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Erzählverse: Der Hexameter (42)

König Siwi

Friedrich Rückert war wahrhaft ein Mann vieler Sprachen und gilt als einer der Begründer der deutschen Orientalistik. Er hat dabei zahllose Texte übersetzt, darunter auch in Hexameter; in seinem Liedertagebuch für 1853 findet sich zum Beispiel „König Siwi. Eine indische Legende“. Diese Legende ist gerade so lang, dass man sie am Bildschirm noch lesen kann:

 

Siwi den König zu prüfen, verwandelten einst sich die Götter,
Indra zu fliehender Taube, zu jagendem Habichte Jama.
Wie vorm Tode das Leben, so floh vorm Herren der Toten
Scheu als Taube der Herr des Lebendigen, Indra vor Habicht
Jama, dem unablässig verfolgenden; aber die Taube
Flüchtete, rettete sich zum offenen Schoße des Königs,
Wo sie sich barg und schmiegte, vertrauensvoll. Aber von oben
Sprach zum König herab mit menschlicher Rede der Habicht:
„Gib mir heraus mein Futter! Ich hab ein Recht an der Taube;
Vorenthalte mein Recht mir nicht, rechtliebender König!“
Doch ihm sagte darauf der schützlingsschützende König:
„Habicht, fordre was anders von mir! Fleisch ist sie von meinem
Eigenen Fleische geworden; vom eigenen Fleische dir lieber
Wollt‘ ich geben dein Futter.“ „Wohlan!“ so sagte der Habicht,
Und ihm schwebt‘ an der Klau’n eine goldene Waage hernieder:
„Willst du mir hier aufwägen mit eigenem Fleische die Taube?“
„Ja!“ sprach mutig der König; er setzte die Taub in die eine
Schal‘, und legte soviel vom eignen Fleisch in die andre,
Als zum Gegengewichte der schmächtigen schien zu genügen.
Doch es genügete nicht: Schwer ward und schwerer die Taube,
Und wog auf vom Fleische des Königes, was er hinzutat;
Bis er ganz in die Waage mit wuchtendem Leib sich legte:
Da zog nieder die Schale des Königes. Aber der Habicht
Sprach, zum Gotte gewandelt: „Zu leicht nicht bist du befunden,
Heil dir, König, im Leben; im Tode dir Heil, o König!
Das ist Indra, der Hort des Lebendigen; Jama, der Toten
Meister bin ich; du bestandest die Prob‘ in der Waage des Todes.
Indra, beschützt von dir, wird dich im Leben beschützen,
Und ich werde dir sein ein gnädiger Richter im Tode.“

 

Das klingt ein einigen Stellen etwas eigenartig, oder? Ich denke mal (ohne irgendeine wirkliche Ahnung zu haben), Dinge wie der „schützlingsschützende“ König beruhen in dieser oder jener Weise auf der Vorlage; andere rühren vom Bau des Hexameters her, etwa in diesem Vers:

Habicht, / fordre was / anders von / mir! || Fleisch / ist sie von / meinem

Da tragen das Pronomen „mir“ und das Hilfsverb „ist“ die Betonungen, und das mächtige Wort „Fleisch“ sitzt dazwischen auf der Senkungsposition! Da bleibt dann keine Möglichkeit, als einen „Spondäus“ zu lesen, also „mir“ und „Fleisch“ gleichstark zu betonen, und dann auch das „ist“ stärker hervorzuheben, was ja auch passt: Sie ist es – wirklich, tatsächlich!

Derlei Dinge gibt es noch mehr, aber sie fügen sich alle wunderbar ein. Das merkt man, wenn man den Text anderen vorliest – einmal gleitet man wirklich schön durch die Zeilen, und zum anderen sind die Zuhörer von Anfang an aufmerksam und bleiben es auch. So war es jedenfalls bisher bei mir.

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Das Königreich von Sede (48)

Pulverfass, des Königs Seher,
Geht am Tag des langen Regens
Einmal um das Schloss herum;
Wie es Sedes Seher halten
Seit den Tagen König Bodens.
Ihm zur Seite hüpfen Frösche,
Alle, die im Graben leben,
Und es gilt ein Schritt des Sehers
Ihnen drei beherzte Sprünge,
So sie groß und kräftig sind;
Fünfmal aber springen jene,
Die den Tag des langen Regens
Heut zum ersten Mal erleben –
Junge Frösche, klein und schmächtig.

