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Erzählverse: Der Hexameter (36)

Paul Heyses „Thekla“ (4)

Der Hexameter ist zur Bewegungs-Vielfalt nicht nur in der Lage, sondern ihr geradezu verpflichtet! Er sollte:

– sich in der Abfolge von zweisilbigen und dreisilbigen metrischen Einheiten von Vers zu Vers unterscheiden.

– sich in den Hauptzäsuren, den Sinneinschnitten innerhalb der dritten oder vierten metrischen Einheit, von Vers zu Vers  unterscheiden.

– metrische Einheiten und Sinneinheiten nicht deckungsgleich aufeinanderfallen lassen.

– Innerhalb des Verses möglichst unterschiedliche Sinneinheiten bilden, und möglichst nie mehr als zwei gleiche aufeinanderfolgen lassen.

Bei soviel verschiedenen Möglichkeiten, den Vers zu gestalten, stellt sich natürlich die Frage: Woran ist der Hexameter denn dann überhaupt noch dem Ohr erkennbar – was ist die immergleichbleibende Grundgröße, die auf jeden Fall wiedererkannt wird?

Einen gewichtigen Anteil an dieser Wiedererkennbarkeit hat sicherlich die sich immer gleichbliebende Schlusswendung „X x x / X x“ – weswegen sie auch eine wichtige Stelle des Verses ist und sorgfältig behandelt werden muss. Mal sehen, wie Heyse das macht im vierten Gesang der „Thekla“!

Der beginnt damit, dass sich das „einfache Volk“ über den Apostel austauscht.

 

Besser, wir schicken geheim ihm Botschaft, bieten ihm Geld an.
Wer am mächtigsten ist, mit dem sich gütlich vertragen,
Dünkt mich immer das klügste, es sei nun, dass er ein Gott ist,
Oder ein Mensch; denn ein Gott ist jeglicher, der die Gewalt hat.

 

Diese vier Verse führe ich an, weil in dreien von ihnen die Schlussformel durch einen davor liegenden Sinneinschnitt deutlich gekennzeichnet wird:

Besser, wir schicken geheim ihm Botschaft, bieten ihm Geld an.
Wer am mächtigsten ist, mit dem sich gütlich vertragen,
Dünkt mich immer das klügste, es sei nun, dass er ein Gott ist,
Oder ein Mensch; denn ein Gott ist jeglicher, der die Gewalt hat.

Im zweiten Vers klingt die Schlusswendung nicht ganz so deutlich durch (ist aber natürlich vernehmbar). Dieser Vers ist auch der einzige, in dem die letzte Silbe ein „schwaches e“ als Vokal hat. Das ist darum von Bedeutung, weil man ein wenig darauf achten muss, nicht zu viele von diesen schmalbrüstigen Vokalen dabei zu haben, weil der Vers bei einem solchen „schwachen e“ nicht ausschwingen kann, sondern mehr „in sich zusammenfällt“; und wenn das über viele Verse nacheinander geschieht, bekommt der Vortrag schnell etwas bemühtes, stockendes, es ist ein dauerndes Ab- und wieder Ansetzen hörbar.

Ich zeige das an ein paar Thekla-Versen. Der Apostel, der im übrigen Tryphon heißt, und sein Gastgeber Nathanael erhalten Besuch, von Midas, dem obersten Kybele-Priester. Der versucht den Apostel einzuschüchtern, doch:

 

Wenn mich Menschen erschreckten, ich wäre unwürdig der Gnaden
Gottes des Herrn, der stark mich schirmt in drängender Fährde,
Wie er auch heut erst wieder den Feind mit Lähmung geschlagen.
Darum wird kein Schnauben des Zorns mich irgend erschüttern;
Denn ich wandle, wohin mich der Odem des Herrn will tragen,
Der die Fichten im Walde zerbricht und die Wolken dahintreibt
Und die erkorenen Boten umherführt unter den Völkern.

