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Die Bewegungsschule (25)

Es gibt insgesamt sechs Möglichkeiten, zwei „schwere“ und zwei „leichte“ Silben anzuordnen, zwei „gewöhnliche“, „ta TAM ta TAM“ und „TAM ta TAM ta“, und vier ein wenig bis sehr ungewöhnliche:

ta ta TAM TAM

ta TAM TAM ta

TAM TAM ta ta

TAM ta ta TAM

Davon sind die ersten drei auch schon hier in der Bewegungsschule verhandelt worden; alle vier aber lassen sich aus dieser Silbenfolge gewinnen:

… ta ta TAM TAM ta ta TAM TAM ta ta TAM TAM ta ta TAM TAM ta ta TAM TAM ta ta TAM TAM

Wenn man  von Beginn an nach jeder vierten Silbe einen Abteilungs-Strich macht …

… ta ta TAM TAM | ta ta TAM TAM | ta ta TAM TAM | ta ta TAM TAM | ta ta TAM TAM | ta ta TAM TAM

… erhält man Einheiten der Form „ta ta TAM TAM„, die, wie schon festgestellt wurde,  einen ganz eigenen, wohltönenden Klang haben:

Als die Nacht kommt
Und die Jungfrau
Vor die Tür tritt,
Ist der Mond voll:

Das sind nun keine besonders geistvollen Beispiele, aber es kommt ja auch auf den Klang an.

Die zweite Möglichkeit unterscheidet sich sehr stark von der ersten, das „ta TAM TAM ta“ ist viel rauer, misstönender. Es entsteht, wenn die Einschnitt-Stellen um eine Silbe nach rechts versetzt werden:

.. ta | ta TAM TAM ta | ta TAM TAM ta | ta TAM TAM ta | ta TAM TAM ta | ta TAM TAM ta | ta TAM TAM ..

Ich schreibe die begonnene Geschichte mal mit diesen Einheiten weiter:

Als die Nacht kommt
Und die Jungfrau
Vor die Tür tritt,
Ist der Mond voll:
Entsetzt sieht sie
Vampirfänge
Im Licht schimmern!

Klingt wirklich gänzlich verschieden?! Die dritte Möglichkeit, „TAM TAM ta ta“, lässt sich im Deutschen schwer nachbilden, sie formt sich, wenn der Trenn-Stich wiederum um eine Silbe nach rechts versetzt wird:

.. ta ta | TAM TAM ta ta | TAM TAM ta ta | TAM TAM ta ta | TAM TAM ta ta | TAM TAM ta ta | TAM TAM ..

Daher auch nur zwei Beispiele im weitergeführten Text:

Als die Nacht kommt
Und die Jungfrau
Vor die Tür tritt,
Ist der Mond voll:
Entsetzt sieht sie
Vampirfänge
Im Licht schimmern!
„Grundgütiger …
Helft, rettet mich!“

Und dann sofort weiter zur vierten Möglichkeit, „TAM ta ta TAM„; das Weiterschieben des Trenn-Strichs um eine Silbe nach rechts führt nun wieder zu einer sehr wohlklingenden Einheit!

.. ta ta TAM | TAM ta ta TAM | TAM ta ta TAM | TAM ta ta TAM | TAM ta ta TAM | TAM ta ta TAM | TAM ..

Als die Nacht kommt
Und die Jungfrau
Vor die Tür tritt,
Ist der Mond voll:
Entsetzt sieht sie
Vampirfänge
Im Licht schimmern!
„Grundgütiger …
Helft, rettet mich!“
Seht nur! Erhört
Wurde ihr Ruf,
Denn es erscheint:
Helmut der Held.
Jeder Vampir
Hasst diesen Mann
Mehr als des Tags
Gleißendes Licht;
Völlig zu Recht!

