Das Königreich von Sede (21)

Alle meine Entchen

Schemel steht am Graben,
Schemel ist gerührt:
Denn die Frösche haben
Sich in ihm geirrt,

Haben sich entschuldigt
Bei dem alten Mann,
Haben ihm gehuldigt:
Weil er singen kann.

Nicht wie Frösche singen,
Die ihr Quak! Quak! Quak!
Rau zum Vortrag bringen
Jeden Sommertag –

Nein! Der Menschen Lieder
Klingen voll Gefühl
Einmal und nie wieder
Hin ins Froschgewühl,

Künden jetzt von Enten;
Und den Fröschen ist
So, als ob sie’s kennten –
Jeder Frosch vermisst

Seiner Jugend Jahre;
Hört von einem See,
Spürt das wunderbare,
Halb vergess’ne Weh …

Schemel lässt es enden,
Schwänzchen himmelwärts!
Spürt ein Froschbefremden,
Lächelt, und erklärt’s.

Scheidet dann vom Graben,
Geht zum Schlosse hin,
Doch die Frösche haben
Noch sein Lied im Sinn:

Ihrer Jugend Lieder
Klingen Quak! Quak! Quak!
Jetzt, seit langem wieder!
Durch den Sommertag.

Erzählverse: Der Hexameter (6)

Goethe verbessert

Goethe hat ein Weilchen gebraucht, bis er den Hexameter wirklich beherrschte. 1785 wurde er durch Herders Übersetzungen aus der „Anthologia Graeca“ dazu angeregt, in recht enger Anlehnung an die griechischen Vorbilder selbst einige Epigramme zu schreiben. 1799 hat er diese Epigramme dann anlässlich einer erneuten Herausgabe überarbeitet. An Schiller schrieb er:

Die Epigramme sind, was das Silbenmaß betrifft, am liederlichsten gearbeitet und lassen sich glücklicherweise am leichtesten verbessern, wobei oft Ausdruck und Sinn mit gewinnt.

Wie derlei Verbesserungen des Versbaus, die gleichzeitig auch „Ausdruck und Sinn“ auf die Beine zu helfen vermögen, aussahen, zeigt „Dem Ackermann“:

 

Dem Ackersmann (1785)

Eine flache Furche bedeckt den goldenen Samen,
Eine tiefere deckt endlich dein ruhend Gebein.
Pflüge fröhlich und säe, hier keimet Nahrung dem Leben
Und die Hoffnung entfernt selbst von dem Grabe sich nicht.

Dem Ackermann (1799)

Flach bedecket und leicht den goldenen Samen die Furche,
Guter! die tiefere deckt endlich dein ruhend Gebein.
Fröhlich gepflügt und gesät! Hier keimet lebendige Nahrung,
Und die Hoffnung entfernt selbst von dem Grabe sich nicht.

 

Immer sind die Verse metrisch nicht zu beanstanden, und trotzdem gefallen mir die beiden Hexameter dieser Distichen in der jüngeren Fassung wesentlich besser. Der erste Vers hat für mich 1785 einige Probleme, begonnen bei der Zäsur.

Die ist nämlich nicht sonderlich deutlich – lautet die erste Vershälfte nun „Eine flache Furche“ oder „Eine flache Furche bedeckt“?! Ich würde die zweite Möglichkeit lesen, denn bei „Eine flache Furche“ fallen Wortgrenzen und die Grenzen der metrischen Einheiten direkt aufeinander:

Eine / flache / Furche

Dadurch verliert dieser Versteil an Spannung. 1799 hat Goethe diese Schwäche beseitigt, denn in der ersten Vershälfte schneiden sich nun die Wort- / Sinneinheiten und die metrischen Einheiten:

Flach be- / decket und / leicht

Die Zäsur ist nun sehr deutlich. Dadurch, dass Goethe von einer weiblichen Zäsur (nach einer unbetonten Silbe) bzw., je nach Lesung, von einer Zäsur in der vierten Einheit auf die männliche Zäsur (nach einer betonten Silbe) in der dritten Einheit wechselt, gleicht er den Hexameter dem folgenden Pentameter an, wodurch das erste Verspaar an Geschlossenheit gewinnt.