 

Schon erstaunlich, wie stark das „-treibt“ des vorletzten Verses sich heraushebt aus den anderen schwachen Schluss-Silben! Ich denke, wenn man alle vier, fünf Verse etwas Abwechslung reinbringt, bekommt das Ganze ein schönes Gleichgewicht … Im drittletzten Vers ersetzt Heyse die Schlussformel „X x x / X x“ wieder einmal durch „X x / X x“ – das hatten wir ja schon. Für meinen Geschmack macht er das etwas zu oft – er stört dadurch eben die Wiedererkennbarkeit des Vers-Schlusses. Klar ist das erlaubt seit Homers Zeiten, doch bei den meisten Dichtern liegt die Häufigkeit um die zwei Prozent …

Inhaltlich lässt Midas die Maske fallen, nachdem Nathanael gegangen ist, und schlägt Tryphon ein Geschäft vor: Geld gegen das Verlassen der Stadt. Dem Gottesmann platzt natürlich der Kragen! Midas zieht wütend ab und wird von Thekla beobachtet; sie wirft dem Apostel eine Warnung ins Zimmer. Dann stellt sie fest, dass niemand im Haus mehr mit ihr redet. Erst abends erbarmt sich eine alte Dienerin und weiß zu berichten, dass Tryphon von der römischen Staatsmacht gefangengenommen und eingekerkert wurde! Jedoch, nach dem Abgang der Alten:

 

Und nun saß in der Nacht, die mit ruhigen Sternen hereinsah,
Thekla wieder allein und atmete tiefer und leichter.

 

Denn sie weiß jetzt, was zu tun ist: Sie will den Apostel aus dem Gefängnis retten!

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Ohne Titel

Abgefüllt mit Poesie!
Zeilen voll mit Leid und Hoffen
Hab ich gierig leergesoffen –
Versetrunkner war ich nie.

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Die Bewegungsschule (18)

Ich möchte, wie in den letzten Bewegungsschule-Einträgen schon, noch einige Sinneinheiten in ihrer Bewegung vorstellen, darüber aber auch den zuvor vorgestellten Vers nicht vergessen. Daher hier und heute ein Blick auf Victor von Scheffels „Waldfrevel“, der „unseren“ Vers verwendet! Scheffel nutzt die möglichen Freiheiten des Verses etwas großzügiger, als ich das bisher vorgeschlagen habe, und das vor allem in zweierlei Hinsicht:

– Scheffel nutzt die „Verkürzung“ deutlich häufiger, hat also oft statt „ta ta“ (zwei leichte Silben) nur „ta“ (eine leichte Silbe).

– Scheffel setzt gelegentlich eine schwere Silbe auf eine leichte Versstelle.

Ich schaue im weiteren auf das erste Dutzend Verse seines Textes und mache dabei diese beiden Abweichungen kenntlich – ta ist eine „freiere“ Verkürzung, ta eine schwere Silbe, die als leichte Silbe genutzt wird. Zuerst aber der reine Text:

 

Ein gastlich Quartier um Mitternacht
Hab vom Wald ich geheischt; gern bot er mir dar
Ein windstill Lager im dicht’sten Gehölz,
In samtweichem Moose, von Farren umschwankt,
Den umsponnenen Stein als Kissen des Kopfs,
Altknorrige Eichen als Hüter.

Unlang war der Schlaf; es umschwebte mich nicht
Süß gaukelnder Traum und entführte mir nicht
Zu dir, mein Magnet, die Gedanken.
Jäh fuhr ich empor mit unwirschem Fluch,
Geweckt von dem Schalle der hauenden Axt,
Der, doppelt so stark
Denn bei Tag, weit rief durch die Nacht hin.

 

Und dazu nun die „Bewegungsbilder“ in der Form Vers, Silbenbild, Anmerkung.

Ein gastlich Quartier um Mitternacht
ta TAM ta ta TAM || ta TAM ta TAM
Der erste Vers hat zwei Verkürzungen, die im bisher vorgestellten Versrahmen bedenklich wären; „Mitternacht“ wäre aber auch da möglich.

Hab vom Wald ich geheischt; gern bot er mir dar
ta ta TAM / ta ta TAM || TAM / TAM ta ta TAM
Ein Vers, der die Grundbewegung sehr klar wiedergibt!

Ein windstill Lager im dicht’sten Gehölz,
ta TAM TAM TAM ta || ta TAM ta ta TAM
Eine „freiere“ Verkürzung; die Zäsur ist verschoben.