Jetzt wird es gänzlich albern – aber wie immer: Hinhören! Hinhören! Wenn man jetzt noch einmal den Trennungs-Strich um eine Silbe nach rechts verschiebt, ist man wieder am Beginn, beim „ta ta TAM TAM„:

… ta ta TAM TAM | ta ta TAM TAM | ta ta TAM TAM | ta ta TAM TAM | ta ta TAM TAM | ta ta TAM TAM

damit schließe ich dann auch die „Geschichte“:

Als die Nacht kommt
Und die Jungfrau
Vor die Tür tritt,
Ist der Mond voll:
Entsetzt sieht sie
Vampirfänge
Im Licht schimmern!
„Grundgütiger …
Helft, rettet mich!“
Seht nur! Erhört
Wurde ihr Ruf,
Denn es erscheint:
Helmut der Held.
Jeder Vampir
Hasst diesen Mann
Mehr als des Tags
Gleißendes Licht;
Völlig zu Recht,
Denn mit Wucht rammt
Er den Holzpfahl
Ins Vampirherz,
Und nur Staub bleibt
Von dem Unhold …
Doch der Held eilt
Hin zur Jungfrau,
Die ihn huldreich
Auf die Stirn küsst!

Äh … Oder so ähnlich. „In den Arm nimmt“, möglicherweise; aber es ist ja gerade ohnehin Schluss.

Wer mag, kann sich ja mal auf einen Versuch einlassen: Einfach einen Text schreiben, in dem die vier vorgestellten Möglichkeiten wie gezeigt abwechseln, und dann vorlesen lassen – eigentlich egal, von wem: Ich vespreche, dass man die Wechsel, das plötzliche Andersklingen in jedem Fall heraushören wird!

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Bücher zum Vers (34)

Die bisher vorgestellten dreiunddreißig Bücher waren allesamt Bücher über Dichter, Dichtung und Gedichte; dieses hier ist eine Gedichtsammlung. Noch dazu eine mit weitläufigem Namen:

Gustav Noll: Arsenal. Poesie deutscher Minderdichter vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Ausgewählt, bearbeitet, eingeleitet, mit Dichterbiographien versehen und herausgegeben von Bernd Thum. Berlin: Propyläen 1973.

„Minderdichter“: Das ist, sagt Bernd Thum in seiner Einleitung, die Eindeutschung des lateinischen auctor minor, was zusammen mit dem auctor major die Grundlage einer „komparavistischen, graduierenden Einteilung“ ist, wie sie zum Beispiel das Mittelalter gekannt hat; und die in Deutschland der mit der Klassik aufgekommene Dualismus „Kunst /  Kitsch“ verdrängt hat.

Warum aber neunhundertsechsundneunzig Gedichte solcher Minderdichter sammeln?! Auf Seite Siebzehn schreibt Thum dazu:

Die engen, aber stets unsicheren Grenzen der Wirklichkeit auszuweiten und neu abzustecken, den Vorrat an Zeichen zu vergrößern, welche die Verständigung der Menschen verbessern und auch ihrer Sehschärfe nützlich sind, dies ist, meine ich, die wesentliche Aufgabe der Poesie. Minderdichter erfüllen diese noble Pflicht nur ungenügend. Warum dann diese Sammlung? Weil die darin enthaltenen Gedichte den Zeitgenossen wichtiges mitzuteilen hatten; weil diese Gedichte Übersetzungen sind von einst vertrauten Begriffen und Normen; weil sie Schattenbilder waren der sie umgebenden und auf anscheinend sicheren Fundamenten ruhenden Wirklichkeit; weil sie das kollektive Denken, Fühlen, Sehen, Reden, Handeln ihrer Zeit und ihrer Gesellschaft wiedergeben; kurz, weil sie mindestens im gleichen Maße wie die Großen, wenn auch anders, an der Geschichte teilhaben. Durch diese Teilhabe setzen sie den heutigen Leser dem Anprall der Vergangenheit aus. Wie der Zusammenstoß mit dem Neuerschaffenen bewirkt dies: Wirklichkeitserweiterung, Schärfung der Wahrnehmung und Sensibilität.

„Der Anprall der Vergangenheit“ also. Wer ab und an im Verserzähler vorbeischaut, wundert sich nicht, dass ich damit viel anfangen kann … Aber auch noch in anderer Hinsicht ist diese Sammlung den Verserzählern von Nutzen – sie versammelt eine gewaltige Masse an Gedichtformen, die fast alle genutzt werden können, um Geschichten in Verse zu kleiden:  Anregungen und Beispiele, so weit das Auge reicht!

Wer den Band in die Hand bekommt, sollte die Gelegenheit also nutzen, Bekannschaft mit diesem oder jenem „Minderdichter“ zu machen.

