegelt.
Doch keiner suchte den geweihten Raum:
Denn seine Wände sind von schwarzem Erz,
Unheimlich ist der Boden wie das Eis,
Zwei kupferdunkle Greife halten Wache.

 

Das ist ein Dichter-Bild, das man haben kann, oder wahrscheinlicher, haben konnte; ich nehme an, heute sieht man die Dinge da etwas nüchterner. Ist aber nicht so wichtig, denn was den Text bedenkenswert macht, ist die Art, wie  Vers und Satz sich eigenständig bewegen und sich doch des anderen immer bewusst sind. Das Ergebnis sind sehr wirkungsvolle Blankverse, meinen Ohren nach; und da macht es dann auch nichts, wenn ich manches nicht verstehe – „Und meiner Brunnen weißer Plätscherspielen“?!

Dieser Vers ist auch einer der wenigen, die man in ihrer Bewegung hinterfragen kann:

Und / meiner / Brunnen / weißer / Plätscher- / spielen

Nach dem einleitenden „Und“ folgen fünf Wörter der Bauart „X x“, was den Vers ein wenig eintönig und breiig wirken lässt. Eigentlich sind schon vier Wörter dieser Art eine Belastung, wie dieser Vers ganz gut zeigt:

Und goss in alle Weiten seine Wellen.

– Da finder sich „hintenraus“ keine starke, einprägsame Bewegung?!

Ansonsten macht der Vers von den Freiheiten, die dem Blankvers zur Verfügung stehen, keinen Gebrauch; lediglich am Schluss dieses Verses …

Nun baue, Meister! … Und ich rüstete

… besetzt die letzte Silbe des Verses, das „te-„, eine Hebungsstelle, wofür es eigentlich nicht geeignet ist: es mangelt ihm an Schwere.

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Ohne Titel

Heinrich träumte SF. Die Gretchen, sein Forschungskreuzer,
Schoss durchs unendliche All gen Aqua, den Wasserplaneten,
Welcher nun, endlich! gewaltig und makellos blau auf den großen
Schirmen der Brücke erschien. Drei Forschungsreisen schon hatte
Heinrich abbrechen müssen, doch diesmal würde es glücken!
Nicht mehr lang, und er würde hinunter ins Meer ohne Ufer
Tauchen, um dessen Bewohner zu sehn; in zerbrechlichen Booten
Zahllose Wellen durchschaukeln; versuchen, vor mächtigen Stürmen
Schutz zu finden, die himmelan reißen die endlosen Wasser;
Dulden die ewige Regenflut, die sie wieder hinabzwingt;
Würde – Heinrich erwachte, und fluchte; und ging, um zu pinkeln.