Die Korrelation (5)

Das folgende Sonett ist sehr, sehr berühmt und stammt von Francesco Petrarca; die sich anschließende Übersetzung hat Hugo Friedrich verfasst. Während sich im letzten vorgestellten Korrelationssonett eine dreigliedrige Korrealtion sehr kunstvoll, aber eben auch sehr auffällig durch die Verse zog, benutzt Petrarca nur eine zweigliedrige Korrealtion, die er so zu handhaben weiß, dass sie den Text zwar spürbar gliedert, ihn aber nicht ausschließlich bestimmt. Große Vers- und Sprachkunst!

Inhaltlich geht es um einen Traumbesuch von Petrarcas inzwischen verstorbener Herrin „Laura“:

 

Né mai pietosa madre al caro figlio
né donna accesa al suo sposo dilecto
die‘ con tanti sospir‘, con tal sospetto
in dubbio stato sí fedel consiglio,

come a me quella che ‚l mio grave exiglio
mirando dal suo eterno alto ricetto,
spesso a me torna co l’usato affecto,
et di doppia pietate ornata il ciglio:

or di madre, or d’amante; or teme, or arde
d’onesto foco; et nel parlar mi mostra
quel che ’n questo vïaggio fugga o segua,

contando i casi de la vita nostra,
pregando ch’a levar l’alma non tarde:
et sol quant’ella parla, ò pace o tregua.

 

Nie gab wohl eine Mutter ihrem Sohn,
Nie ihrem lieben Gatten eine Gattin
Mit soviel Innigkeit, mit solchem Bangen
In ernst bedrängter Lage hilfreich Rat,

Wie sie mir gibt, wenn aus der ew’gen Stätte,
Der hohen, sie auf mein Verbanntsein blickt
Und mir erscheint in altgewohntem Fühlen,
Das Aug‘ von doppeltem Erbarmen schön,

Der Mutter wie der Liebenden, voll Angst,
Voll reiner Glut; spricht sie, so ists ein Wink,
Was ich hienieden tun soll und was meiden.

Sie zählt mir her die Unbill dieses Lebens,
Fleht, dass ich nicht zu spät mich aufwärts höbe,
Und nur wenn sie spricht, ruh‘ ich oder harre.

Erzählverse: Der Hexameter (38)

Paul Heyses „Thekla“ (6)

Ich werfe heute noch mal einen Blick auf die metrischen Grundeinheiten des Hexameters. Die können zweisilbig sein – X x – oder dreisilbig: X x x. Die dreisilbige Einheit, auch „Daktylus“ genannt, ist nun einen Blick wert in Hinsicht auf die Art und Weise, wie sie gefüllt wird; auch, weil die verschiedenen Füllungsarten einen bestimmten „Ton“ ergeben, der von den einen Dichtern geschätzt und von anderen gemieden wird.

Andreas Heusler, dem ich hier einfach folge, unterscheidet im dritten Band seiner „Deutschen Versgeschichte“ fünf Typen von Füllung.

1. lebende, mitten im, siehst du das. Das ist, sozusagen, die „Reinform“: Die beiden unbetonten Stellen sind mit eindeutig unbetonten Silben belegt. Diese Füllung haben natürlich alle Dichter im Bestand!

2. Dämmerung, chelt auch, nahm es doch. Hier liegt auf der zweiten unbetonten Silbe eine leichte Nebenbetonung, sie ist etwas „schwerer“ als die erste unbetonte Silbe. Natürlich ist das kaum merkbar, und die allermeisten Dichter haben in ihren Hexameters solche Daktylen verwendet. Die Ausnahme war Platen.

3. Hoffnungen, Trübsal mit, selbst auch der. Hier ist die erste unbetonte Silbe etwas schwerer als die zweite. Das war für niemanden ein Problem, alle Dichter haben diese Daktylen genutzt.

4. Vaterland, Mitternacht, Edelmut. Ein deutlicher Nebenton auf der zweiten unbetonten Silbe! Hier unterscheiden sich die Dichter in der Nutzung stark. Voss und die anderen „strengeren“ Dichter haben diese Füllung gemieden, Schiller hat sie durchgängig gebraucht; Goethe hat sie im Reineke, weniger in Herrmann und Dorothea, gar nicht mehr in der Achilleis.

5. Landstraße, demütig, aufsteigen. Diese Füllung mit deutlicher Nebenhebung auf der zweiten Silbe wurde von so gut wie allen Dichtern vollständig gemieden.