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Verlags-Wesen

ein korrektor, über einen papierstapel gebeugt
„ein lupenreimer vers …“ – fehlerteufel, hab ich dir!

eine schweflige stimme aus dem nichts
lies weiter, narr!

korrektor
„ein lupenreimer vers um vers ersann
der art, die nur ein lupenreimer kann:
mein auto hat ’ne winzigkleine hupe,
sie aufzufinden, braucht’s ’ne gute lupe.“

der korrektor legt das blatt weg und steht auf
mittagspause!

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Erzählverse: Der Hexameter (45)

Meine Wilhelm-Busch-Ausgabe habe ich von meinen Eltern geerbt – diese Anfang der Sechziger erworbenen zwei Bände, erschienen bei Bertelsmann, aus denen ich in jungen Jahren dann meinen ganzen „Busch“ verinnerlicht habe.

In „Fipps der Affe“ finden sich im zehnten Kapitel folgende Verse:

 

„O verehrtester Freund!
Nichts gehet doch über die hohe Weisheit
der Mutter Natur. –
Sie erschuf ja so mancherlei Kräuter,
Harte und weiche zugleich,
doch letztere mehr zu Gemüse.
Auch erschuf sie die Tiere, erfreulich,
harmlos und nutzbar;
Hüllte sie außen in Häute,
woraus man Stiefel verfertigt,
Füllte sie innen mit Fleisch
von sehr beträchtlichem Nährwert;
Aber erst ganz zuletzt,
damit er es dankend benutze,
Schuf sie des Menschen Gestalt
und verlieh ihm die Öffnung des Mundes.
Aufrecht stehet er da,
und alles erträgt er mit Würde.“

 

In dieser Form haben sich mir die Verse auch eingeprägt. Eigentlich aber sind es Hexameter:

„O verehrtester Freund! Nichts gehet doch über die hohe
Weisheit der Mutter Natur. Sie erschuf ja so mancherlei Kräuter,
Harte und weiche zugleich, doch letztere mehr zu Gemüse.
Auch erschuf sie die Tiere, erfreulich, harmlos und nutzbar;
Hüllte sie außen in Häute, woraus man Stiefel verfertigt,
Füllte sie innen mit Fleisch von sehr beträchtlichem Nährwert;
Aber erst ganz zuletzt, damit er es dankend benutze,
Schuf sie des Menschen Gestalt und verlieh ihm die Öffnung des Mundes.
Aufrecht stehet er da, und alles erträgt er mit Würde.“

Wer hat sie auseinandergenommen, meist, aber nicht immer an der Zäsur; und warum?! Dass ursprünglich einmal Hexameter da gestanden haben, scheinen mir Großschreibungen nahezulegen, die den Hexameter-Anfang kennzeichneten, aber in der umgebrochenen Fassung falsch sind: „Füllte“, „Schuf“. Aber eigentlich kann das auch gerne ein Rätsel bleiben, man muss nicht alles wissen, und manchmal ist ein kleines Geheimnis sehr anziehend.

Warum Busch hier Hexameter geschrieben hat, ist dagegen nicht so schwer zu verstehen: Es handelt sich um eines Professors „belehrende Rede“, und der Gegensatz zwischen dem ernsten, getragenen Tonfall des Hexameters und der Wunderlichkeit des Inhalts wirkt herrlich unpassend; und damit, wie erwünscht,  komisch.

Auch stechen die Verse sehr heraus, denn den restliche „Fipps“ beherrscht der kennzeichnende Ton der Reimverse Buschs – so im vierten Kapitel:

 

„Pudding“, sprach er, „ist mein Bestes!“
Drum zum Schluss des kleinen Festes
Steht der wohlgeformte große
Pudding mit der roten Soße
Braun und lieblich duftend da,
Was der Freund mit Wonne sah.

 

Grießpudding mit Erdbeeren mochte ich als Junge sehr gern. Ob das der Grund war? Jedenfalls habe ich diese Verse damals auswendig gelernt – und die schönen Hexameter nicht …

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Ohne Titel

Siehst du die Katze, so rät dein fürwahr ruhmatmendes Herz dir
„Kämpfe“ – doch anderes, Maus! rät dir dein scharfer Verstand.