Auch andere Schwächen sind verschwunden! 1785 liegt die erste Hebung auf einem sehr blassen Wort, dem Artikel „Einem“. Statt des Artikels steht 1799 ein weiteres „Sinn-Wort“ in der Hebungsposition („leicht“), das inhaltlich wichtige „Flach“ eröffnet den Vers; durch das „Flach“ und das „leicht“ entsteht eine Klammer, die die erste Vershälfte heraushebt und „rund macht“.

Alt: Die beiden „ch“ von Flach und Furche folgen direkt aufeinander, was nicht so toll klingt, und der „F“-Gleichklang hat auch keinen wirklichen Grund. Neu: Der Vers beginnt mit „Flach“ und endet mit „Furche“ – nun sind diese entscheidenden Wörter so eingesetzt, dass sie durch ihre Stellung am Anfang und am Ende des Verses auch den Gesamtvers zu einer Einheit machen.

Der zweite Hexameter wird ganz ähnlich verbessert. In der jüngeren Fassung ist die erste Hälfte bis zur Zäsur wieder lebendiger durch die höhere Anzahl an Schnitten zwischen „Wort und Metrum“:

1785: Pflüge / fröhlich und / e,

1799: Fröhlich ge- / pflügt und ge- / sät!

Die erste Vershälfte ist runder, körperlicher, klarer; die neue, männliche Zäsur leistet auch hier die Angleichung an den folgenden Pentameter. Außerdem bezieht sich das „Fröhlich“ nun eindeutig aufs Pflügen und Säen, was ja ein Vorteil ist.

Das ist nun allerdings meine Meinung. Andere denken da anders – Viktor Hehn etwa war mit dieser Änderung gar nicht einverstanden:

An anderen Stellen aber hat die Sorge für das Metrum die Anmut der sprachlichen Form ins Steife und Gesuchte verkehrt, z.B. wenn es in dem Epigramme „Dem Ackermann“ statt des früheren „Pflüge fröhlich und säe“ jetzt heißt: „Fröhlich gepfügt und gesät!“

Da ist wohl die Frage, wie man sich zu dem „imperativisch gebrauchten passiven Partizip“ stellt. Hehn empfand es als Goethe fremd und mehr zu den härteren Versen eines Johann Heinrich Voss gehörig:

Dies war eine Lieblingswendung des groben Vossischen Stiles, die sich für den Kutscher (Vorgesehen!) oder den Fronvogt (Nicht lange gefeiert!) oder den Schulmeister unter seinen Jungen (das Maul gehalten!) schicken mag, aber mitten in der Grazie der Goethe’schen Rede wie ein fremder Zusatz auffällt.

„Das Maul gehalten!“ Hm.  Ich sehe schon, worauf Hehn hinaus will, aber da folge ich ihm nicht – ich finde, der Vers hat gewonnen, ohne verleugnen zu müssen, von Goethe zu sein.

Auch den Versschluss hat Goethe verbessert: Dadurch, dass die „Nahrung“ ans Ende rückt, kann eine Schlusssilbe mit tonlosem „e“, wie sie die ältere Fassung mit „Leben“ noch hatte, vermieden werden, und der Vers schwingt mehr aus, als dass er abgewürgt wird.

Wie Viktor Hehn schon deutlich machte, muss man dies alles nicht so sehen. Einer aber, dessen Urteil schwer wiegt, zeigte sich zufrieden mit Goethes Ansinnen. Schiller nämlich schrieb in seiner Antwort auf den oben angeführten Brief Goethes:

Zu den prosodischen Verbesserungen in den Gedichten gratuliere ich.

Und dann fährt er fort mit einem seiner Ausblicke aufs Große und Ganze…

Es hat mit der Reinheit des Silbenmaßes die eigene Bewandnis, dass sie zu einer sinnlichen Darstellung der inneren Notwendigkeit des Gedankens dient, da im Gegenteil eine Lizenz gegen das Silbenmaß eine gewisse Willkürlichkeit fühlbar macht. Aus diesem Gesichtspunkt ist sie ein großes Moment und berührt sich mit den innersten Kunstgesetzen.