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Erzählverse: Der iambische Trimeter (11)

Die folgenden Trimeter stehen ziemlich am Anfang von Hugo von Hofmannthals „Idylle“. „Die Frau“ sagt:

 

Im blütenweißen kleinen Garten saß ich oft,
Den Blick aufs väterliche Handwerk hingewandt,
Das nette Werk des Töpferns: wie der Scheibe da,
Der surrenden im Kreis, die edle Form entstieg,
Im stillen Werden einer zarten Blume gleich,
Mit kühlem Glanz des Elfenbeins. Darauf erschuf
Der Vater Henkel, mit Akanthusblatt geziert,
Und ein Akanthus-, ein Olivenkranz wohl auch
Umlief als dunkelroter Schmuck des Kruges Rand.

 

Der Trimeter ist ein weiter Vers, er kann vieles aufnehmen und muss das auch, muss eine gewisse Fülle aufweisen, damit er nicht schwach und kraftlos wirkt. Das kann auf verschiedenen Wegen erreicht werden, manche sind dabei gefährlicher als andere. Hofmannthals Verse hier sind schön, und ich schätze sie auch; trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, viele der verwendeten Adjektive kommen auch vor, weil der Vers eben diese Fülle braucht; und sind diese Adjektive nicht doch ein wenig mechanisch, fast lieblos gesetzt?!

Der surrenden im Kreis, die edle Form entstieg,
Im stillen Werden einer zarten Blume gleich,
Mit kühlem Glanz des Elfenbeins.

Mir jedenfalls will die Art, wie hier aber auch jedes Substantiv durch ein vorgestelltes Adjektiv ergänzt wird, nicht recht gefallen.

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Ohne Titel

O Nacht! O Mond! O Sterne!
Erschallt des Dichters Ruf,
O samtig schwarze Ferne!
O Gott, der dies erschuf,

Die Nacht, den Mond, die Sterne:
Räum’s fort, tu’s weg, pack’s ein
Und lass zwei Apfelkerne
Dem Dichter Ansporn sein.

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Die Bewegungsschule (22)

Im letzten Eintrag zur Bewegungsschule habe ich einen von Klopstock ersonnenen Vers vorgestellt. Klopstock war wirklich gut in dieser Hinsicht, seine eigenen Verse haben immer etwas besonderes an sich, das sie hörenswert macht. Aber aus den grundlegenden Bewegungsbausteinen einen Vers zusammensetzen – das kann eigentlich jeder!

Dieselben drei Grundeinheiten, die Klopstock verwendet hat, verwendet zum Beispiel auch der alte Vers, den ich heute kurz vorstellen möchte:

ta ta TAM / ta TAM / ta TAM TAM

Sprachliche Wirklichkeit kann dieser Vers sicher anhand dieser „Grundeinheiten“ gewinnen – dann, wenn sie auch „Sinneinheiten“ werden:

 

Wer den Stuhl nicht ehrt: der sitzt tief.

 

Ein eigener Übungsvers ( auch die folgenden Verse sind solche Übungsverse – den Inhalt also bitte nicht so wichtig nehmen …): Wer den Stuhl / nicht ehrt: / der sitzt tief.

Für gewöhnlich wird eine solche Übereinstimmung aber nur selten vorkommen?! In folgendem Vierzeiler ist es im dritten Vers der Fall, die anderen drei Verse haben eine andere Einteilung.

 

Was der Menschen Sinn umfasst hält,
Ist der Tod, das große Angst-Wort;
Das den Mann, die Frau, das Kind drückt
Und verstummen lässt; und klein macht.

 

Da klingt die Grundbewegung deutlich durch. Zu deutlich, vielleicht?! Viel Abwechslung lässt ein so kurzer Vers ja nicht zu. Man könnte ihn selbstredend mit einem anderen Vers verbinden zu einem Verspaar, was die Abwechslung mehrt:

ta ta TAM / ta TAM / ta TAM TAM
ta TAM TAM / ta TAM

– Ein noch kürzerer Vers, aus den Bestandteilen des ersten bestehend und damit diesem verwandt; aber doch neu und anders durch die unterschiedliche Anordung der Grundeinheiten. Das klingt dann ungefähr so:

 

Als des Königs Macht dahinschwand,
Sich auflöste, starb,
Und der Händler Stolz emporwuchs
(Es nährt Gold den Stolz):

 

Wer mag, kann ja von hier aus weiterdenken und -versuchen; und nach eigenen Lösungen für die Frage fahnden, wie denn das Gleichgewicht zwischen Wiederholung und Abwechslung sich gestalten kann, so dass der Vers immer als Einheit erfahrbar bleibt, aber auch das Ohr durch vierlfältige Wirkungen erfreut. Selbst mit nur den drei hier (und von Klopstock) verwendeten Einheiten lassen sich da noch viele, viele hörenswerte Verse ersinnen! Zu beachten ist eigentlich nur (ein letzter Übungsvers):

 

Das Gedicht bedarf des Wohlklangs.

