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Das Königreich von Sede (24)

Des Wassergrabens tiefsten Grund
Bewohnt die Wasserfrau.
Sie singt ein Lied mit stummem Mund,
Das lässt die Wasser kreisen:
Was die auf ihren Reisen
Ums Schloss herum zu jeder Stund‘
Bemerken, alles, und sei’s nur
Des Teichhuhns Kurr;
Verkünden sie der Wasserfrau.

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Das Ein-Vers-Gedicht (4)

Kann man in sich abgeschlossene Verse aus Gedichten herauslösen und danach als Ein-Vers-Gedichte betrachten?! Vielleicht. Auf jeden Fall verlieren die Verse dadurch etwas, den inhaltlichen Zusammenhang mit den anderen Versen des eigentlichen Gedichts; und sie gewinnen dafür die Freiheit, nur aus sich selbst heraus wirken zu können. Es kommt da wohl auf den Versuch an?!

Ein Zwischending ist ein Vers aus Rudolf Borchardts „Klage der Daphne“, einem längeren, in Hexametern geschriebenen Text, der sich im Band „Gedichte“ der bei Klett-Cotta erschienenen gesammelten Werke auf den Seiten 180 bis 185 findet. Die „Klage“ beginnt so:

 

Frühe vor Tag in dem Tau, wo sie kalt lag, fand ich die Grille,
Atmet ihr über den Fühler, da hob sie ihn; gab ihr im Hinfliehn
Hauch meiner ängstigen Brust gedankenlos, ohne das Mitleid.

 

Ab hier trägt Daphne während ihrer Flucht vor Apollon die Grille bei sich, und während ihrer lange Klage über ihr Schicksal redet sie immer wieder, leicht abgewandelt, die Grille an:

 

Grille, du rufst und rufst in dem Busen mir immer; was rufst du!

Grille, du rufst und rufst und rufst noch immer? Was rufst du?

Grille, du rufst und rufst noch immer, was rufst du?

Grille, du rufst nicht mehr, wie du riefst; ich wollte, du riefest.

Grille, du rufst nicht mehr, aber rufe du wieder! Ach rufe!

Grille, du rufst nicht mehr, aber rufe du wieder! Ach rufe.

 

Die einzelnen Fassungen dieser Anrede, zwischen denen immer etwa 20 Verse liegen, unterscheiden sich oft nur durch ein einziges Satzzeichen; und doch ist keine dieser Fassungen in ihrer Versbewegung gleich einer anderen! Meine Lieblingsfassung stelle ich nun an den Schluss dieses Eintrags, das ist dann das „Ein-Vers-Gedicht“, von dem dieser Eintrag der Überschrift nach ja handelt:

 

Grille, du rufst und rufst, und rufst noch immer! Was rufst du?

 

Was geschieht nun mit diesem Vers, wenn er herausgelöst für sich allein steht – ist der Inhalt so noch verständlich? Schwerlich; aber der Inhalt macht für mich auch nicht den Reiz des Verses aus, der liegt in der Art, wie sich die Sprache bewegt; und durch Klang und Bewegung prägt sich der Vers eigentlich sofort ein, ist, so gesehen und gehört: ein Gedicht.

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Erzählverse: Der Hexameter (10)

Schiller verbessert (2)

Im ersten Teil ging es unter anderem um dreisilbige Grundeinheiten, die durch Nebenhebungen drohten, zu „schwer“ zu werden; das Gegenstück dazu sind zweisilbige Grundeinheiten, die durch zu unbedeutende Silben drohen, zu leicht zu werden. Ein Beispiel dafür bietet 1795 dieser Vers des „Spaziergangs“:

 

Von dem Himmel steigen die seligen Götter, und nehmen

 

Gemeint sind natürlich die ersten beiden Silben!

Von dem / Himmel / steigen || die / seligen / Götter, und / nehmen

Durch das „Von dem“ beginnt der Vers schleppend, und danach wird es bis zur Zäsur nicht besser, denn in der ersten Vershälfte decken sich Wort und metrische Einheit, noch dazu folgen drei zweisilbige Einheiten hintereinander. Schiller hat diesen Vers auf beeindruckende Weise verbessert:

Nieder steigen vom Himmel die seligen Götter und nehmen

Nieder / steigen vom / Himmel || die / seligen / Götter und / nehmen

Der schwache Versanfang ist gestärkt, das „vom“ in die Senkung geschoben, die metrischen Einheiten wechseln, und auch dir Zäsur kommt stärker heraus, auch, weil die erste Vershälfte runder ist, abgeschlossener. Plötzlich atmet der Vers, er hat Gestalt gewonnen und es macht Spaß, ihn zu sprechen. Sehr schön!

Ähnlich empfindlich wie der Versanfang reagiert die Zäsur, wenn sie mit so schwachen zweisilbigen Einheiten besetzt wird. So etwa hier:

 

Eine Tigerin, die das eiserne Gitter durchbrochen,

 

Eine / Tigerin, / die || das / eiserne / Gitter durch- / brochen,

Hier muss man die höchst unspannende Einheit „die das“ aufgrund des Einschnittes auch noch besonders herausheben und hinter „die“ eine kleine Pause lesen – möglich, aber keinesfalls nachhaltigen Eindruck hinterlassend!

