Go: Der Post Mortem Monolog

Der Spieler, der heut nicht gewann,
zeigt aufs Brett und hebt dann an:

„Meine Gruppe, zugegeben,
war nur scheinbar schon am Leben.“

Der Spieler, der heut Zweiter war,
hebt die Hand und macht dies klar:

„Der Augenraum, ich seh es ein,
erwies sich schließlich als zu klein.

Das Verbinden, nicht zu fassen,
musst ich leider unterlassen.

Die Freiheit, es ist kaum zu glauben,
konnt er mir mit Vorhand rauben.“

Der Spieler, der heut bös verlor,
haut aufs Brett und hebt hervor:

„Dies erweist, ganz ohne Frage,
Pech als Grund der Niederlage!“

Bücher zum Vers (18)

Volker Klotz: Verskunst. Was ist, was kann ein lyrisches Gedicht?

Noch recht neu (erschienen 2011 bei Aisthesis), 300 Seiten dick und, wie ich finde, recht empfehlenswert. Klotz geht sehr in die Einzelheiten, allerdings ohne dabei den Überblick zu verlieren, und so wird das Buch nie langweilig. Es gibt drei Teile: „Lyrik im Allgemeinen“, „Lyrik im Besonderen“, „Ineins: Singen und motorisches Tun“. Heißt: zuerst eine Art Einführung und Begriffsbestimmung, dann die Untersuchung einzelner Texte (von Fleming, Weckherlin, Zesen, Klopstock, Brentano, Mörike, Platen, Rilke und Brecht), und schließlich eine Betrachtung von Trinkliedern(!). Mir hat’s gefallen!

Erzählverse: Der Hexameter (24)

Warum Heine keine Hexameter geschrieben hat

weiß Maximilian Heine in seinen Erinnerungen an den älteren Bruder zu berichten:

Mein Bruder Heinrich war mehrmals gegenwärtig, wenn ich, als Primaner des Gymnasiums, meine prosodischen Arbeiten anfertigte. Ich hatte damals eine große Vorliebe für das klassische Metrum und durch vieles Übersetzen und tägliche Übung eine außerordentliche Leichtigkeit in Anfertigung von deutschen Distichen erlangt. Obgleich Heinrich die Alten besonders hochschätzte und bereits damals durch seine Gedichte einen großen Namen als Poet erworben hatte, so hatte er sich doch im deutschen Hexameter bisher nie versucht. Wir sprachen viel über diesen Gegenstand. Ich zitierte Goethes herrliche Elegien und forderte meinen Bruder auf, auch einmal in diesem Versmaße einen Gegenstand poetisch zu bearbeiten. Ich wiederholte mehrmals Goethes reizenden Vers, wo er auf den Nacken der Geliebten „mit fühlendem Auge und sehender Hand“ des Hexameters Maß skandiert hat.

Endlich ging Heinrich an die Arbeit, und als ich an einem der nächsten Vormittage in sein Zimmer trat, kam er mir mit einem Blatt entgegen, freudig ausrufend: „Siehst Du, auch ich bin unter die Hexameter gegangen.“ Er rezitirte mir einige Zeilen eines Gedichtes: „Trost für Dito“, wobei ich aber schon beim dritten Hexameter (keine kleine Satisfaktion für einen Primaner) dem bereits berühmten Dichter in die Rede fiel: „Um Gottes Willen, lieber Bruder, dieser Hexameter hat ja nur fünf Füße.“ Und nun skandierte ich ihm mit wichtigster Schulweisheit den Vers vor. Als er sich vom Fehler überzeugt hatte, zerriss er leider das Papier mit den Worten: „Schuster, bleib bei Deinem Leisten!“

