Dämmerstill, der Gott des Waldes,
Schläft im Schatten seiner Bäume
Schon seit ungezählten Jahren –
Weich auf Laub und Moos gebettet,
Zugedeckt vom Grün der Farne …
Dämmerstill, der Gott des Waldes,
Hat die längste Zeit geschlafen;
Bald schon wird er sich erheben,
Wird die Welt durchstreifen, wird sich
Einen neuen Namen geben:
Dämmerstill, der Gott des Waldes,
Erstgewordener der Götter.
Go: Die alten Meister (3)
Die alten Meister sinnen
Oft über diesen Satz nach:
Begehr nicht zu gewinnen!
Erzählverse: Der Hexameter (29)
Gotthelf Wilhelm Christoph Starkes „Der Dichter“
Worum geht es?
Während Philetes, ein Dichter, über dem Dichten die Zeit vergisst, warten seine Frau und seine Kinder mit dem Essen auf ihn. Als er endlich heimkommt, findet Philetes seinen Hund sterbend; er hat einen Happen vom Essen bekommen. Es stellt sich heraus, dass das Essen versehentlich vergiftet worden ist. Alle sind froh, mit dem Schrecken davongekommen zu sein, und Philetes dankt überschwenglich den Musen, die ihn sich haben verspäten lassen.
Das klingt harmlos, und ist es auch: Diese 77 Hexameter lange Dichtung ist ein hübsches Nichts. Brauchte Starke, einer der typischen „Dichter im Nebenberuf“ des 18. Jahrhunderts, eine Entschuldigung, weil er selbst nie pünktlich war? Wer weiß …
Man kann den Text aber trotzdem schnell mal lesen, denn Starke hat den Vers recht gut im Griff. Die Hexameter passen sich dem Inhalt an, sie sind leicht – die Versschlüsse etwa sind meist auf Silben mit schwachem „-e“ – und vor allem schnell. Ich gebe einige Verse, die den dichtenden Philetes zeigen:
Wonniglich ging er einher, versunken in schönen Gedanken,
Hörte der Himmlischen Gruß, die des Sterblichen Hütte besuchten,
Schwebte mit ihnen empor zum Olympos, und kostete Nektar,
Folgte dann schauernd hinab zu den Schatten dem schwebenden Hermes;
Freundlich umstrahlt ihn der Glanz von Elysiums goldenen Blumen.
Süß war seine Begeistrung, und süß sein liebendes Streben,
Ihre Gebild‘ in den Schmuck harmonischer Rede zu kleiden.
Das kann man fraglos einfach so runterlesen, es schmeckt und man wird doch weder satt noch fett davon. Das „hinauf – hinab“ ist aber nett gemacht, scheint mir.
„Schnell“ sind diese Verse nun, weil sie fast jede Senkung mit zwei unbetonten Silben besetzen. Wenn man die ersten vier metrischen Einheiten betrachtet, bei denen sich die Frage „Zwei- oder dreisilbig?“ ja nur stellt, ergeben sich in diesem kurzen Abschnitt 85% dreisilbige Einheiten!
Das Verhältnis von zwei- und dreisilbigen Einheiten prägt den Vers recht eindrücklich, weswegen es auch für viele Dichter bestimmt worden ist von klugen Leuten mit viel Zeit. Bei Homer etwa, dem Griechen, zählte man 68 % dreisilbige Einheiten, beim Römer Vergil 40 %; die deutschen Dichter liegen dazwischen, Voss (65 % in der „Luise“) und Klopstock (61 % im „Messias“) näher bei Homer, Goethe (49 % im „Reineke“) in der Mitte mit Neigung zu Vergil.
Starkes Werte fallen sehr aus diesem Rahmen, aber über den ganzen Text ist der Prozentsatz, wenn auch immer noch hoch, so doch sicher geringer. Seine zweisilbigen Einheiten sind, wie hier, meist an Stellen gesetzt, die zeigen, dass sie „von der Dreisilbigkeit her“ gedacht sind:
Wonniglich / ging er ein- / her, || ver- / sunken in / schönen Ge- / danken,
Süß war / seine Be- / geistrung, || und / süß sein / liebendes / Streben,
Ihre Ge- / bild‚ in den / Schmuck || har- / monischer / Rede zu / kleiden.