In samtweichem Moose, von Farren umschwankt,
ta TAM ta ta TAM ta || ta TAM ta / ta TAM
„-weich-“ ist hier „kurz“, was hinter dem „samt-“ sicherlich geht; für Scheffel ist das Silbengewicht nicht so entscheidend, er hört mehr die Betonung! Die Zäsur ist wieder versetzt. (Farren = Farnen.)

Den umsponnenen Stein als Kissen des Kopfs,
ta ta TAM ta ta TAM || ta TAM ta / ta TAM
„als“ ist vielleicht auch schon ein „TAM“. „Kissen des Kopfs“ klingt unfreiwillig komisch, heutzutage.

Altknorrige Eichen als Hüter.
TAM TAM ta ta TAM ta / ta TAM ta
Ein Schlussvers, passend am Ende des Anschnitts. „Altknorr-“ ist eine schwebende Betonung?!

Unlang war der Schlaf; es umschwebte mich nicht
TAM TAM / ta ta TAM || ta ta TAM ta / ta TAM
„Unlang“, wieder eine schwebende Betonung.

Süß gaukelnder Traum und entführte mir nicht
TAM TAM ta ta TAM || ta ta TAM ta / ta TAM
Sehr auffällig, das wiederholte „nicht“ des Vorverses!

Zu dir, mein Magnet, die Gedanken.
ta TAM / ta ta TAM / ta ta TAM ta
Wieder ein Schlussvers. „Dir“ ist als Pronomen betont; einer der seltenen Fälle, dass ein Bauwort betont wird. Der „Magnet“ ist wohl die Angebetete des Sprechenden, „Wilhelmina“.

Jäh fuhr ich empor mit unwirschem Fluch,
TAM / TAM ta ta TAM || ta TAM ta ta TAM
„-wirsch-“ ist schwer, aber auf eine „leichte“ Stelle gestellt; das geht wirklich nur, wenn nur die Betonung betrachtet wird, und selbst da knirscht es?!

Geweckt von dem Schalle der hauenden Axt,
ta TAM / ta ta TAM ta || ta TAM ta ta TAM
Die Zäsur ist verschoben.

Der, doppelt so stark
ta / TAM ta ta TAM
Ein auflockernder Halbvers. Das „Der“ gewinnt Gewicht durch das folgende Komma, das „Alleinstehen“ – vielleicht ists schon ein „TAM“?!

Denn bei Tag, weit rief durch die Nacht hin.
ta ta TAM / TAM TAM / ta ta TAM ta
Der dritte Schlussvers, wieder am Absatzende. „weit rief“, „TAM TAM„, würde in meinen Schluss-Versen nur am Versanfang erscheinen; aber hier hat es ohne Frage eine sehr schöne Wirkung auch in der Versmitte!

Soweit. Wer mag, kann sich ja den restlichen Text im Netz anschauen und auf die Bewegungslinien hin abhören?! (Wikipedia hat, erstaunlicherweise, einen längeren Eintrag zur „Waldeinsamkeit“ – das ist der Zyklus, aus dem „Waldfrevel“ stammt.) Was auffällt: Die zusätzlichen Verkürzungen (ta) stehen immer am Versanfang oder nach der Zäsur, also da, wo eine Pause vorangeht. Ich glaube nicht, dass das ein Zufall ist …

Aber wie auch immer: Der Vers, den Scheffel hier für sich gefunden hat, trägt, finde ich. Er nutzt die möglichen Freiheiten etwas großzügiger, als ich es bisher vorgeschlagen habe, hat aber trotzdem eine Mitte und vor allem ein Bewusstsein dafür, was er macht und was er lässt. Dadurch wird er als Vers, als bestimmter Wort-Raum  erkenn- und erfahrbar!

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Erzählverse: Der Hexameter (35)

Paul Heyses „Thekla“ (3)

Der dritte Gesang beginnt mit einem Aufruhr vor Theklas jüdisch-christlichem Nachbarhaus: Der am Tag zuvor gekommene Apostel predigt, zur Begeisterung der Christen und zur Empörung der Heiden. Sein Reisebegleiter vom Vortag, der Goldschmied Hermogenes, kommt herüber zu Theklas Mutter Theoklia und berichtet. Zum Beispiel über die Empörung vor der Tür des Nachbarhauses:

 

Aber ein stämmiger Bursch schrie laut und ballte die Fäuste:
Memmengeschwätz! Gebt Raum! Und säß ein Dutzend Dämonen
Unter dem Schädel des Schurken, ich schlüg ein Loch in die Zelle,
Dass sie eilten, woanders und ruhiger unterzukommen!

