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Bücher zum Vers (31)

Udo Pillokat: Verskunstprobleme bei Eduard Mörike

Mörikes Verse sind … gut. Wirklich gut! Und wenn da jemand drüber schreibt, sollte man es zur Kenntnis nehmen. Erst recht, da Pillokat vieles bedenkenswerte sammelt. Der erste Teil des 1969 bei Buske erschienenen Bandes beschäftigt sich mit Mörikes Madrigalen und freien Rhythmen; der zweite mit seinen Hexametern und Distichen; auf beides wird in den über 200 Seiten des Buches ausführlich eingegangen. Ich stelle hier als Beispiel für die verhandelten Texte das zu Mörikes Lebzeiten unveröffentlicht gebliebene „Rotkäppchen und Wolf“ vor, ein Erzähltext, wie für den „Verserzähler“ gemacht. Die erste Hälfte liest sich so:

 

Wir sind Geister, kleine Elfen,
Und wir müssen jetzo helfen,
Dass ein armes Menschenkind
Guten Schlaf im Walde findt.
Ein böser Wolf hats totgemacht
Und ist dafür auch umgebracht,
Aber wir tragen
Und wir begraben
Allhier in schöner Nacht
Allhier im Mondenscheine
Ach seine weißen Beine
Und seine lieben Hände
Und sein rot Mützchen auch;
Alles andre hat der Wolf im Bauch.
Horch, wie ist der Wald so still!
Die Vöglein schweigen alle,
Und auch die Nachtigalle
Heut gar nicht singen will;
Rotkäppchen ist tot,
Ist tot, ist tot,
Und alles hat ein Ende,
In der Bahre liegen blutigrot
Seine weißen Füße und Hände.

Bald aber – liebe Schwestern, freuet euch! –
Wird dieses Kind uns allen gleich.
Es windet sich aus feuchtem Moos
Mit frischen Elfengliedern los,
Dann wiegt es sich im schwanken Mondenstrahl
Auf Blumen und auf Halmen
Und tanzt durch Wald und Wiesental.

 

Sich hier hineinzuhören lohnt wirklich. Schon, weil das Madrigal eine der Möglichkeiten sein dürfte, Reimverse im 21. Jahrhundert anbieten zu können. Jedenfalls eher als über kreuzgereimte Vierheberstrophen …

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Vom Vers zum Epos

Das lästige am Verseschreiben …

Verslein, ebengeschriebnes, du weinst? Worüber, was quält dich!
Einsam bin ich, nur mir gab deine Feder Gestalt.
Verslein, geknicktes, fass Mut! und schau die Seite hinunter:
Brüder und Schwestern zuhauf rufe ich eilends ins Sein.

… ist: keiner will alleine bleiben.

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Die Bewegungsschule (20)

Ich möchte diesmal einen genaueren Blick werfen auf diese Bewegungseinheit: „ta TAM TAM„. Oder, je nachdem: „ta TAM TAM“. Auf jeden Fall besteht die Einheit aus einer unbetonten, leichten Silbe, der zwei schwere Silben folgen; dabei tragen entweder beide gleichviel Betonung oder die erste ist etwas stärker betont als die zweite – wobei die zweite aber immer noch deutlich stärker betont ist als eine leichte Silbe!

Welche Art man bevorzugt, und ob man vielleicht im Vortrag etwas angleicht, das muss jeder selbst wissen. „Die Schrankwand“ ist ein klein wenig in Richtung „ta TAM TAM“ verschoben, „der Wandschrank“ ist eher „ta TAM TAM„. Wie immer gilt: möglichst viele dieser Einheiten finden, sie sprechen und dann einschätzen!

Als Anregung lasse ich ein Gedicht von Franz Werfel folgen, „Stufenleiter“ (zu finden in: Franz Werfel, Gesammelte Werke / Das lyrische Werk, Fischer 1967, Seite 280, 281):

 

Ich bin vornehm, sagt der See,
Ich steh‘ still.
Doch unedel bist du, Fluss,
Du fließt irr!

Fließe ich, so fließe ich
Doch vorwärts.
Edler Steher, stehst dich ab
Zum Sumpf einst.

Rollt das Meer aus seiner Tiefe:
Kruppzeug!
Fälschen ihre Ohnmacht um
Zum Wert gern.

Kannst du fließen, See? Und du,
Fluss, stillstehn?
Also ist dein Adel Neid, dein Fernlauf
Knechtschaft!

Ich nur fließe, Pack, und ich nur
Steh‘ fest.
Tief aus mir allein wächst Flut,
Wächst Stillstand!