Am spannendesten sind für mich die Füllungen der vierten Art – einfach weil sich hier die Dichter wirklich unterscheiden und damit auch der „Geschmack“ ihrer Verse. Ich nehme  Beispiel einmal aus J. F. W. Zachariä, „Murner in der Hölle“:

 

Als die Katze den Höllenhund sah, der seine drei Rachen

Mit erstarrendem Bart das blutige Trauerspiel wahrnimmt.

Ihre Kammertür öffnen; da kam ihr der Schatten der Katze

 

Als die / Katze den / Höllenhund / sah, || der / seine drei / Rachen

Mit er- / starrendem / Bart || das / blutige / Trauerspiel / wahrnimmt.

Ihre / Kammertür / öffnen; || da / kam ihr der / Schatten der / Katze

Man beachte, wie Zachariä die Silbe nach dem braunen Daktylus durchgehend sehr schwer besetzt, um die Nebenhebung eindeutig dem Daktylus zuzuordnen!

Als Vertreter der Gegenrichtung kann J. H. Voß gelten. Im „Bezauberten Teufel“ verzichtet er natürlich nicht auf Wörter der Form „Vaterland“, sondern wertet sie einfach metrisch-rhythmisch anders: Nicht als X x x, sondern als X x X!

 

Der nach dem Teufelsbild, an der Türe mit Kohlen gezeichnet,

 

Der nach dem / Teufels- / bild, || an der / re mit / Kohlen ge- / zeichnet,

Wie schon bemerkt: Durch diese unterschiedliche Wertung der dritten Silbe bekommt der Vers einen etwas anderen Ton!

Nach alldem jetzt aber wirklich zurück zu Heyse un den beiden spannenden Fragen: Wie geht es bezüglich der Handlung weiter, und wie hält er es denn mit den Daktylen?!

Der Anfang des sechsten Gesangs bringt einen Ortswechsel.

 

Lampen erglänzten im Saal, und es spiegelten goldne Geschirre
Blitzend die Flammen zurück in des Prätors Hause. Die Sklaven
Trugen die Speisen hinweg und reichten gehenkelte Schalen
Jeglichem Gast: Das Trinken begann. Man sah von den Polstern
Tief in den Garten hinein, wo herrliche Rosen des Spätjahrs
Dufteten, und um den Nacken der ehernen Aphrodite
Zwischen den Palmen der Mond sein unstet silbernes Netz warf.

 

Und gleich am ersten Vers, der ja die größtmögliche Anzahl an Daktylen aufweist, kann man erkennen, dass Heyses Daktylen sehr sauber sind, meistens von der ersten Art:

Lampen er- / glänzten im / Saal, || und es / spiegelten / goldne Ge- / schirre.

Wer sich einen der anderen Verse anschaut, oder die aus den bisherigen Folgen, wird feststellen, dass das durchgängig der Fall ist!

Versammelt sind im Hause der Prätor selbst, Castelius, Theklas ehemaliger Verlobter Thamyris, der Philosoph, Demas, und als vierter Skyron, der „Oberste der Kohorten“; ein Soldat also. Die Stimmung ist gereizt, das Gespräch dreht sich natürlich um den Apostel und Thekla; da dringt von draußen der Lärm einer sich nähernden Menschenmenge herein. Skyron zieht los, den Grund herauszufinden:

 

… Und von der Erde
Hob er den Helm, und das Schwert am Gehenk vom Pfosten herunter,
Waffnete sich und wiegte die nervigen Arme, dem Bären
Gleich, der ruhig geschmaust am Honigbaum, dem verlassnen,
Und nun hört, wie der Schwarm zum Stock heimkehrend dahersummt,
Drohend dem Räuber entgegen; da wiegt er die zottigen Tatzen,
Schlecht von der Störung erbaut. So ließ der gewaltige Skyron
Einen bekümmerten Blick zu dem bauchigen Mischkrug gleiten,
Eh er den Türvorhang zum Nebengemache zurückschob;
Doch ihn stärkte geheim die Hoffnung, wiederzukehren.

 

Ein geradezu homerisches Gleichnis … Spannend sind die beiden Verse, in denen Wörter der Art „Vaterland“ vorkommen – da Heyses Daktylen sehr leicht und schnell sind, behandelt er diese Wörter natürlich wie Voß, also als X x X:

Gleich, der / ruhig ge- / schmaust || am / Honig- / baum, dem ver- / lassnen,

Der Lärm stammt von den Stadtbewohnern, die Theklas Mutter und den Kybele-Priester zum Prätor begleiten: Theoklia hat das Fehlen der Tochter bemerkt! Alle zusammen brechen zum Gefängnis auf – und finden Thekla und Tryphon beisammen. Oh, oh…

 

Doch in Bestürzung hemmten die Vordersten hart an der Schwelle,
Thekla erkennend, den Schritt. Sie ist bei ihm! lief es die Stufen
Flüsternd hinab, und das Echo im Volk rief laut: Sie ist bei ihm!