Wie immer bei Schiller muss man das nicht glauben; aber darüber nachzudenken lohnt sich allemal.

Bücher zum Vers (11)

Friedhelm Kemp: Das europäische Sonett. (Zwei Bände)

Diese beiden Bücher sind für alle, die sich ernsthaft mit dem Sonett beschäftigen, ein absolutes Muss. Aber auch für die mit mildem Interesse am Sonett lohnt sich die Beschäftigung mit „Das europäische Sonett“, weil das Sonett bis auf einige „Trockenzeiten“ immer in der europäischen Literatur gegenwärtig war und sich über die Kapitel hinweg so auch eine Art europäische Literaturgeschichte entfaltet.

Offiziell läuft das Werk unter der Flagge der „Münchner Universitätsschriften“, aber das Kemp keinen wissenschaftlichen Ton pflegt, wird schon in seiner Einleitung klar, wo es etwa heißt:

Wir müssen dem Gedicht nicht nur einen Mund, wir müssen ihm Augen einsetzen, von denen wir uns angeblickt fühlen. Nun, das ist eine Metapher, eine gefällig unverbindliche, wird man mir entgegenhalten. Aber man versuche einmal, gleichsam als magischen Akt, sich einem Gedicht wie einem Gesicht auszusetzen. Man vergesse, verjage das sogenannte „lyrische Ich“: setze das Gedicht vor sich auf einen Stuhl – einen Thron oder einen Schemel, gleichviel – sich gegenüber als Freund, als Bruder, als Geliebte; über sich als einen Richter; setze sich ihm aus, präge es sich ein, Wort für Wort, Satz für Satz, Bild für Bild, als dürfe man es nicht vergessen, als gäbe es jetzt – und immer wieder – nur dieses eine Gedicht einem gegenüber und auch schon in einem, als etwas Schönes, etwas Forderndes, etwas, das einen angeht, heute, morgen und immer wieder.

Langweilig zu lesen ist Kemps Werk also schon einmal nicht. In den einzelnen Kapiteln stellt er dann verschiedenste Sonettisten und ihre Gedichte vor, grob an der Zeitlinie ausgerichtet. Ziemlich am Anfang steht dabei Dante Alighieri. Kemp:

Die erste entscheidende und bis zu uns hin lebendige Gestalt in der Geschichte des Sonetts ist Dante Alighieri, der 1265 in Florenz geboren wurde und 1321 als Exilant in Ravenna starb. Seine „Vita Nova“, die in ihrer Endfassung als ein Werk des Achtunszwanzigjährigen um 1293 entstanden sein dürfte, dieses „Neue Leben“ präsentiert sich uns als erste durchkomponierte Sammlung von Sonetten und als eine quasi autobiographische Novelle. Das hat nicht zu unterschätzende Folgen bis in unsere Zeit gehabt.

Trockener und informationslastiger wird der Text aber nie. Auf den 28 Seiten des Dante-Kapitels werden stattdessen Sonette Dantes ausgebreitet samt verschiedener Übersetzungen und Kommentare, sowohl von Kemp als auch von früheren Schreibern. Ich denke, ich hänge noch eines dieser Sonette an. Wieder Kemp:

Im 25. Kapitel [der „Vita Nova“] schildert Dante, wie Beatrice [Dantes „Herrin“] ihm in Begleitung einer anderen Dame, der Herrin eines seiner Freunde, und noch des öfteren auf der Straße begegnet. „Jene holdseligste Frau schritt einher, bekränzt und gekleidet mit Demut. Und es sagten ihrer viele, wenn sie vorübergegangen war: ‚Dies ist kein Weib, sondern der schönsten Engel einer des Himmels.‘ Und andere sagten: ‚Diese ist ein Wunderwerk. Gepriesen sei der Herr, der solche Wunder zu wirken weiß!‘ Solche wundersame Macht ging von ihr aus, dass ich den Griffel wieder aufnahm, dieses Sonett zu machen zu ihrem Preise, welches anhebt Tanto gentil e tanto onesta pare …“

Dann folgt erst der Original-Text von Dante …

 

Tanto gentil e tanto onesta pare
la donna mia quand’ella altrui saluta,
ch’ogne lingua deven tremando muta,
e li occhi no l’ardiscon di guardare.