 

Nicht „Macht Platz“, oder „Zur Seite“, oder „weg da“, sondern: Gebt Raum! Mmmm… Alleine für diesen Ausdruck hat sich das Lesen schon gelohnt. „Schädel“, „Schurken“, „schlüg“ erinnert mich daran, dass ich mal ausprobieren wollte, wie sich der Hexameter als Stabreimgrundlage macht …

Jedenfalls halten die Einwohner den Apostel für einen mit Dämonen verbündeten Zauberer:

 

Liefert den Zauberer aus! Heraus mit dem Judenpropheten!

 

Als der Apostel sich wirklich zeigt, bekommt der „stämmige Bursch“ einen Anfall und wälzt sich zuckend in der Gasse. Theklas Mutter ist von alledem… nicht angetan. Sie eilt zur Kammer der Tochter – und findet sie weit aus dem Fenster gelehnt, um besser hören zu können. Die Mutter ist entsetzt!

 

Kind, vom Fenster zurück! Was hast du getan? Der Bezaubrung
Gabst du dich preis, unwissend, wie finsterer Macht du anheimfällst!

 

Die Tochter sieht das anders. Sie sagt über die Predigt:

 

Mutter, ich kann nicht sagen, wie wohl mir ward. Die Gedanken
Schweben so leicht; mir ist, ich sei vom Tode genesen.

 

Wenn man beim Amphibrach auch unterschiedlicher Meinung sein kann, bei einer anderen über dem Grundmetrum hörbaren rhythmischen Einheit sind sich alle einig. „X x x X„, der Choriambus, gilt als eine der schönsten rhythmischen Figuren der deutschen Sprache! Hier wird sie sowohl von der Mutter (Gabst du dich preis) als auch von der Tochter (Schweben so leicht) benutzt, die jeweiligen Verse haben aber trotzdem einen sehr verschiedenen Klang.

Theoklia lässt Thamyris rufen und klagt dem Noch-Verlobten ihr Leid. Der erweist sich aber als der Depp, den man in ihm schon vermutet hatte:

 

Ists nicht Diese, so sind zehn Andere, die sich die Augen
Längst ausgaffen nach mir. Nun will ich hinauf zu der Närrin;

 

Und damit lässt er die Mutter stehen. Thekla kündigt dem Wütenden die Verlobung auf und schließt mit

 

Fahre du wohl, und mögen dich glückliche Sterne geleiten!

 

So hübsch würde man das heutzutage wohl nicht mehr ausdrücken … Beachtenswert aber auch hier der Choriambus (Fahre du wohl) und die Zäsur nach „mögen“; die ist zwar schwach, aber wenn man da keine kurze Pause spricht, klingt der Vers gar nicht?!

Thamyris, jetzt noch viel wütender, stürzt zum Nachbarhaus, um dem Apostel an den Kragen zu gehen; dabei läuft er dem Philosophen, der am Vortag mit dem Apostel und dem Goldschmied in die Stadt gekommen war, in die Arme. Demas (so des Philosophen Name) hält ihn auf und führt ihn fort; aber nur, damit Thamyris nicht zu Schaden kommt, nicht, weil er das Christentum schätzt:

 

Was, seit Menschen gelebt, noch einzig der Mühe des Lebens
Wert schien, edler Genuss und herzliche Freude der Sinne,
Toll ists, das zu verachten, sich des zu schämen, ein Wahnsinn.

 

edler Genuss„. „Memmengeschwätz!“ ganz am Anfang war übrigens auch so ein Choriambus. Wenn man erst einmal anfängt, darauf zu achten …

 

Nein, ein Märchen gesponnen und tapfer geglaubt und im Notfall
Sich drauf kreuzigen lassen. Sie dünken sich wunder wie edel,
Wenn sie gen Himmel gestarrt und darob die Hälse gebrochen.

 

Tja, wahrlich kein Christenfreund, wenn auch aus weniger abergläubischen Gründen als das einfache Volk…. Jedenfalls zieht er mit Thamyris ab, um die Dinge juristisch anzugehen. Die Geschichte nimmt an Fahrt auf!