 

Starke Verse!? Jedenfalls will das von Midas aufgestachelte Volk jetzt Blut sehen. Der Prätor, immer noch in Furcht vor den Zauberkräften Tryphons, verurteilt diesen aber nur dazu, aus der Stadt geprügelt zu werden; Thekla dagegen soll, den Volkszorn zu befriedigen, auf dem Scheiterhaufen brennen!

Das Königreich von Sede (46)

In der Frösche grünen Köpfen
Denkt sich die Musik – wer weiß, wie?!
Sicher anders als in Schemels
Menschenkopf. Der alte Narr sitzt
Nachts am Graben, rührt die Saiten,
Singt die Taten König Bodens;
Und der Frösche raues Quarren
Tritt hinzu an vielen Stellen,
Laut und vielgestaltig einmal,
Einmal scheu aus zwei, drei Kehlen,
Schrecklich schräg den Menschenohren
Immer, und wahrhaftig: Immer.

Bücher zum Vers (30)

Rudolf Ibel: Gestalt und Wirklichkeit des Gedichtes.

„Meine“ Ausgabe ist genau 50 Jahre alt; 1964 bei Heimeran erschienen. Daher ist nicht alles, was Ibel schreibt, auf dem neuesten Stand, und der Abschnitt „Zur Situation der modernen Lyrik“ muss notwendigerweise veraltet sein; aber die restlichen Abschnitte, „Der Dichter und das Wort“, „Das Klangbild“, „Das Bewegungsbild“, „Das Schaubild“, „Von der Wirklichkeit des Gedichts“, haben auch heute noch ihren Wert. Ibel schreibt dicht und bestimmt und bringt so auf den gerade einmal 100 Seiten des Taschenbuches eine Menge Inhalt unter. Manchmal klingt das auch unschön bemüht, aber das ist auszuhalten angesichts der Menge an bedenkenswerten (aber nicht zustimmungspflichtigen) Sätzen, die Ibel dem Leser anbietet. Diesen zum Beispiel (Seite 40):

Nur schlechte Verse können durch den subjektiven, das heißt willkürlichen Vortrag gewinnen, die guten aber werden zerstört.

Erzählverse: Der Knittel (6)

„Wallensteins Lager“, von Friedrich Schiller: Das ist ein Text, an dem man nicht vorbeikommt, wenn man sich mit dem Knittelvers beschäftigt! Aus dem vorangestellten Prolog, in Blankversen gehalten, habe ich ja schon unter „Der Blankvers 26“ einige Verse vorgestellt – hier, obwohl ein Knittelbeitrag, ergänze ich noch den Schluss des Prologs. Ziel ist es, den Unterschied vorzuführen zwischen einem alternierenden, reimlosen Vers wie dem Blankvers und dem Knittelvers, der danach durch die ersten Verse des eigentlichen Stücks vertreten wird.

Aber zuerst der Schluss des Prologs:

 

Das heut’ge Spiel gewinne euer Ohr
Und euer Herz den ungewohnten Tönen,
In jenen Zeitraum führ es euch zurück,
Auf jene fremde kriegerische Bühne,
Die unser Held mit seinen Taten bald
Erfüllen wird.

Und wenn die Muse heut,
Des Tanzes freie Göttin und Gesangs
Ihr altes deutsches Recht, des Reimes Spiel,
Bescheiden wieder fodert – tadelt’s nicht!
Ja danket ihr’s, dass sie das düstre Bild
Der Wahrheit in das heitre Reich der Kunst
Hinüberspielt, die Täuschung, die sie schafft,
Aufrichtig selbst zerstört und ihren Schein
Der Wahrheit nicht betrüglich unterschiebt,
Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst.

 

Da ist neben Versbewegung und -klang („fodert“ stimmt so) sicherlich auch der Inhalt bedenkenswert; und auch, wie Schiller mit einem wirkungsmächtigen Sinnspruch schließt.

Nun die ersten Verse des Stücks:

 

BAUERKNABE.
Vater, es wird nicht gut ablaufen,
Bleiben wir von dem Soldatenhaufen.
Sind Euch gar trotzige Kameraden;
Wenn sie uns nur nichts am Leibe schaden.