Bricht ein Sturm aus: Lügnerin
Atlantis!
Wer bewegt dich, sag’s mir, wer
Entlässt dich?

Nur mein Wille. der dich stillt,
Dich toll macht.
Ich allein bin einig, und mein Wort
Ist: Frei sein!

Singt ein Stern: Du Sturm bist meiner
Herkunft.
Erzgeheim erreget dich
Mein Einfluss.

Ruhe bin ich und mich meidet
Maßlust.
Denn ich weiß, mein hoher Wert
Ist unmein.

Was an mir geschieht, heißt Licht.
Ihr teilt es.
Preiset drum das erste Wort
Des Urmunds.

 

Ich bin nicht wirklich sicher, was den Wert dieser Verse angeht; aber zum Nachdenken über die Bewegungseinheiten laden sie geradezu ein!

In den geraden Zeilen stellt sich die Frage: „ta TAM TAM„, „ta TAM TAM“, „ta TAM ta“ – was ist es?

„Zum Sumpf einst“ zum Beispiel ist, langsam gesprochen (was nicht schwerfällt, der ganze Text liest sich wie in Zeitlupe), für mich ein „ta TAM TAM„.

„Du fließt irr“ gehört zu „ta TAM TAM“, nein?!

„Ihr teilt es“ ist eindeutig „ta TAM ta“.

Diesen Einheiten hinterherzuhören, ist schon nicht einfach und braucht etwas; aber der Text hat noch einiges mehr zu bieten!

Da sind zum einen einige schöne „TAM ta TAM„: „sagt der See“, „Rollt das Meer“, „Singt ein Stern“.

Aber auch Folgen aus drei schweren Silben sind vertreten: „Fluss, stillstehn“.

Und was ist hiervon zu halten? „allein wächst Flut, // Wächst Stillstand!“ Das sind, streng genommen, sechs schwere Silben hintereinander weg … Wie trägt man das vor?

Also, ein Text, der Fragen aufwirft in Bezug auf die Versbewegung. Ich glaube, es lohnt sich, ihnen nachzugehen! Und manchmal gibt es ja auch ganz selbstverständliche, aber nichtsdestotrotz sehr wirksame Dinge zu bestaunen wie diesen Vers:

Rollt das Meer aus seiner Tiefe

– Da entsprechen sich Bewegung und Inhalt sehr eindrücklich.

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Die Korrelation (5)

Das folgende Sonett ist sehr, sehr berühmt und stammt von Francesco Petrarca; die sich anschließende Übersetzung hat Hugo Friedrich verfasst. Während sich im letzten vorgestellten Korrelationssonett eine dreigliedrige Korrealtion sehr kunstvoll, aber eben auch sehr auffällig durch die Verse zog, benutzt Petrarca nur eine zweigliedrige Korrealtion, die er so zu handhaben weiß, dass sie den Text zwar spürbar gliedert, ihn aber nicht ausschließlich bestimmt. Große Vers- und Sprachkunst!

Inhaltlich geht es um einen Traumbesuch von Petrarcas inzwischen verstorbener Herrin „Laura“:

 

Né mai pietosa madre al caro figlio
né donna accesa al suo sposo dilecto
die‘ con tanti sospir‘, con tal sospetto
in dubbio stato sí fedel consiglio,

come a me quella che ‚l mio grave exiglio
mirando dal suo eterno alto ricetto,
spesso a me torna co l’usato affecto,
et di doppia pietate ornata il ciglio:

or di madre, or d’amante; or teme, or arde
d’onesto foco; et nel parlar mi mostra
quel che ’n questo vïaggio fugga o segua,

contando i casi de la vita nostra,
pregando ch’a levar l’alma non tarde:
et sol quant’ella parla, ò pace o tregua.

 

Nie gab wohl eine Mutter ihrem Sohn,
Nie ihrem lieben Gatten eine Gattin
Mit soviel Innigkeit, mit solchem Bangen
In ernst bedrängter Lage hilfreich Rat,

Wie sie mir gibt, wenn aus der ew’gen Stätte,
Der hohen, sie auf mein Verbanntsein blickt
Und mir erscheint in altgewohntem Fühlen,
Das Aug‘ von doppeltem Erbarmen schön,

Der Mutter wie der Liebenden, voll Angst,
Voll reiner Glut; spricht sie, so ists ein Wink,
Was ich hienieden tun soll und was meiden.

Sie zählt mir her die Unbill dieses Lebens,
Fleht, dass ich nicht zu spät mich aufwärts höbe,
Und nur wenn sie spricht, ruh‘ ich oder harre.