In zwei der vier Fälle ist die zweisilbige Einheit die Einheit, in der auch die Zäsur liegt, so dass die dort nötige Sprechpause die zweisilbige Einheit „längt“ und so den dreisilbigen annährt; einmal ist die erste Einheit betroffen (Süß war), wo der Vers am Beginn eines neuen Satzes erst einmal Fahrt aufnehmen muss und eine langsamere Einheit ganz gut passt; was dann nach der Zäsur gleich noch einmal wiederholend-wiederaufnehmend geschieht (süß sein)! Den Versuch, wie Voss die antiken „Spondeen“ (schwer-schwer) nachzubilden, unterlässt Starke völlig, und so ist sein Gesang dann, wie der des Philetes, „süß“, den Musen geschuldet,
Welche den Dichter verstrickten in Banden des süßen Gesanges.
Wer will da noch scheiden zwischen Schreibendem und Beschriebenem …
Erzählverse: Der Knittel (2)
Das folgende Epigramm stammt von Franz Grillparzer. Sicher kein Text, vor dem man auf die Knie fallen müsste; aber dafür gut geeignet, einige der Knittel-Eigenheiten vorzustellen.
Politisch
Mit wem soll sich verbünden der Hase!
Der Fuchs schleicht ihm nach im Grase,
Von oben rauschen des Geiers Schwingen,
Der Bauer im Kohlfeld legt ihm Schlingen,
Und macht er sich endlich auf die Füße,
Treffen ihn des Jägers Schüsse.
Gleich im ersten Vers stellt sich die Frage, welche vier Silben betont sind?! –bün– und Ha-, sicherlich; aber am Versanfang sind die Dinge weniger klar. Wie wäre es mit dem vom alternierenden Vers gewohnten „Auf und Ab“?
Mit wem soll sich verbünden der Hase!
Das ginge vielleicht; aber ist nicht das Hilfsverb „soll“ ein wenig schwerer als das Pronomen „sich“?! Und vor allem: Da der Knittel sich stärker am Satz und dessen Bedürfnissen ausrichtet, und da der Satz hier doch wohl so etwas aussagen soll wie „Es geht überhaupt nicht!“, trägt für mich das „soll“ die zweite Betonung, denn nur dann sagt der Satz genau das aus! Also:
Mit wem soll sich verbünden der Hase!
Da stoßen dann zwei betonte Silben aufeinander, aber das ist im Knittel nichts besonderes. Muss hier im ersten Vers noch gegrübelt werden, ist die Lage im zweiten klar:
Der Fuchs schleicht ihm nach im Grase,
– Da beträgt die Anzahl der unbetonten Silben zwischen den betonten Silben Fuchs und schleicht – null. Auch das ist im Knittel kein Grund zur Aufregung, solange eine sichere, starke Versbewegung da ist!
Der dritte und der vierte Vers bieten wenig ungewöhnliches:
Von oben rauschen des Geiers Schwingen,
Der Bauer im Kohlfeld legt ihm Schlingen,
Dafür ist das dritte und abschließende Verspaar wieder einen genaueren Blick wert!
Und macht er sich endlich auf die Füße,
Treffen ihn des Jägers Schüsse.
Da ist einmal der betonte Eingang in Vers sechs – die ersten fünf Verse begannen bei allen Unterschieden ausnahmlos mit einer Unbetont-Betont-Folge; der Schlussvers setzt betont ein und ist, da er auch gänzlich auf doppelt besetzte Senkungen verzichtet, eigentlich ein trochäischer Vierheber!
Zum anderen fällt der nicht gerade saubere Reim „Füße – Schüsse“ auf. Auch das gehört zum Knittelvers, eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber Härten beim Reim trägt zu dem oft etwas rauen, unebenen Erscheinungsbild des Verses bei!