In der überarbeiteten Fassung ergänzt Schiller eine zumindest halbwegs schwere Silbe, die eine Betonung zu tragen wirklich in der Lage ist, und Pronomen und Artikel, „die“ und „das“ rutschen zusammen dahin, wohin sie gehören – in die unbetonte Senkung:

Einer Tigerin gleich, die das eiserne Gitter durchbrochen

Einer / Tigerin / gleich, || die das / eiserne / Gitter durch- / brochen

Und auch wenn das immer noch kein herausragender Vers ist, so gewinnt er durch die wirkungsvollere Zäsur doch erheblich an Leben und Schwung.

Ein eigentlich tadelloser Vers aus der älteren Fassung:

 

Freiheit heischt die Vernunft, nach Freiheit rufen die Sinne,

 

Freiheit / heischt die Ver- / nunft, || nach / Freiheit / rufen die / Sinne,

Die dreisilbigen Einheiten sind „leicht“, die zweisilbigen „schwer“, die Zäsur ist deutlich, der Vers fließt. Trotzdem entschließt sich Schiller zu einer Umarbeitung!

Freiheit ruft die Vernunft, Freiheit die wilde Begierde,

Sofort fällt auf, dass der Vers wirklicher, sinnlicher geworden ist. Zuerst natürlich durch das „ruft“, das am Versanfang das blassere „heischt“ ersetzt, dann aber auch durch das „wilde Begehren“, das nun statt der „Sinne“ steht. Die beiden Vershälften entsprechen sich aber auch stärker, ohne genau gleich zu sein. Die spannendste Abweichung liegt im zweiten „Freiheit“ verborgen:

Freiheit / ruft die Ver- / nunft, || Frei- / heit die / wilde Be- / gierde,

Schiller zieht die Betonung vom „Frei-„, wo sie ja eigentlich hingehört, auf das „-heit“! Das nun auch wirklich so zu lesen, klänge aber arg befremdlich, und so bleibt eigentlich nichts, als die drei Silben „-nunft“, „Frei-„, „-heit“ alle gleich schwer und betont zu lesen. Dieser Trick ist den Hexametristen schon immer bekannt gewesen, aber nur wenige haben ihn so durchschlagend verwendet wie Schiller hier. Dadurch, dass dieser metrische Kniff so wunderbar zum Inhalt passt, hat Schiller aus einem guten Vers einen aufregenden gemacht. Und das ist allemal eine Leistung …

Zum Ende hin, ganz ohne Zergliederung, noch ein vollständiges Distichon Schillers aus dem „Spaziergang“, das zeigt, dass auch sehr berühmte und uns wirklich vertraute Verse ursprünglich eine andere Gestalt hatten.

 

Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest
Uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.

 

Wer kennte das nicht? Aber auch hier lautete der Hexameter zuerst anders:

Wanderer, kommst du nach Sparta, gib Kunde dorten, du habest

Über Wert oder Unwert der Änderung bitte ich, selbsttätig zu entscheiden!

Ich schließe endgültig – da sich der Pentameter ja nun schon eingeschlichen hat in diesen Beitrag – mit dem auch nicht ganz unberühmten Schlussvers des „Spaziergangs“, der mir immer einen seltsamen Trost gibt:

 

Und die Sonne Homers, siehe! sie lächelt auch uns.

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Erzählverse: Der iambische Trimeter (7)

Die Liedertagebücher Friedrich Rückerts sind, wie der Name vermuten lässt, eine Art Tagebuch in Versen. Die dort versammelten Gedichte sind oft schlicht, oft versponnen; oft sind aber auch wirklich schöne Sachen darunter. Für mich zählt dazu der folgende Text aus dem Liedertagebuch 1847, der zum einen herrlich trocken daherkommt, so gar nicht lyrisch, so gar nicht bemüht; und der zum anderen die Frage nahelegt, wie diese Dinge denn 170 Jahre später aussehen …

 

Amerikaner fragen nicht: wer ist der Mann?
Denn Standesunterschiede gelten ihnen nichts.
Sie fragen auf gut englisch: was ist wert der Mann?
Das heißt auf schlecht deutsch: wie viel hat er Geld im Sack?
Wenn nun ein Schurk‘ im Sack zehntausend Dollar hat,
So ist er ein zehntausenddollarwerter Mann,
Und Ehrlichkeit, die nichts im Sack hat, ist nichts wert.
Ich bin zehntausend Dollar wert, sagt mancher, der
Des Galgens Strick nicht wert ist. Ihre Sprache sagt’s:
Der Dollar nur hat Wert, der Mensch ist ohne Wert.