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Erzählverse: Der Hexameter (38)

Paul Heyses „Thekla“ (6)

Ich werfe heute noch mal einen Blick auf die metrischen Grundeinheiten des Hexameters. Die können zweisilbig sein – X x – oder dreisilbig: X x x. Die dreisilbige Einheit, auch „Daktylus“ genannt, ist nun einen Blick wert in Hinsicht auf die Art und Weise, wie sie gefüllt wird; auch, weil die verschiedenen Füllungsarten einen bestimmten „Ton“ ergeben, der von den einen Dichtern geschätzt und von anderen gemieden wird.

Andreas Heusler, dem ich hier einfach folge, unterscheidet im dritten Band seiner „Deutschen Versgeschichte“ fünf Typen von Füllung.

1. lebende, mitten im, siehst du das. Das ist, sozusagen, die „Reinform“: Die beiden unbetonten Stellen sind mit eindeutig unbetonten Silben belegt. Diese Füllung haben natürlich alle Dichter im Bestand!

2. Dämmerung, chelt auch, nahm es doch. Hier liegt auf der zweiten unbetonten Silbe eine leichte Nebenbetonung, sie ist etwas „schwerer“ als die erste unbetonte Silbe. Natürlich ist das kaum merkbar, und die allermeisten Dichter haben in ihren Hexameters solche Daktylen verwendet. Die Ausnahme war Platen.

3. Hoffnungen, Trübsal mit, selbst auch der. Hier ist die erste unbetonte Silbe etwas schwerer als die zweite. Das war für niemanden ein Problem, alle Dichter haben diese Daktylen genutzt.

4. Vaterland, Mitternacht, Edelmut. Ein deutlicher Nebenton auf der zweiten unbetonten Silbe! Hier unterscheiden sich die Dichter in der Nutzung stark. Voss und die anderen „strengeren“ Dichter haben diese Füllung gemieden, Schiller hat sie durchgängig gebraucht; Goethe hat sie im Reineke, weniger in Herrmann und Dorothea, gar nicht mehr in der Achilleis.

5. Landstraße, demütig, aufsteigen. Diese Füllung mit deutlicher Nebenhebung auf der zweiten Silbe wurde von so gut wie allen Dichtern vollständig gemieden.

Am spannendesten sind für mich die Füllungen der vierten Art – einfach weil sich hier die Dichter wirklich unterscheiden und damit auch der „Geschmack“ ihrer Verse. Ich nehme  Beispiel einmal aus J. F. W. Zachariä, „Murner in der Hölle“:

 

Als die Katze den Höllenhund sah, der seine drei Rachen

Mit erstarrendem Bart das blutige Trauerspiel wahrnimmt.

Ihre Kammertür öffnen; da kam ihr der Schatten der Katze

 

Als die / Katze den / Höllenhund / sah, || der / seine drei / Rachen

Mit er- / starrendem / Bart || das / blutige / Trauerspiel / wahrnimmt.

Ihre / Kammertür / öffnen; || da / kam ihr der / Schatten der / Katze

Man beachte, wie Zachariä die Silbe nach dem braunen Daktylus durchgehend sehr schwer besetzt, um die Nebenhebung eindeutig dem Daktylus zuzuordnen!

Als Vertreter der Gegenrichtung kann J. H. Voß gelten. Im „Bezauberten Teufel“ verzichtet er natürlich nicht auf Wörter der Form „Vaterland“, sondern wertet sie einfach metrisch-rhythmisch anders: Nicht als X x x, sondern als X x X!

 

Der nach dem Teufelsbild, an der Türe mit Kohlen gezeichnet,

 

Der nach dem / Teufels- / bild, || an der / re mit / Kohlen ge- / zeichnet,

Wie schon bemerkt: Durch diese unterschiedliche Wertung der dritten Silbe bekommt der Vers einen etwas anderen Ton!

Nach alldem jetzt aber wirklich zurück zu Heyse un den beiden spannenden Fragen: Wie geht es bezüglich der Handlung weiter, und wie hält er es denn mit den Daktylen?!

Der Anfang des sechsten Gesangs bringt einen Ortswechsel.

 

Lampen erglänzten im Saal, und es spiegelten goldne Geschirre
Blitzend die Flammen zurück in des Prätors Hause. Die Sklaven
Trugen die Speisen hinweg und reichten gehenkelte Schalen
Jeglichem Gast: Das Trinken begann. Man sah von den Polstern
Tief in den Garten hinein, wo herrliche Rosen des Spätjahrs
Dufteten, und um den Nacken der ehernen Aphrodite
Zwischen den Palmen der Mond sein unstet silbernes Netz warf.