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Erzählverse: Der Blankvers (30)

Am siebten Januar 1838 spielte Clara Wieck in Wien Beethovens F-moll-Sonate, und noch am selben Tag schrieb Franz Grillparzer dazu diese Blankverse:

 

Clara Wieck und Beethoven
(F-moll-Sonate)

Ein Wundermann, der Welt, des Lebens satt,
Schloss seine Zauber grollend ein
In festverwahrten, demantharten Schrein,
Und warf den Schlüssel in das Meer und starb.
Die Menschlein mühen sich geschäftig ab,
Umsonst! kein Sperrzeug löst das harte Schloss,
Und seine Zauber schlafen wie ihr Meister.
Ein Schäferkind, am Strand des Meeres spielend,
Sieht zu der hastig unberufnen Jagd.
Sinnvoll gedankenlos, wie Mädchen sind,
Senkt sie die weißen Finger in die Flut
Und fasst, und hebt, und hats. – Es ist der Schlüssel!
Auf springt sie, auf, mit höhern Herzensschlägen,
Der Schrein blinkt wie aus Augen ihr entgegen,
Der Schlüssel passt. Der Deckel fliegt. Die Geister,
Sie steigen auf und senken dienend sich
Der anmutreichen, unschuldsvollen Herrin,
Die sie mit weißen Fingern, spielend, lenkt.

 

„Das schönste überhaupt, was je über dich geschrieben ist“, hat Claras zukünftiger Gatte, Robert Schumann, über dieses Gedicht ihr geschrieben.

Hm.

Sicher, und deswegen steht es hier, ist es ein Gedicht, das die Vorzüge des Blankverses schön herausstellt. Eine anziehende Nachlässigkeit waltet über allem: Ein Vierheber gleich zu Beginn, noch dazu als Teil eines Reimpaares;  später klingelt dann noch ein Reimpaar an inhaltlich nicht besonders ausgezeichneter Stelle dazwischen … Das passt ganz gut zum Inhalt, finde ich, der ja nicht gerade schwergewichtig daherkommt und in einem strengeren Gewand verkleidet aussähe?!

So aber ists eine angenehm zu lesende Versprachlichung von Grillparzers offenbar nachhaltigem Eindruck. Wer mag, kann sich die Sonate ja mal anhören; leider nicht von Clara Wieck / Schumann …

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Erzählverse: Der Hexameter (44)

Verse in Versen

Es gibt viele Gedichte, die den Hexameter als Grundlage haben, auch wenn man es ihnen von außen nicht unbedingt ansieht – viele freie Verse zum Beispiel sind aus Bruchstücken von Hexametern aufgebaut, manchmal beschränkt sich die Veränderung sogar darauf, dass der Hexameter zerschnippelt und auf mehrere Verse verteilt wird. Friedrich Hölderlins berühmtes „Patmos“ etwa ist da durchaus in Verdacht. Der Anfang lautet:

 

Nah ist
Und schwer zu fassen der Gott.
Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch.
Im Finstern wohnen
Die Adler und furchtlos gehn
Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg
Auf leichtgebaueten Brücken.

 

Das lässt sich vom Anfang weg auf zwei Hexameter verteilen:

Nah ist und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist,
Wächst das Rettende auch. Im Finstern wohnen die Adler

Nah ist und / schwer zu / fassen der / Gott. || Wo / aber Ge- / fahr ist,
Wächst das / Rettende / auch. || Im / Finstern / wohnen die / Adler

Und das sind, wie hinzuzufügen wäre, noch nicht einmal schlechte Hexameter. Nimmt man die „Adler“ noch einmal auf, kann man mit ihrer Hilfe den Rest des Textes in zwei weitere Hexameter überführen:

Wohnen die Adler und furchtlos gehn die Söhne der Alpen
Über den Abgrund weg auf leichtgebaueten Brücken.

Wohnen die / Adler und / furchtlos / gehn || die / Söhne der / Alpen
Über den /Abgrund / weg || auf / leichtge- / baueten / Brücken.

Irgendwie schwer vorstellbar, dass Hölderlin hier den Hexameter nicht zumindest im Ohr gehabt hat?! Auch die vier „männlichen“ Zäsuren nach betonter Silbe sind in diesen „erschlossenen Versen“ sicher kein Zufall; solche Zäsuren hat Hölderlin in seinen Hexametern fast ausschließlich verwandt!