Ella si va, sentendosi laudare,
benignamente d’umilta‘ vestuta;
e par che sia una cosa venuta
da cielo in terra a miracol mostrare.

Mostrasi si‘ piacente a chi la mira,
che da‘ per li occhi una dolcezza al core,
che ’ntender non la puo‘ chi no la prova;

e par che de la sua labbia si mova
uno spirito soave pien d’amore,
che va dicendo a l’anima: Sospira.

 

… und dann die wunderbare deutsche Übersetzung, die Hugo Friedrich in seinen „Epochen der italienischen Lyrik“ vorstellt (auch ein sehr empfehlenswertes Buch!):

 

So edel und so heilig rein erscheint
Die Herrin mein all denen, die sie grüßt,
Dass jede Zunge zittert und verstummt
Und sich kein Aug‘ auf sie zu richten wagt.

Sie geht vorüber, hört sich ringsum rühmen
Und ist in Demut eingehüllt und Güte.
Ein Wesen scheint sie, das vom Himmel kam,
damit auf Erden sie ein Wunder weise.

Sie weist so lieblich sich dem Schauenden,
Dass Süße durch sein Aug‘ ins Herze dringt,
Die, wer sie nie erfuhr, auch nie begreift.

Und’s ist, als ob von ihrer Lippe her
Ein Hauch sich regte, leise, reich an Liebe,
Und zu der Seele spräche: Sehne dich.

 

Im Besonderen das letzte Terzett ist einfach herrlich. Hier lässt sich Kemp dann noch über Querbezüge zu anderen Gedichten aus oder über die Beziehung von „Spirito“ und „Sospira“, aber dazu schweige ich jetzt mal; ich denke, ein Eindruck sollte da sein.

Wer sich nun für dieses Buch interessiert – „googlebooks“ hat es ins Netz geholt, zum großen Teil wenigstens; wer mag, kann also schon mal ein wenig probelesen. Erschienen sind die beiden schön gemachten Bände Kemps im Jahre 2002 im Wallstein Verlag!

Pandora

Es ist dunkel. Man hört eine Wohnung und vorsichtige Schritte.

Des echten Mannes wahre Feier ist die Tat!

Und Tat ist alles, selbst in tiefer Nacht der Gang
Zum Kühlschrank hin, um nach dem vielen Grübeln Trost
In einem Käsebrot zu finden. Denn der Sinn
Des Lebens, schwer ist er zu fassen! Mir ist nur …

Die Kühlschranktür wird geöffnet. Aus dem Inneren fällt Licht auf einen
Mann in den Vierzigern, der in den Kühlschrank schaut.

Bestimmt, Erleuchtetes zu sehen, nicht das Licht!

 

 

(„Des echten …“, „Bestimmt, …“: Diese beiden Verse habe ich mir aus Goethes „Pandora“ geliehen.)

Erzählverse: Der Hexameter (5)

Familie Goethe und Klopstock

Ob Rockmusik, ob Hexameter – immer sind es die Jungen, die das Neue begierig und begeistert aufnehmen, und die Alten, die daran herumnörgeln. Bestes Beispiel: Familie Goethe!

Mit den Hexametern von Klopstocks „Messias“ war Johann Wolfgang Goethe schon von kleinauf vertraut. Dass das allerdings nicht ohne Schwierigkeiten und Aufregungen vonstatten ging, berichtet Goethe selbst in „Dichtung und Wahrheit“:

„Eine verdrießliche Epoche im Gegenteil eröffnete sich für meinen Vater, als durch Klopstocks ‘Messias‘ Verse, die ihm keine Verse schienen, ein Gegenstand der öffentlichen Bewunderung wurden. Er selbst hatte sich wohl gehütet, dieses Werk anzuschaffen; aber unser Hausfreund, Rat Schneider, schwärzte es ein und steckte es der Mutter und den Kindern zu.