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Bild & Wort (52)

Zu den beiden Bildern dieses Eintrags muss ich wohl doch etwas schreiben … Es ist eigentlich ein Bild, ein „Upside-Down“; dabei liest man ganz gewöhnlich die Panels von links nach rechts. Ist man durch, dreht man den Strip um und liest die Geschichte weiter – dieselben Bilder, und doch nicht.

Damit aber niemand, der dieses wunderliche Etwas an einem stationären Rechner anschaut, einen Kopfstand machen muss, folgen nun beide Ansichten:

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Bücher zum Vers (29)

Günter Häntzschel:
Johann Heinrich Voß. Seine Homer-Übersetzung als sprachschöpferische Leistung.

Ein bis an den Rand mit wissenswertem gefülltes Buch, finde ich. Den Anfang macht eine Beschreibung der vor Voß liegenden Versuche der Homer-Übersetzung; daran schließt sich eine Beschreibung der Homer-Vorstellung von Voß an sowie eine Beschreibung seiner Hexameter-Auffassung.

Der für mich lesenswerteste Teil ist dann der dritte, „Charakteristika der Voß’schen Übersetzersprache“, in dem „Metrische Analysen“, „Grammatikalisch-stilistische Analysen“ und Wortschatzanalysen“ einen tiefen Blick in die Übersetzungstechnich von Voß erlauben, und auch vieles bedenkenswerte über den Hexameter vermitteln.

Abschließend wird dann Voß‘ Übersetzung noch historisch eingeordnet und ein Überblick über ihre Aufnahme gegeben, ehe zum Schluss auf ihr Weiterleben und -wirken eingegangen wird. Wie gesagt: Viel Lese- und Denkstoff!

Wer also schon immer wissen wollte, wie Voss zu der oft fremd wirkenden Gestalt seiner Verse kam, oder sich ein lebendiges Bild über den qualitativen Genitiv machen möchte wie etwa in:

 

Rings nun setzten sich all‘ in Ordnungen, dort wo sich jeder
Rosse gehobenen Hufs, und gebildete Waffen gereihet

 

– hier ist er richtig. Zu diesen beiden Versen merkt Häntzschel auf S. 120 an, in Bezug auf A. W. Schlegels Kritik an dieser Art Genitiv:

Man könne allenfalls die Rosse laufen gehobenen Hufes sagen, dürfe jedoch bei der Erwähnung ihrer bloßen Eigenschaft auf ein Präpositionalgefüge, ‚Rosse mit gehobenem Hufe‘, nicht verzichten. Der rationalistische Einwand, dass hier überdies die stillstehenden Rosse ihre Hufe ja tatsächlich gar nicht heben, dass es sich vielmehr nur grundsätzlich um ’schnelle Rosse‘ handele, zeugt von dem hohen Abstraktionsgrad der deutschen Sprache, deren Normen die Rezensenten respektieren, während es Voß im Gegensatz zu ihnen darum zu tun ist, sie zu sprengen. Wenn Voß nämlich den ‚fertigen‘ Begriff ’schnelle Rosse‘ vermeidet und analog dem sinnlichen Prinzip der griechischen Sprache die Schnelligkeit in einem anschaulichen Bild vermittelt, das aus der Bewegung der Rosse gewonnen ist, bei der diese tatsächlich ‚die Hufe hebend‘, also „gehobenen Hufs“ sichtbar sind, und wenn er dieses Bild dann auf ihre Eigenschaft überträgt, so leitet ihn wieder die Intention, die abstrakte Sprache zu verjüngen; statt des begrifflichen Resultats (’schnell‘) greift Voss auf die von solcher Abstraktion noch freie konkrete Ursache („gehobenen Hufs“) zurück, die erst im Nachhinein zu jenem Resultat führt.

Vielleicht  „gewaltsam“, aber wirkungsvoll versucht Voß,

die im Zeitalter der Ratio verlorengegangene Ursprünglichkeit früherer Kulturen, ihren sinnlichen Aussagewert, wiederherzustellen.

Ob das sinnvoll ist, wie es erreicht werden kann – auch alles das verhandelt dieses 1977 bei Beck erschienene Buch.