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Erzählverse: Der Blankvers (29)

Der Blankvers ist, so heißt es immer, einer der Verse, die der Prosa nahe sind. Grund genug, beide Möglichkeiten der Gestaltung einmal nebeneinander zu halten?! Ich wähle mir dafür Goethes „Elpenor“, ein Dramen-Bruchstück, das einmal als „Ur-Elpenor“ in Prosa vorliegt und dann in einer Versbearbeitung Riemers, die von Goethe durchgesehen und verbessert worden ist. Der Anfang lautet hier und da:

 

EVADNE Verdoppelt eure Schritte! Kommt herab! Verweilet nicht zu lange, gute Mädchen! Kommt herein! Gebt nicht zu viele Sorgfalt euren Kleidern und Haaren! Es ist noch immer Zeit, wenn das Geschäfte vollbracht ist, sich zu schmücken. Der frühe Morgen heißt uns rege zur Arbeit sein!

 

EVADNE
Verdoppelt eure Schritte, kommt herab!
Verweilet nicht zu lange, gute Mädchen,
Kommt herein!
Gewand und Haaren gebt nicht zuviel Sorgfalt;
Ist das Geschäft vollbracht, kommt Zeit zum Schmuck.
Zur Arbeit heißt der Morgen rege sein!

 

Was fällt auf?! Die Verse sind knapper, und verzichtet wurde auf Bauwörter – „euren Kleidern“, „heißt uns und Beiwörter: „Der frühe Morgen“. Dadurch gewinnt die Sprache an Festigkeit, einerseits; andererseits wandelt sich eine aufgeräumte Morgenplauderei – „Der frühe Morgen heißt uns rege zur Arbeit sein!“ – zu einem Allgemeingültigkeit heischenden Sinnspruch: „Zur Arbeit heißt der Morgen rege sein!“ Da gilt es, wie immer, eine Mittellinie zu finden …

Wobei gesagt werden muss, dass Goethes Prosa-Text keine „wirkliche“, sondern schon ziemlich rhythmisierte Prosa ist; und Riemer auch keine Blankvers-Fassung hergestellt hat, sondern eine, in der zwar viele Blankverse stehen, sich aber iambische Verse anderer Länge in beachtlicher Zahl tummeln. Beides zeigt eine Stelle kurz vor Ende des Bruchstücks:

 

POLYMETIS Wie Schmeichelei dem Knaben schon so lieblich klingt! Und doch, was schmeichelt noch unschuldiger als Hoffnung? Wie hart, wenn wir dereinst zu dem, was wir missbilligen, dich loben müssten! Es preise der sich glücklich, der von den Göttern weit entfernt lebt; er ehr und fürchte sie und danke still, wenn ihre Hand gelind das Volk regiert. Ihr Schmerz berührt ihn kaum, und ihre Freude kann er unmäßig teilen.

 

POLYMETIS
Wie Schmeichelei dem Knaben schon so lieblich klingt!
Und doch unschuldig ist der Hoffnung Schmeichelei.
Wenn wir dereinst zu dem, was wir missbilligen,
Dich loben müssen, härter fühlen wir’s.
Der preise glücklich sich, der von
Den Göttern dieser Welt entfernt lebt;
Verehr und fürcht er sie und danke still,
Wenn ihre Hand gelind das Volk regiert.
Ihr Schmerz berührt ihn kaum, und ihre Freude
Kann er unmäßig teilen.

 

– Ein buntes Gemisch, von den Sechshebern der ersten beiden Zeilen, die auch in einem Trimeter-Text stehen könnten, bis zum Dreiheber der Schlusszeile. Blankverse sind selbstredend auch dabei, aber sie formen den Text hier nicht.

Seltsamerweise warten diese Verse mit recht vielen Änderungen gegenüber dem Prosatext auf; dabei ist der fast rein iambisch und könnte eigentlich unverändert übernommen werden:

Wie Schmeichelei dem Knaben schon so lieblich klingt!
Und doch, was schmeichelt noch unschuldiger als Hoffnung?
Wie hart, wenn wir dereinst zu dem,
Was wir missbilligen, dich loben müssten!
Es preise der sich glücklich,
Der von den Göttern weit entfernt lebt;
Er ehr und fürchte sie und danke still,
Wenn ihre Hand gelind das Volk regiert.
Ihr Schmerz berührt ihn kaum, und ihre Freude
Kann er unmäßig teilen.

Liest sich gut in meinen Ohren; besser eigentlich als die „richtige“ Versfassung, aber das mag auch daran liegen, dass nach 200 Jahren das Sprachempfinden sich geändert hat.

Jedenfalls: So schrecklich breit ist der Graben zwischen Blankvers und Prosa wohl wirklich nicht!