Die Mutter hielt es heimlich, und wir Geschwister bemächtigten uns desselben, wann wir konnten, um in Freistunden, in irgend einem Winkel verborgen, die auffallendsten Stellen auswendig zu lernen, und besonders die zartesten und heftigsten so geschwind als möglich ins Gedächtnis zu fassen.

Portias Traum rezitierten wir um die Wette, und in das wilde verzweifelnde Gespräch zwischen Satan und Adramelech, welche ins Rote Meer gestürzt worden, hatten wir uns geteilt. Die erste Rolle, als die gewaltsamste, war auf mein Teil gekommen, die andere, um ein wenig kläglicher, übernahm meine Schwester. Die wechselseitigen, zwar gräßlichen aber doch wohlklingenden Verwünschungen flossen nur so vom Munde, und wir ergriffen jede Gelegenheit, uns mit diesen höllischen Redensarten zu begrüßen.

Es war ein Samstagsabend im Winter – der Vater ließ sich immer bei Licht rasieren, um Sonntags früh sich zur Kirche bequemlich anziehen zu können – wir saßen auf einem Schemel hinter dem Ofen und murmelten, während der Barbier einseifte, unsere herkömmlichen Flüche ziemlich leise. Nun so hatte aber Adramelech den Satan mit eisernen Händen zu fassen; meine Schwester packte mich gewaltig an, und rezitierte, zwar leise genug, aber doch mit steigender Leidenschaft:

Hilf mir! ich flehe dich an, ich bete, wenn du es forderst,
Ungeheuer, dich an! Verworfner, schwarzer Verbrecher,
Hilf mir! ich leide die Pein des rächenden ewigen Todes!
Vormals konnt‘ ich mit heißem, mit grimmigem Hasse dich hassen!
Jetzt vermag ich’s nicht mehr! Auch dies ist stechender Jammer!

Bisher war alles leidlich gegangen; aber laut, mit fürchterlicher Stimme rief sie die folgenden Worte:

O wie bin ich zermalmt!

Der gute Chirurgus erschrak und goss dem Vater das Seifenbecken in die Brust. Da gab es einen großen Aufstand, und eine strenge Untersuchung ward gehalten, besonders in Betracht des Unglücks, das hätte entstehen können, wenn man schon im Rasieren begriffen gewesen wäre. Um allen Verdacht des Mutwillens von uns abzulehnen, bekannten wir uns zu unsern teuflischen Rollen, und das Unglück, das die Hexameter angerichtet hatten, war zu offenbar, als dass man sie nicht aufs neue hätte verrufen und verbannen sollen.“

Ja ja, so geht das … Aber angeschafft hat Goethes Vater den „Messias“ dann irgendwann doch, und auch Klopstock weilte zweimal als Gast in seinem Haus.

Erzählverse: Der Hexameter (4)

Friedrich Gottlieb Klopstocks „Messias“

Eine Reise zum Beginn des deutschen Hexameters also, denn vor Klopstock gab es eigentlich nur einige wenige zu Vorführungszwecken geschriebene Verse dieser Art. Dann aber geschah etwas wirklich Erstaunliches: Ein gerade mal Zwanzigjähriger fasst den Plan, ein riesiges Epos zu schreiben, und das in einem Vers, den zuvor niemand benutzt hat. Und er schreibt Tausende davon, und das Epos erscheint, und die literarische Welt ist verblüfft, hingerissen, angeekelt, auf jeden Fall bewegt; und danach ist nichts mehr in der deutschen Dichtersprache, wie es vorher war.

 

Sing, unsterbliche Seele, der sündigen Menschen Erlösung

 

So lautet der erste Vers. Wer ermessen möchte, was Klopstock geleistet hat, kann ja mal Gedichte aus den 1730er Jahren vergleichen mit solchen von 1770; die Unterschiede sind einfach gewaltig, und angeschoben hat sie Klopstock.