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Erzählverse: Der Hexameter (41)

Paul Heyses „Thekla“ (9)

Im neunten Gesang eilt Nathanaels (Theklas Nachbar) Sohn nach Ikonium um Neuigkeiten; auf halbem Weg trifft er die entgegenkommende Thekla und führt sie zu einem geräumigen Grabmal, in dem der Apostel Zuflucht gefunden hat mitsamt Nathanael und dessen Frau. Endlich sieht Thekla Tryphon wieder:

 

Doch als hätt in den Augen sich all ihr Leben gesammelt,
Blickte sie leuchtend hinan. An der vorderen Mauer des Grabmals
Lehnte, die Arme gekreuzt, mit sinnendem Haupte der Jünger.
Und wie sie jetzt sich ermannt, die Strecke des Wegs zu vollenden,
Wendet er sich und erkennt sie; da bricht ein Ruf des Entzückens
Aus der Seele des Freunds, und die Arme der Nahenden öffnend,
Schließt er das Mädchen darein, das wortlos ihm an die Brust sinkt.

 

Wie an manchen Stellen zuvor kann man sich auch hier durchaus fragen, ob Theklas Ex-Verlobter vielleicht doch ganz richtig lag, als er eine über das geistige hinausgehende Verbindung der beiden behauptete … Nach der tränenreichen Wiedervereinigung bricht Tryphon zu einer neuen Verkündigungsreise auf, während Thekla mit Nathanaels Familie nach Ikonium zurückkehrt. Doch schon kurz nach Aufbruch lässt sie die drei stehen und eilt dem Apostel hinterher. Sie erreicht ihn, fällt ihm zu Füßen, umklammert seine Knie und bittet ihn, mit ihm ziehen zu dürfen. Der Apostel weist sie zurück, da er fürchtet, nicht tun zu können, was sein Gott vielleicht von ihm verlangt, wenn er auf eine Frau an seiner Seite achtgeben muss. Aber er weiß Trost:

 

Darum blicke du frei mir wieder ins Auge. Du wirst mich
lange vielleicht entbehren und dann auf einmal erkennen,
Dass du mich besser besitzest und völliger, als du geahnt hast.
Senkt ich des Heilands Bild dir nicht in die liebende Seele?
Sieh, mich hast du in ihm, in ihm nur leb ich und bin ich,
Und dich hab ich in ihm. Wer will uns scheiden in Zukunft?

 

Die letzten beiden Zeilen sind bemerkenswert: 23 einsilbige Wörter nacheinander – das gibt es wahrlich nicht allzu oft! Wie immer gibt es da die Gefahr, die betonten Silben nicht problemlos finden zu können, aber es gibt ja drei feste Größen, die auch abseits der eigentlichen Wörter Hilfe geben: Die immer betonte erste Silbe, der Einschnitt in der Mitte, und die feste Schlussformel. Damit kommt man schon weit, und in der Regel auch weit genug:

Sieh, mich / hast du in / ihm, || in / ihm nur / leb ich und / bin ich,
Und dich / hab ich in / ihm. || Wer / will uns / scheiden in / Zukunft?

Trotzdem bleibt natürlich die Frage, ob es wirklich die beste Lösung ist, diese Zeilen, die ja der Höhepunkt von Tryphons Versuch sind, Thekla von einer Trennung zu überzeugen, mit so vielen „leeren Worten“ zu füllen. Ich finde es nicht ganz so gelungen. Thekla jedenfalls ist überzeugt:

 

Da erst blickt sie empor. Aus freudelächelnden Augen
Strahlt der gewonnene Sieg ihm triumphierend entgegen.

 

Die beiden einigen sich also darauf, getrennt das Land zu durchwandern. Eben in dem Moment kommt einer von Theklas treuen Sklaven (Der Türsteher, der sie aus dem Haus gelassen hat), der bei ihr bleiben will, mit einem Maultier dazu. Und dann endet das lange Eops mit den drei Versen:

 

Schweigend bestieg sie das Tier und zurück in die Straße der Gräber
Lenkte der Sklav. So ritt sie dem leuchtenden Morgen entgegen
Mit taghellem Gemüt, und hinter ihr blieben die Schatten.