 

„zehntausenddollarwerter“ – da ist dann eine Zäsur, wie sie ein solcher Langvers braucht, nicht wirklich möglich. Sonst achtet Rückert aber, bei aller scheinbaren Unbekümmertheit, recht genau auf die Erfordernisse eines Langverses, wie es der Trimeter ist?!

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Ohne Titel

v v — —, v v — —
— v v —, v v — —
v v — — —

Wenn die Nacht geht und der Tag kommt,
Licht sich verströmt und die Welt weckt,
Und die Wortmacht weckt:

Ist der Mensch still und das Tier schweigt.
Stumm ist der Frosch, als des Worts Macht
Ihm ins Maul einfährt,

Und den Wohllaut ihm ins Hirn gießt.
Frosch wird das Wort, und der Frosch Wort,
Und sein Ruf hallt: Quak!

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Erzählverse: Der Blankvers (18)

Bertolt Brechts „Kalifornischer Herbst“ ist kein reiner Blankvers-Text, aber vielleicht gerade dadurch geeignet, das eigene „Blankvers-Gehör“ zu überprüfen! Entnommen habe ich ihn den 1981 bei Suhrkamp erschienenen “ Gedichten in einem Band“, wo er auf den Seiten 935 und 936 zu finden ist:

 

Kalifornischer Herbst

I

In meinem Garten
Gibt es nur immergrüne Pflanzen. Will ich Herbst sehn
Fahr ich zu meines Freundes Landhaus in den Hügeln. Dort
Kann ich für fünf Minuten stehn und einen Baum sehn
Beraubt des Laubs, und Laub, beraubt des Stamms.

II

Ich sah ein großes Laubblatt, das der Wind
Die Straße lang trieb, und ich dachte: Schwierig
Den künftigen Weg des Blattes auszurechnen!

 

Die ersten vier Verse lassen sicher keinen „Blankvers-Eindruck“ aufkommen: Ein Kurzvers, ein sechshebiger Vers, dann sogar ein Siebenheber, und noch ein Sechsheber, die Langverse dabei recht schwach unterteilt, eher eine Wortmasse als ein gestalteter Vers. Dann aber ändert sich der Eindruck schlagartig: Der fünfte Vers ist ein Blankvers, in sich stark unterteilt durch die inhaltliche Entgegensetzung; und dann folgen im zweiten Teil(-Gedicht?!) drei reine Blankverse, mit keiner Abweichung als der einen doppelt besetzten Senkung („künftigen“) im Schlussvers! Da stellt sich  gleich ein Wiedererkennen ein, das Gehör schwingt ein in die Blankvers-Bewegung; aber da ist der Text auch schon zu Ende. Eine eigenartige Erfahrung!

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Das Königreich von Sede (23)

Der Säugling

Pulverfass, des Königs Seher,
Schwankt im Licht des frühen Morgens
Heim zum Schloss; vom Tintenfässchen
Kommend schwankt er auf die Brücke,
Hin zum Tor, das gerade eben
Aufgetan wird von den Wachen –
Als in Backhaus, Stall und Stube
Erste Hände tätig werden,
Türen schlagen, hin zum Brunnen
Müden Schritts die Mägde gehen,
Kehrt zum Schlosse heim der Seher,
In der Dämmrung, da am Boden
Nebelschwaden grau verwirbeln,
Und erkennt als Grund des Wirbelns:
Frösche, ungezählte Frösche,
Dichtgedrängt, ununterscheidbar,
Einer Bettstatt, einem Kissen
Gleich, das auf und nieder wogend
Durch das Schlosstor, durch den Nebel
Wandert; und darauf ein Säugling!
Und darauf Prinz Klappstuhl, lächelnd,
Selig lächelnd ob der Frösche
Treiben; doch nun hochgehoben.
Ernst blickt Pulverfass, der Seher,
Auf das Kind in seinen Armen,
Sieht den Fröschen nach, die eben
Sich im Nebelgrau verlieren,
Flüstert: „Nur Geduld, ihr Guten,
Nur Geduld; der Tag wird kommen“,
Bringt zurück ins Bett den Prinzen,
Unbemerkt; und legt sich schlafen.

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Wortlisten (1)

Kehrwisch, Waschtipp, Spielhahn, Mondnacht, Schalksknecht, Milchbart, Eichwald, Wahrspruch, wortscharf, Fasttag, Tagwerk, Felswand, Liedlohn, Kleinmut, Unschuld, Machtkampf, Mondgeist, Weltkraft, Taufgruß, Kriegsrock, Bluthund, Wortsinn, Mutwill, Harzduft, Unzeit, Erbgut, Herrgott, Türspalt, Wahrspruch, Luftzug, pechschwarz, Wortschatz, Stelzfuß, Wurfspieß, Freihof, Nachthirt, Bittgang, Brautknecht, Sündflut, Brautmus, Spielmann, Dorfkind, Haushalt, Türbank, Maibaum, Altherr, Stadttor, Merkbuch, Urbrei, Nilschlamm, unsanft, Heervolk, Bratspieß, Raufbold, Spulwurm, Tischtuch, Schraubstock, Windpferd, Schreibrausch