Frühlingswehen
Opa sitzt im Garten, rege
Nur sein Haar
Bücher zum Vers (22)
Lucie Schädle: Der frühe deutsche Blankvers unter besonderer Berücksichtigung seiner Verwendung durch Chr. M. Wieland. Eine versstilistische und literaturhistorische Untersuchung.
Zum Glück liest sich dieser Band keineswegs so umständlich, wie es sein langatmiger Titel vermuten lässt. Es geht um die Umstände und Bedingungen, die dazu geführt haben, dass der Blankvers im Deutschen heimisch werden konnte. Daher bildet eine Übersicht über die Entwicklung des englischen Blankverses den Anfang; daran schließt sich eine Zusammenfassung der ersten Versuche eines deutschen Blankverses an, ehe dann über Ewald von Kleist und Lessing (Nathan!) schließlich „Wielands Blankverskunst“ in den Einzelheiten vorgestellt und besprochen wird.
Der Leser hat bei diesem Buch zweierlei Gewinn, denke ich: Einmal erfährt er vieles über die Dinge, die der Blamkvers ausmachen; und zum zweiten ist er gleichsam zugegen in einem der sehr spannenden Augenblicke, in denen etwas neues in der deutschen Dichtung Fuß fasst, wächst und sich entwickelt – gegen Widerstände, gegen das Alte, in Versuch und Irrtum; und schließlich fertig dasteht und schaffen und wirken kann. Das Wie und Warum dieses Vorgangs zu verstehen verschafft manche neue Einsicht!
Erschienen ist der Band 1972 bei Kümmerle.
Erzählverse: Der iambische Trimeter (10)
Der Trimeter kann viel. Er kann erzählen; er kann aber auch epigrammatisch gebraucht werden, wie zum Beispiel Friedrich Rückert zeigt in vielen seiner Einträge in die Liedertagebücher.
Ein junges Herz nimmt mit der ganzen Welt es auf;
Wie groß die Welt, wie klein ein Herz ist, weiß es nicht.
Ein gänzlich rundes, gänzlich geschlossen wirkendes Verspaar?! Diesen Inhalt hätte man sicher auch in ein klassisches Distichon gießen können, das mit Hexameter & Pentameter dem Eindruck der Reihung auch auf der Formseite entgegenwirkte; aber Rückerts Trimeter schaffen das alleine über den Inhalt.
Der höchst erfindungsreichen Zeit Erfindungen
Bezwecken eines, dass der Reichtum reicher sei;
Dass reich die Armut würde, wer erfände das!
Drei Verse, die ersten beiden durch einen Zeilensprung zu einer Einheit verbunden; dagegen abgesetzt der dritte, schließende Vers. (Der Inhalt ist heute so frisch wie zu Rückerts Zeiten; vielleicht frischer und drängender …)
Wir gehen eine Weil‘ auf unserm Grab umher,
In welchem andre liegen, die vergehn, damit
Uns werde Raum zu liegen, und wir legen uns
Ins Grab hinein, und andre gehn darauf umher.
WIederholungen, die allem Form geben, wodurch auch die Zeilensprünge nichts zerreißen; und zum Schluss die Wiederaufnahme des Schlusses des ersten Verses.
Der süße Mai hat dieses Jahr nicht seine Kraft,
In Wonnetraum ein Herz zu wiegen mit Gesang
Der Nachtigallen; denn inzwischen schreit die Not
Ums teure Brot. Was hilft der Apfelblüten Duft?
Drei lange lange Monde sinds zur Ernte noch.
Frage im vorletzten, Antwort im letzten Vers. Seltsam der Reim „Not-Brot“?! Auf jeden Fall gibt Rückert hier bedenkenswerte Beispiele, wie man auch aus lauter gleichen Versen schöne, geschlossen wirkende Epigramme bauen kann. Bei mehr als fünf Versen fehlt vielleicht schon die Knappheit, die ein solches Epigramm anziehend macht; aber auch die etwas längeren Trimeter-Texte Rückerts sind sehr lesenswert, wer die Zeit findet, sollte sie sich anschauen!