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Wolkenglück

Schwerelos.
Weiter nichts:
Einfach bloß
Schwerelos,
Dort im Schoß
Blauen Lichts –
Schwerelos,
Und sonst nichts.

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Erzählverse: Der Hexameter (34)

Paul Heyses „Thekla“ (2)

Amphybrachen, also Bewegungseinheiten der Art „x X x“, muss man im Hexameter im Auge behalten; die bilden sich im Deutschen ganz einfach, und zu viele davon machen einen Hexameter langweilig. Johann Heinrich Voss hatte da große Bedenken, er schrieb:

Der leidige Amphybrach, der oft fünfmal in einem Verse sich überwälzt, und, dass man ihn ja recht aushöre, oft zweimal dazwischen sich verschnauft, zum Beispiel:

Fröhlich belausch ich im Dunkel der Buchen das Zwitschern der Vögel.

Also, von der Bewegung, den Sinneinheiten her, wirklich fünfmal ein „x X x“:

Fröhlich / belausch ich / im Dunkel / der Buchen / das Zwitschern / der gel.

Goethe dagegen waren solche Verse kein Ärgernis. Nicht, dass sie bei ihm zahlreich wären; aber im Reineke Fuchs zum Beispiel steht dieser:

Denn es haben mitunter die Pfaffen auch Böses im Sinne.

Denn / es haben / mitunter / die Pfaffen / auch ses / im Sinne.

Dieselbe Schaukelbewegung wie bei Voss. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit wie immer irgendwo in der Mitte … Sicher ist dieses Geschaukel lästig, vor allem deswegen, weil der Hexameter ja von der Vielfalt lebt und mehrere Amphybrachen nacheinander eben eher für Eintönigkeit stehen; aber andererseits gilt wie immer: solange man nichts übertreibt, kann nichts schlimmes passieren.

Mal sehen, wie Heyse mit diesen Amphybrachen zurechtkommt! Im zweiten Gesang der „Thekla“ tritt die Hauptperson erstmals auf: Auf dem Dach eines spärlich geschmückten Hauses – der Hausherr ist vor kurzem gestorben – steht die siebzehnjährige Thekla und ist sauer: Ihr Verlobter Thamyris schläft seinen Rausch aus. Als er aufwacht, kommt gerade der Festzug vorbei; der oberste Kybelepriester erschreckt Thekla mit seinem anzüglichen Verhalten, sie bittet Thamyris, sie wegzuführen, er aber zwingt sie zu bleiben und behandelt sie wie ein Besitzstück. Sie reißt sich los und flieht; In ihrem Zimmer wird sie erst von ihrer Mutter gescholten, dann belauscht sie die Gespräche im jüdisch-christlichen Nebenhaus, wo der Apostel aus dem ersten Gesang die christlichen Bewohner der Stadt zurechtweist, weil sie das heidnische Fest mitfeiern. Thekla ist danach schwer beeindruckt:

 

Möge der Schlaf dich erquicken, du Edelster! Segne der Gott dich,
Dem du betest, und geb in das Herz dir, länger zu weilen,
Mir nicht ganz zu verstummen.

 

(Zu beachten: Der Dativ – statt Präposition – „Dem du betest“.) Da ist die zukünftige Christin schon zu erahnen?!

Amphybrachen gibt es zum Beispiel zu sehen, als sich Thekla auf dem Dach von Thamyris befreit:

 

Doch ihm schäumt unseliger Trotz im Herzen, und herrisch
Hält er sie: Bleib! Ich befehl es! – Da lösen sich unter dem Ringen
Ihr von der Schulter die Spangen, es fällt das Gewand, und der weiße
Busen erglänzt. Auflodernd, die Brust mit den Händen bedeckend,
Stößt sie den Jüngling zurück. Er steht, wie zaubergeblendet,
Plötzlich ernüchtert und schweigt. Da nutzt sie die jähe Verwirrung,
Und vom Söller herab in die Kammer geflüchtet, verschließt sie
Hastig die Tür und bricht mit stürzenden Tränen zusammen.