 

Statt des Cowboys und des Sonnenuntergangs die Heilige und der Sonnenaufgang. Hach.

Was bleibt nach neun langen Gesängen? Zum einen ein Einhören in Heyses Hexameter, die ihren eigenen Klang haben, dem nachzulauschen durchaus sinnvoll ist; und dann sicherlich auch die inhaltliche Erfahrung, eine Heiligenlegende als Epos erzählt zu bekommen. Die habe ich gern gemacht – wahr ist aber auch, dass der Text im 21. Jahrhundert erst einmal fremd wirkt.

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Ohne Titel

Als Erwin seine Villa streicht,
Fragt er mit jedem Pinselschwunge
Sich bang, ob wohl die Farbe reicht,
Mit der er seine Villa streicht.

Die Antwort lautet da: Vielleicht,
Und Erwin beißt sich auf die Zunge,
Als er die große Villa streicht
Mit fragend-bangem Pinselschwunge.

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Die Bewegungsschule (21)

Das im letzten Eintrag gewonnene „ta TAM TAM“ ist wichtiger Bestandteil eines von Klopstock ersonnenen Verses; die Beschäftigung mit diesem dürfte ein guter Weg sein, sich mit dieser Bewegungsart vertraut zu machen?!

So baut sich der Vers auf:

       1               /          2             /          3            /          4            /          5          /       6
ta ta TAM       / ta ta TAM      / ta ta TAM      / ta ta TAM      / ta ta TAM / ta TAM
ta TAM TAM / ta TAM TAM / ta TAM TAM / ta TAM TAM

– Fünfmal ein „ta ta TAM„, unser ältester Bekannter, und ein schließendes „ta TAM„. Das eigetümliche des Verses ist, dass, wie in der zweiten Zeile verzeichnet, jedes der ersten vier „ta ta TAM“ durch ein „ta TAM TAM“ ersetzt werden kann!

Diesen Vers hat Klopstock offensichtlich vom Hexameter aus gedacht und entworfen. Er hat aber durchaus einen eigenen Klang, kräftig und schnell fließt die Sprache dahin! Ich gebe drei eigene (ziemlich sinnfreie) Verse als Beispiel:

 

Den Frosch schmerzt der Gedanke; er springt empor. Oben, am höchsten Punkt,
Wo es scheint, er steht still in der Luft, in dem kürzesten Augenblick,
Da Sprungkraft und Schwerkraft sich entsprechen: auf reißt er das Maul und quakt!

 

Die metrischen Einheiten sehen dabei so aus:

Den Frosch schmerzt / der Gedan- / ke; er springt / empor. O– / ben, am höch– / sten Punkt,
ta TAM TAM / ta ta TAM / ta ta TAM / ta TAM TAM / ta ta TAM /  ta TAM,

Wo es scheint, / er steht still / in der Luft, / in dem kür– /zesten Au– / genblick,
ta ta TAM, / ta TAM TAM / ta ta TAM, / ta ta TAM / ta ta TAM / ta TAM,

Da Sprungkraft / und Schwerkraft / sich entsprech– / en: auf reißt / er das Maul / und quakt!
ta TAM TAM / ta TAM TAM /  ta ta TAM / ta TAM TAM / ta ta TAM / ta TAM

Die Sinneinheiten wählt man als Vortragender am Besten so, dass die beiden aufeinanderhängenden schweren Silben so oft wie möglich zwei verschiedenen Einheiten angehören?! Also:

Den Frosch / schmerzt  der Gedanke;

er steht / still in der Luft;

auf / reißt er das Maul

So lassen sich die Verse gut sprechen – „Da Sprungkraft“ macht in dieser HInsicht sicher mehr Schwierigkeiten.

Auch über die Zäsuren müsste man nachdenken – ein solcher Langvers kommt ohne schwerlich aus. Aber Klopstock hat dazu nicht viel gesagt, und diese Versform auch nicht allzuoft verwendet; es muss sich also jeder seine eigenen Gedanken machen. Das ist ja auch eine spannende Sache! Vor allem sollte es aber, versucht wirklich jemand diesen Vers (was ich sehr empfehle!), darum gehen, dem „ta TAM TAM „nachzuspüren.