Nach Klopstocks Tod lässt Johann Gottfried Herder Klopstock selbst in einem Nachruf sagen:

Was kümmerts mich, wofür ihr meinen Messias haltet? Was er wirken sollte, hat er gewirkt und wird es wirken; nächst Luthers Bibelübersetzung bleibt er euch das erste klassische Buch eurer Sprache.

Und da übertreibt Herder keineswegs … Was Klopstock aber nicht vor dem unschönen Schicksal bewahrte, schon zu Lebzeiten als veraltet in Vergessenheit zu geraten: Die von ihm angestoßenen Veränderungen hatten sich schnell verselbstständigt, und heute ist der „Messias“ eigentlich unlesbar. Ich füge aber trotzdem ein paar Verse an aus der Erstausgabe von 1748, einfach weil ich mal die Einschätzung eines Fachmann dazu vorstellen möchte, der Klopstocks Hexameter an diesem Beispiel beschreibt. Aus dem ersten Gesang:

 

Unterdes war der Seraph zur äußersten Grenze des Himmels
Aufwärts gestiegen. Hier füllen nur Sonnen den heiligen Umkreis.
Hell, gleich einem vom Lichte gewebten ätherischen Vorhang
Zieht sich ihr Glanz um den Himmel herum. Kein dunkler Planete
Naht sich des Himmels verderbendem Blick. Entfliehend und ferne
Geht die bewölkte Natur vorüber; die Erden fliehn mit ihr
Klein und unmerkbar dahin, wie unter dem Fuße des Wandrers
Niedriger Staub, von Gewürmen bewohnt, aufwallet und hinsinkt.

 

Friedrich Georg Jünger schreibt dazu in „Rhythmus und Sprache im deutschen Gedicht“ (1987 bei Klett-Cotta erschienen und ein empfehlenswertes Bändchen!) auf Seite 122:

Dieses Stück ist für die ersten Gesänge des Messias bezeichnend, wo der Hexameter eine jugendliche, leichtere Bewegung hat als in den späteren Gesängen. Wir merken den eilenden, daktylischen Gang des Hexameters, der die Trochäen nur mitnimmt. Die Bewegung ist derart, dass sie die ruhenden Eindrücke auflöst, den plastischen Satz entkörpert und gleichsam im Fliehen Licht streut. Satzende und Versende meiden sich. Die Vokalität ist leicht, der Vers hat keinen starken Umriss. Zwei der Verse sind ohne Zäsuren, wie das bei Klopstock häufiger vorkommt. Obwohl der schlechte Trochäus im letzten Vers in die Zäsur fällt, behält der Vers, als Nachahmung einer Bewegung, einen gewissen Reiz. Der Begriff des Erhabenen, den wir durch solche Verse erhalten, ist ein unendlicher, ewiger; er entstammt nicht der Anschauung von Körpern, sondern dem Gefühl für zeitlose, unermessliche Räume.

So wortgewaltig kann man also über metrische Fragen schreiben … Na ja, jeder möge das mit seinem eigenen Eindruck vergleichen; ich merke nur noch an, dass der letzte Vers für mich mehr als einen „gewissen Reiz“ hat:

Niedriger / Staub, von Ge- / würmen be- / wohnt, || auf- / wallet und / hinsinkt.

Eigentlich hat Klopstock mit dem „-wohnt auf-“ eine antike rhythmische Einheit nachgebildet, den „Spondeus“; sprich, die beiden Silben der Einheit sind nicht „betont, unbetont“, sondern eher „betont, betont“, wodurch man hier drei schwere Silben nacheinander spricht, was einfach wunderbar zum Inhalt passt. Bitte selbst versuchen! Dann kommt gleich noch mal etwas ähnliches mit dem „hinsinkt“, und der Vers hat dadurch unglaublich viel Kraft und Leben; jedenfalls in meinen Ohren.