Ein paar Tage nach dieser Begebenheit, wovon übrigens nicht mehr gesprochen worden war, stand eines Morgens früh, als ich eben aufwachte, Heinrich vor meinem Bette. „Ach, lieber Max,“ begann er mit kläglicher Miene, „was für eine schauerliche Nacht hab’ ich gehabt.“ Ich erschrak. „Denke Dir, gleich nach Mitternacht, eben als ich eingeschlafen war, drückte es mich wie ein Alp; der unglückliche Hexameter mit fünf Füßen kam an mein Bett gehinkt und forderte von mir unter den fürchterlichsten Jammertönen und selbst schrecklichsten Drohungen seinen sechsten Fuß. Ja, Shylock konnte nicht hartnäckiger auf sein Pfund Fleisch bestehen, als dieser impertinente Hexameter auf seinen fehlenden Fuß. Er berief sich auf sein urklassisches Recht und verließ mich mit schrecklichen Gebärden nur mit der Bedingung: dass ich nie wieder im Leben mich an einem Hexameter vergreifen wolle.“

Heinrich hat Wort gehalten, denn außer einigen zahmen Xenien, in Gemeinschaft mit Carl Immermann verfasst, hat er nie wieder in diesem Versmaße gedichtet.

Na ja, möglicherweise gab es auch noch andere Gründe …

Die erwähnte Stelle bei Goethe stammt aus seiner berühmten „fünften römischen Elegie“. Das sind nun keine reinen Hexameter, sondern Distichen, aber ich denke, zwei davon darf ich trotzdem zitieren?!

 

Oftmals hab ich auch schon in ihren Armen gedichtet,
Und des Hexameters Maß, leise mit fingernder Hand,
Ihr auf den Rücken gezählt. Sie atmet in lieblichem Schlummer,
Und es durchglühet ihr Hauch mir bis ins Tiefste die Brust.

 

Bleibt nur noch die Frage offen, ob Maximilian Heines „Nacken“ wirklich dem goetheschen „Rücken“ entspricht?!

Aber natürlich hat auch Heine Hexameter geschrieben, sogar über Goethe, nur eben nicht bewußt, sprich: es sind Prosa-Hexameter. Ein Beispiel ist dieser Satz über den „West-Östlichen Divan“, geschrieben im Jahr nach Goethes Tod:

Lebensgenuss hat hier Goethe in Verse gebracht, und diese sind so leicht, so glücklich, so hingehaucht, so ätherisch, daß man sich wundert, wie dergleichen in deutscher Sprache möglich war.

Das sind dreieindrittel Hexameter!

Lebensge- / nuss hat hier / Goethe || in / Verse ge- / bracht, und / diese
Sind so / leicht, so / glücklich, || so / hinge- / haucht, so ä- / therisch,
Dass man sich / wundert, wie || der- / gleichen in / deutscher / Sprache
Möglich / war.

 

Lebensgenuss hat hier Goethe in Verse gebracht, und diese
Sind so leicht, so glücklich, so hingehaucht, so ätherisch,
Dass man sich wundert, wie dergleichen in deutscher Sprache
Möglich war.

 

Nun nimmt dieser Text allerdings zweimal in kurzer Folge die „metrische Lizenz“, die Ausnahmeerlaubnis in Anspruch, am Versschluss „X x x / X x“ zu ersetzen durch „X x / X x“, und das würde einem wirklichen Hexametristen kaum einfallen; aber dafür ist der zweite Vers gänzlich makellos. Und die Aussage an sich ist ja auch beachtenswert!

Ohne Titel

Da sitzen sie, die Versverzehrer,
In ihrer Hand das Messer hier
Und hier die Gabel, sehn den Kellner
Die Teller vor sie stellen, drin:
Buchstabensuppe.

Bücher zum Vers (17)

Otto Knörrich: Lexikon lyrischer Formen

Obwohl 2005 anlässlich einer Neuauflage durchgesehen und überarbeitet, ist dieses 500 Einträge und 334 Seiten starke Lexikon eher „von gestern“, denn gar nicht so wenige Einträge beschäftigen sich mit aus der Antike übernommenen Versformen, die selbst zu Zeiten der Antiken-Verehrung kaum eine Rolle gespielt haben, oder mit anderen heute vergessenen Möglichkeiten lyrischer Darstellung.

Das ist aber kein Nachteil! Im Gegenteil ist das kleine, gebundene Buch, dass sich vorzüglich überall hin mitnehmen lässt, immer für eine Überraschung gut und ermöglicht das Kennenlernen bisher unbekannter Formen ebenso wie die WIederbegegnung mit schon fast Vergessenem.