 

Ja, ja, „zaubergeblendet“ … Öhöm. Und wie stößt sie ihn eigentlich mit busenbedeckenden Händen zurück? Egal:

Plötzlich ernüchtert und schweigt. / Da nutzt sie / die jähe / Verwirrung,

Drei Amphybrachen in der zweiten Vershälfte – und darüber geht Heyse selten hinaus. Also ein verantwortungsvoller Umgang, solche Halbverse haben dann auch fast alle Verfasser! Nur ein seltsamer Vers ist dabei, aus der Apostelschelte:

 

Horden von Tieren und Teufeln in blinder Verruchtheit taumelnd.

 

Da ist schon metrisch eine Besonderheit dabei:

Horden von / Tieren und / Teufeln in / blinder Ver- / ruchtheit / taumelnd.

Der typische Schluss „X x x / X x“ ist verändert zu „X x / X x“! Das ist sehr unüblich. Und dadurch ergibt sich auf der Ebene der hörbaren Sinneinheiten eine seltsame Erscheinung:

Horden / von Tieren / und Teufeln / in blinder / Verruchtheit / taumelnd.

Vier Amphybrachen in der Mitte, flankiert von zwei „X x“. Seltsam einförmig, sehr untypisch, aber vielleicht gerade darum dem Inhalt angemessen?!

Ich mache Schluss mit meinen beiden Lieblingsversen aus diesem Gesang, Thekla nach ihrer Flucht in der Kammer:

 

Hab ich Ruhe für heut? Wie teuer erkauft! Und ein Morgen
Kommt, und endlich ein Tag, da verlässt mich die Ruhe für immer.

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Das Königreich von Sede (44)

Am Wassergraben grün und tief
Trieb satt ein großer Hecht – er schlief
Und sah die letzter Tage
Verspeisten treten in den Traum;
Und klagen stumme Klage.

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Erzählverse: Der Blankvers (28)

„Die letzte Kornblume“ von Klabund ist nicht wirklich ein Frühlingsgedicht; aber hier geht es ja auch mehr um die gewählte Form. Und da zeigt sich, es ist keines jener Blankvers-Gedichte, die den Vers durchgängig umsetzen; vielmehr beginnt der Text mit vier gewöhnlichen Blankversen, um dann, mit dem dem „plötzlich“ des fünften Verses, der ein Vierheber ist, vom Blankvers „plötzlich“ nichts mehr wissen zu wollen: Der sechste Vers ist zwar ein Fünfheber, doch mit doppeltem Auftakt; und dann folgen ein Siebenheber, ein Sechsheber und ein Dreiheber, ehe der Text wieder in  den Blankvers zurückfällt und ihn auch durchhält, mit Freiheiten, die das übliche Maß nicht überschreiten. Nur der „Sensenmann“ bekommt noch einen hervorgehobenen, einen vierhebigen Vers!

 

Sie ging, den Weg zu kürzen, übers Feld.
Es war gemäht. Die Ähren eingefahren.
Die braunen Stoppeln stachen in die Luft,
Als hätte sich der Erdgott schlecht rasiert.
Sie ging und ging. Und plötzlich traf sie
Auf die letzte blaue Blume dieses Sommers.
Sie sah die Blume an. Die Blume sie. Und beide dachten
(Sofern die Menschen denken können, dachte die Blume…)
Dachten ganz das gleiche:
Du bist die letzte Blüte dieses Sommers,
Du blühst, von lauter totem Gras umgeben.
Dich hat der Sensenmann verschont,
Damit ein letzter lauer Blütenduft
Über die abgestorbene Erde wehe —
Sie bückte sich. Und brach die blaue Blume.
Sie rupfte alle Blütenblätter einzeln:
Er liebt mich – liebt mich nicht – er liebt mich … nicht. —
Die blauen Blütenfetzen flatterten
Wie Himmelsfetzen über braune Stoppeln.
Ihr Auge glänzte feucht – vom Abendtau,
Der kühl und silbern auf die Felder fiel
Wie aus des Mondes Silberhorn geschüttet.

 

Inwieweit das alles dem Inhalt dient, ist mir nicht gänzlich klar?! Aber genug, zu sehen, wie der Blankvers hier sich verwirklicht, dort als mitgehörte Bezugsgröße sich bewährt und dem Text eine schöne Lebendigkeit sichert. Braune Stoppeln und Blankverse an Anfang und Ende, und dazwischen einige Lockerungen …