Erzählverse: Der Hexameter (28)
Johann Wolfgang Goethes „Erste Epistel“
Jetzt, da jeglicher liest und viele Leser das Buch nur
Ungeduldig durchblättern und, selbst die Feder ergreifend,
Auf das Büchlein ein Buch mit seltner Fertigkeit pfropfen,
Soll auch ich, du willst es, mein Freund, dir über das Schreiben
Schreibend, die Menge vermehren und meine Meinung verkünden,
Dass auch andere wieder darüber meinen und immer
So ins Unendliche fort die schwankende Woge sich wälze.
So geht sie los, Goethes Ende 1794 geschriebene „Erste Epistel“. Es ist das erste Gedicht, das während der Zusammenarbeit mit Schiller geschrieben wurde, und es eröffnete das erste Heft von Schillers berühmter Zeitschrift, den „Horen“. Die auf sie folgenden Schillerschen Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ sind, wie man bei diesem Titel und bei ihrem Autor schon vermutet, nicht eben heiteren Tons; Goethe dagegen führt im Brief an seinen „Freund“ eine fröhlich-unbeschwerte Sprache. Er redet über die Möglichkeiten der Literatur, und so ganz kann er Schillers Glauben an die Erziehbarkeit des Menschen durch das Wort nicht teilen:
Reden schwanken so leicht herüber hinüber, wenn viele
Sprechen und jeder nur sich im eigenen Worte, sogar auch
Nur sich selbst im Worte vernimmt, das der andere sagte.
Mit den Büchern ist es nicht anders. Liest doch nur jeder
Aus dem Buch sich heraus, und ist er gewaltig, so liest er
In das Buch sich hinein, amalgamiert sich das Fremde.
Ganz vergebens strebst du daher, durch Schriften des Menschen
Schon entschiedenen Hang und seine Neigung zu wenden;
Aber bestärken kannst du ihn wohl in seiner Gesinnung
Oder, wär er noch neu, in dieses ihn tauchen und jenes.
Tscha. Aber schön ausgedrückt!
Ich mag Goethes Hexameters wirklich. Diese hier auch, obwohl sie nun nicht unbedingt das beste sind, was Goethe in dieser Versart geschrieben hat. Leicht und plaudernd (wie es sich für eine Epistel natürlich auch gehört ein Stück weit), und fast ganz frei von den griechischen Anklängen, die andere Verfasser so schätzten: Deutsche Hexameter im besten Sinne. Und sauber gebaut allemal. Nur manchmal sind die Verse etwas zu leicht, vor allem in der Mitte; aber na ja… Die schlussendliche Einschätzung etwa umfasst zwei Verse:
Sag‘ ich, wie ich es denke, so scheint durchaus mir, es bildet
Nur das Leben den Mann und wenig bedeuten die Worte.
Trägt im ersten Vers das „wie“ die zweite Betonung oder das „ich“? Metrisch schwer zu entscheiden… Ich bin für das „ich“, weil das erstens inhaltlich besser passt und ich, zweitens, im Zweifel immer für die (Neben-)Zäsur in der metrischen Einheit bin:
Sag‚ ich, wie / ich es / denke, || so / scheint durch- / aus mir, es / bildet
Das hat aber natürlich den Nachteil, dass „ich es“ nun wirklich eine sehr schlappe zweisilbige Einheit ist. Hm. Aber irgendetwas ist ja immer …
Das Königreich von Sede (37)
In den alten Zeiten, wenn es Sommer war, und heiß, und sich seit Tagen kein Lüftchen mehr geregt hatte, die schwitzenden Menschen abzukühlen – wenn dann, ganz plötzlich, ein Wind aufkam, und einige Augenblicke wehte, und schon stand die Luft wieder still; dann hockten sich alle hin, jung wie alt, und sangen:
„Der da stumm singt, der Frosch – springt!“
Und bei „springt!“ machten alle einen Frosch-Sprung, denn der Glaube war, der große Frosch sei über sie hinweggesprungen, und der plötzliche Wind der dabei entstandene Luftzug; und wer bei „springt!“ sprang, ja nicht zu früh, ja nicht zu spät! – dem war das Glück hold das ganze Jahr hindurch.