Wer sich also die Neugier bewahrt hat und immer gerne mehr von dem kennen möchte, was im weiten Feld der Dichtungs-Formen möglich ist: der weiß sich in diesem bei Kröner erschinenen Lexikon gut aufgehoben.

Die Bewegungsschule (11)

Eine letzte Veränderung des Verses bleibt zu besprechen. Eigentlich eher eine Ausnahme; aber je nach Handhabung können die Folgen für den Vers sehr beachtlich sein!

In (5) wurde das Ersetzen der beiden leichten Silben, der „ta ta“, durch eine schwächer betonte schwere Silbe besprochen, das „TAM“. Hier geht es nun darum, die Zahl der „ta“ (zwei) zu vergrößern oder zu verkleinern; und zwar jeweils um eins.

Zuerst zum „Vergrößern“, denn das ist der Fall, der deutlich weniger Folgen für den Vers hat. Ausnahmsweise ist es machbar, an beliebiger Stelle im Vers ein „ta ta“ zu einem „ta ta ta“ zu erweitern! Die einzige Bedingung dafür ist, dass dann alle drei „ta“ wirklich sehr leichte Silben sein müssen; und dass die davor und dahinter stehenden „TAM“ sehr schwer sein sollten, damit die eigentliche Bewegungslinie des Verses nicht verloren geht. Ein Beispiel:

 

Wen der herrliche Gesang nicht rührt, ist aus Stein!

 

ta ta TAM ta ta ta TAM || TAM TAM / ta ta TAM

Das liest sich ohne Schwierigkeit, und der Vers bleibt erkennbar?!

Nun zum „Verkleinern“. Dabei wird das „ta ta“ zu einem einzelnen „ta“ verkürzt; und das ist eine sehr, sehr verlockende Möglichkeit! Erlaubt sie doch die schon häufiger angesprochenen Sinneinheiten der Form „ta TAM ta“, die das Schreiben so viel einfacher machen – „das Feuer“, „im Hafen“, „er dachte“ … Allein der Druck, der dadurch vom Versanfang genommen wird, ist gewaltig!

Wird von dieser Möglichkeit sehr starker Gebrach gemacht, wandelt sich das Silbenbild des Verses:

(x) x X / (x) x X || (x) x X / (x) x X

Mit der üblichen Bedeutung: x = unbetonte Silbe, (x) = unbetonte Silbe, die stehen kann, aber nicht muss, X = betonte Silbe, || = Zäsur.

Dieser Vers ist auf seine eigene Art ein schöner und brauchbarer Vers; aber er unterscheidet sich stark von dem Vers, der bisher besprochen wurde in der „Bewegungsschule“! Der Grund liegt einmal in der Vernachlässigung des Silbengewichts, und dann auch darin, dass durch die vielen sich einfindenden „ta TAM ta“ die deutlichen Bewegungslinien blasser werden, unhörbarer; wodurch der Vers dann auch reimfähig wird, weil das Ohr nicht mehr den ganzen Vers „belauschen“ muss und will, und sich so dem Gleichklang am Versende zuwenden kann.

Solange der Vers aber als Beispielvers für die Möglichkeiten der Bewegung von Sinneinheit, Vers und Gedicht dient, möchte ich von diesen Möglichkeiten keinen Gebrauch machen!

Stattdessen sollte die Möglichkeit, „ta ta“ zu „ta“ zu verkürzen, sehr sparsam genutzt werden und vor allem dazu dienen, bisher noch nicht versfähigen Wörtern den Zugang zum Vers zu erlauben: ab jetzt sind auch Wörter der Form „TAM ta TAM“ dabei – „Feldsalat“, „Dosenbier“ -, und sogar die eigentlich gänzlich versfremden Wörter der Form „TAM ta TAM ta“, „Entengrütze“, lassen sich durch Inanspruchnahme gleich zweier Ausnahmeregelungen unterbringen, „Zäsurverschiebung“ und „Verkürzung“:

 

Ein das Lehrerzimmer erheiterndes Werk

 

ta ta TAM ta TAM ta || ta TAM ta ta TAM

– Wobei schon der zu betreibende Aufwand klarmacht, dass diese Wörter nur in Ausnahmefällen berücksichtigt werden können!