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (13)

In Wilhelm Waiblingers „Kalonasore“ findet sich ein Abschnitt, in dem erzählt wird; und sonst nichts. Die bisherigen Textbeispiele enthielten ja auch immer Erklärung oder Betrachtung, bei Waiblinger aber ist alles sehr schlicht gezeichnet – hier die Guten, da die Bösen – und ansonsten alles rasend schnelle Handlung. „Hatagan“ meint ein Messer!?

 

Nah am Ufer trieb ein Schiffchen,
Eine junge, schöne Griechin,
An die Brust zwei Kinder drückend,
Rang im Wollustarm der Türken
Hilfe schreiend ihre Hände.
Und die Ungeheuer rissen
Ihr mit frevelndem Beginnen
Die Gewänder von dem Busen.
„Folgt mir!“ rief ich den Gefährten,
Stürzte mich ins Wasser, sprang
Mit des Degens Schwung mich sichernd,
In den Kahn, die Brüder folgten.
Wütend schwang der junge Finne
Seinen Hatagan, der brave
Capitano fiel von einem
Säbelhieb hinab ins Wasser.
Zwei der Muselmannen sanken
Unserm Hieb ins Meer, da schwang
Einer den gewaltgen Säbel,
Hieb des Säuglings Haupt entzwei,
Dass ein blutend Stück der Mutter
In die Arme sank, das andre
Riss er lachend ihr vom Herzen,
Rasend fasst ich seine Gurgel,
Warf den Bluthund auf die Bretter,
Riss der Philhellenen Einem
Die Pistole vom Gehänge.
Und die Kugel fuhr dem Mörder
Schmetternd ins Gehirn; das Kleine
Zog ich rasch aus seinen Armen,
Warfs der Mutter an die Brust,
Schlang den Arm um ihre Hüften,
Hob sie mächtig in die Höhe,
Sprang mit ihr hinab ins Wasser.
Gott! wie sie bewusstlos, zitternd
Nur ihr Kleines an sich fasste,
Und die kalten bleichen Wangen
In dern Schauern des Gewässers
Auf die offne Brust mir legte,
Und die braunen Seidenlocken,
Aufgelöst in lange Wellen,
Mir Gesicht und Schulter nässten!
Die Gefährten schlugen tapfer
Mit dem Feind sich auf dem Schiffchen,
Schwammen siegreich an das Ufer,
Einer seines Arm beraubt.

 

Dass hier und da die Vorstellung des Lesers hinter seinen Bildern zurückbleibt, scheint Waiblinger nicht zu kümmern. Gleich zu Beginn stellt sich ja die Frage, wie die Griechin es schafft, gleichzeitig zwei Kinder an die Brust zu drücken und die Hände zu ringen?! Der Vers passt sich der Geschwindigkeit des Erzählens an: Nur sehr wenige Verse enden betont (dafür aber, seltsamerweise, dann einmal mit Reim: „sprang | schwang“), Zeilensprünge sind häufig und nehmen dann fast gar keine Rücksicht auf die Verseinheit:

Wütend schwang der junge Finne
Seinen Hatagan, der brave
Capitano fiel von einem
Säbelhieb hinab ins Wasser.

Noch nicht einmal die Zeit für einen Punkt nimmt sich Waiblinger an Stellen, wo einer stehen müsste:

Riss er lachend ihr vom Herzen,
Rasend fasst ich seine Gurgel,

Trotzdem sind die Verse Vierheber im Wortsinn, vieles von dem, was für sie üblich ist, findet sich hier auch, etwa die Reihung von gleichem, der Satzhandlung am Versbeginn zum Beispiel:

Zog ich rasch aus seinen Armen,
Warfs der Mutter an die Brust,
Schlang den Arm um ihre Hüften,
Hob sie mächtig in die Höhe,
Sprang mit ihr hinab ins Wasser.

Das „zog“ ist noch Teil des Satzes aus dem Vorvers, aber dann: viermal die Einheit von Vers und Handlung, nach dem gleichen Bauplan! Auch das erzeugt „Erzähl-Geschwindigkeit“?!