 

Und gleich am ersten Vers, der ja die größtmögliche Anzahl an Daktylen aufweist, kann man erkennen, dass Heyses Daktylen sehr sauber sind, meistens von der ersten Art:

Lampen er- / glänzten im / Saal, || und es / spiegelten / goldne Ge- / schirre.

Wer sich einen der anderen Verse anschaut, oder die aus den bisherigen Folgen, wird feststellen, dass das durchgängig der Fall ist!

Versammelt sind im Hause der Prätor selbst, Castelius, Theklas ehemaliger Verlobter Thamyris, der Philosoph, Demas, und als vierter Skyron, der „Oberste der Kohorten“; ein Soldat also. Die Stimmung ist gereizt, das Gespräch dreht sich natürlich um den Apostel und Thekla; da dringt von draußen der Lärm einer sich nähernden Menschenmenge herein. Skyron zieht los, den Grund herauszufinden:

 

… Und von der Erde
Hob er den Helm, und das Schwert am Gehenk vom Pfosten herunter,
Waffnete sich und wiegte die nervigen Arme, dem Bären
Gleich, der ruhig geschmaust am Honigbaum, dem verlassnen,
Und nun hört, wie der Schwarm zum Stock heimkehrend dahersummt,
Drohend dem Räuber entgegen; da wiegt er die zottigen Tatzen,
Schlecht von der Störung erbaut. So ließ der gewaltige Skyron
Einen bekümmerten Blick zu dem bauchigen Mischkrug gleiten,
Eh er den Türvorhang zum Nebengemache zurückschob;
Doch ihn stärkte geheim die Hoffnung, wiederzukehren.

 

Ein geradezu homerisches Gleichnis … Spannend sind die beiden Verse, in denen Wörter der Art „Vaterland“ vorkommen – da Heyses Daktylen sehr leicht und schnell sind, behandelt er diese Wörter natürlich wie Voß, also als X x X:

Gleich, der / ruhig ge- / schmaust || am / Honig- / baum, dem ver- / lassnen,

Der Lärm stammt von den Stadtbewohnern, die Theklas Mutter und den Kybele-Priester zum Prätor begleiten: Theoklia hat das Fehlen der Tochter bemerkt! Alle zusammen brechen zum Gefängnis auf – und finden Thekla und Tryphon beisammen. Oh, oh…

 

Doch in Bestürzung hemmten die Vordersten hart an der Schwelle,
Thekla erkennend, den Schritt. Sie ist bei ihm! lief es die Stufen
Flüsternd hinab, und das Echo im Volk rief laut: Sie ist bei ihm!

 

Starke Verse!? Jedenfalls will das von Midas aufgestachelte Volk jetzt Blut sehen. Der Prätor, immer noch in Furcht vor den Zauberkräften Tryphons, verurteilt diesen aber nur dazu, aus der Stadt geprügelt zu werden; Thekla dagegen soll, den Volkszorn zu befriedigen, auf dem Scheiterhaufen brennen!

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Das Königreich von Sede (46)

In der Frösche grünen Köpfen
Denkt sich die Musik – wer weiß, wie?!
Sicher anders als in Schemels
Menschenkopf. Der alte Narr sitzt
Nachts am Graben, rührt die Saiten,
Singt die Taten König Bodens;
Und der Frösche raues Quarren
Tritt hinzu an vielen Stellen,
Laut und vielgestaltig einmal,
Einmal scheu aus zwei, drei Kehlen,
Schrecklich schräg den Menschenohren
Immer, und wahrhaftig: Immer.

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Bücher zum Vers (30)

Rudolf Ibel: Gestalt und Wirklichkeit des Gedichtes.

„Meine“ Ausgabe ist genau 50 Jahre alt; 1964 bei Heimeran erschienen. Daher ist nicht alles, was Ibel schreibt, auf dem neuesten Stand, und der Abschnitt „Zur Situation der modernen Lyrik“ muss notwendigerweise veraltet sein; aber die restlichen Abschnitte, „Der Dichter und das Wort“, „Das Klangbild“, „Das Bewegungsbild“, „Das Schaubild“, „Von der Wirklichkeit des Gedichts“, haben auch heute noch ihren Wert. Ibel schreibt dicht und bestimmt und bringt so auf den gerade einmal 100 Seiten des Taschenbuches eine Menge Inhalt unter. Manchmal klingt das auch unschön bemüht, aber das ist auszuhalten angesichts der Menge an bedenkenswerten (aber nicht zustimmungspflichtigen) Sätzen, die Ibel dem Leser anbietet. Diesen zum Beispiel (Seite 40):

Nur schlechte Verse können durch den subjektiven, das heißt willkürlichen Vortrag gewinnen, die guten aber werden zerstört.