Geht es nicht um solche Wörter, sollte man der Versuchung, zu „verkürzen“, widerstehen. Sicherlich gibt es auch abseits der oben genannten Wörter noch Umstände, die zu einer Verkürzung führen können – feste Wendungen etwa:

 

hat er lang und breit den Kumpanen erzählt

 

ta ta TAM ta TAM || ta ta TAM ta ta TAM

– „lang und breit“. Dabei gilt, wie schon bei der „Erweiterung“: Die schweren, betonten Silben, die „TAM“ links und rechts des einzelnen „ta“ sollten sehr deutlich sein, damit keine Verwirrung über Bewegung und Bewegungslinie aufkommen kann.

Aber sonst: äußerste Zurückhaltung! Der Vers wird es danken durch einen lebendigen Eindruck und eine anziehende Bewegung.

So. Das war es wirklich … Ich werde aber noch mindestens eine Folge anhängen, die alles bisher vorgestellte zusammenfasst.

Das Königreich von Sede (32)

Was weht dort hoch am Flaggenmast?
Das ist des Königs Wappen –
Es zeigt zwei Narrenkappen,
Draus brennend‘ Frösche
Voller Hast
Sich werfen, hin zum Rand; der fasst
Den Satz: „Wer löschen kann, der lösche.“

Erzählverse: Der iambische Trimeter (9)

’s Fädel reißt, ’s reißt immer wieder reißt’s entzwei,
das will was heeßen! Na, was wird’s denn heeßen ernd:
als mach dich fertig, denn dein Lebensfädel, altes Weib,
wird auch ni mehr wer weeß wie lange halt’n. Der Mann
is weg. Is nunter! s‘ war a Tag, wie heute warsch,
da koama Leute, die’n nuntertrugen uf
a Schultern, und das fichtne Kästel schwamm davon,
als wie a Hobelspan in unserm Bache schwimmt.

… lässt Gerhart Hauptmann ein „am Spinnrad sitzendes altes Frauchen“, eine Gebirgsbäuerin sagen am Anfang von „Kaiser Maxens Brautfahrt“. Die wieder beginnt in Hauptmanns „Sämtlichen Werken“, Band 4 (Propyläen 1964), auf Seite 262.

Etwas seltsam wirkt es schon, wie da eher Dialekt den antiken, klassischen Vers füllt als die „Hochsprache“; aber es wirkt eben, erst recht, wenn die Trimeter des „Kaisers Max“ danebentreten, die wesentlich weniger bodenständig und bescheiden daherkommen, als er, vom Wege geirrt, in der Berghütte auftaucht:

Als wär‘ ich meines Augenlichts beraubt, als sei
tot meine Hand: denn niemand folgt auf meinen Wink!
als formt‘ ich Worte und es trüge sie kein Laut,
denn niemand ruft auf mein Gebot: Ja, hier, Herr, hier!

Nicht die besten Voraussetzungen für ein umgängliches Miteinander, könnte man meinen; doch dann taucht Anna auf, die Tochter der Bergbäuerin, und sagt Sätze wie:

Lass mich den Rock von deiner Schulter nehmen, Max.

– Es ist Liebe, beidseitig, wie aus Maxens Antwort schon vermutet werden kann:

Wie herrlich mir dies Abenteuer plötzlich scheint!

Den Schluss des Textes spricht allerdings wieder Emmerenz, allein zurückbleibend, während Anna und Max „davonspringen“:

Man is halt tot. Man stellt a Lichtel uf a Tisch
fer andre Leute, die de nich gestorben sein:
die sehn’s was in dem Lichte für a Zauber is,
und da dawider hält sich keene Finsternis.
Uns schließt sie ein.

Insgesamt ein wirksames Hin und Her, und die ganze, kleine „Idylle“ ist durchaus lesenswert; sowohl an sich, als auch in Hinblick darauf, was mit dem Trimeter alles angestellt werden kann; welche Ausdrucksmöglichkeiten er bietet.