BAUER.
Ei was! Sie werden uns ja nicht fressen,
Treiben sies auch ein wenig vermessen.
Siehst du? sind neue Völker herein,
Kommen frisch von der Saal und dem Main,
Bringen Beut mit, die rarsten Sachen!
Unser ists, wenn wirs nur listig machen.
Ein Hauptmann, den ein andrer erstach,
Ließ mir ein Paar glückliche Würfel nach.
Die will ich heut einmal probieren,
Ob sie die alte Kraft noch führen.
Musst dich nur recht erbärmlich stellen,
Sind dir gar lockere, leichte Gesellen.
Lassen sich gerne schön tun und loben,
So wie gewonnen, so ists zerstoben.
Nehmen sie uns das Unsre in Scheffeln,
Müssen wirs wieder bekommen in Löffeln;
Schlagen sie grob mit dem Schwerte drein,
So sind wir pfiffig und treibens fein.

 

– Eine ganz andere Welt! Einmal durch den Reim, aber dann auch durch die freiere Senkungs-Füllung. Während man bei den Blankversen sicher sein kann, wie stark die nächsten Silben klingen, ist beim Knittel viel nehr Abwechslung drin, und manchmal auch einiges an Unklarheit. Dieser Vers zum Beispiel:

Ließ mir ein Paar glückliche Würfel nach.

Da muss man, will man ihn der Knittel-Vorschrift entsprechend mit vier Betonungen lesen, schon einige Male ansetzen?! Aber auch bei anderen Versen gilt es zu suchen, und manchmal ist die Frage, welche Silben denn betont werden, auch schlicht nicht zu entscheiden. Trotzdem lässt sich immer eine Bewegungslinie finden, scheint mir; so dass der Vortrag lebendig und unmittelbar wirkt, während die Blankverse doch eher einen abgehobeneren Eindruck hinterlassen. Einfach mal laut sprechen, beides; und dann vergleichend urteilen!

Anagramm-Geplauder (2)

Wie sieht der Weg aus, der zu einem Anagramm-Gedicht führt?! Da gibt es bestimmt so viele, wie es Anagrammisten gibt. Gar nicht mal so falsch ist der Gedanke, sich technische Hilfe zu sichern – zum Beispiel diesen Anagramm-Generator – und sich eine Angramm-Liste erstellen zu lassen. Die enthält dann erst einmal einiges Unbrauchbares – Abkürzungen, Fachbegriffe, seltene (Fremd)-Wörter -, das sofort entsorgt werden kann. Im Falle eines beliebigen Beispiels, „Sternenlicht“, bleiben danach noch diese Anagramme übrig:

sternenlicht, schelte rinnt, rechnens litt, chile trennst, lichtern nest, schlitten ren, lichten stern, lichten ernst, sichel trennt, schielt rennt, schielt trenn, stichel rennt, stichel trenn, stichelt renn, stilecht renn, leicht rennst, lichte rennst, schient lernt, sichten lernt, scheint lernt, schneit lernt, tischen lernt, nichte lernst, elch rennt ist, elch trenn ist, scher nett nil, recht nest nil, echt lernst in, echt lernt ins, echt renn list, echt renn stil, echt stern nil, echt ernst nil, cents lehrt in, cents ehrt nil, cent lehrst in, cent lehrt ins, cent ehrst nil, cent ehrt nils, ich lernt nest, lichts trenne, lichts entern, lichts ernten, licht trensen, licht nestern, licht sternen, licht ernsten, licht rennt es, licht ren nest, nichts lernte, nichts eltern, schnitt erlen, schnitt lerne, nicht elstern, nicht lernt es, sicht lernten, stich lernten, tisch lernten, sticht lernten.

Daraus lässt sich einiges machen? Selbst wenn man einfach nur von „Sternenlicht“ ausgeht und dieses etwas tun lässt:

Sternenlicht
Schielt, rennt,
Scheint, lernt,
Lernte: Nichts.
Nichts, Eltern!

Das ist nun sicher kein Meisterwerk, klingt aber schon mal wie ein Gedicht?! Für gehaltvollere Aussagen ist mehr Arbeit nötig; ein genauerer Blick ins Angebot. Wer mag, kann den ja versuchen?! Ich beschränke mich auf das offensichtliche, den enthaltenen Schüttelreim (Schüttelreime „an sich“ sind immer Anagramme!). Der bräuchte allerdings, um unmittelbar verständlich zu sein, einer kleinen Einkleidung … Jemanden, der spät für eine Skat-Prüfung lernt und von seiner Herzens-Dame zu einem romantischen Nachtspaziergang aufgefordert wird, zum Beispiel. Der antwortet ihr nämlich:

„Lernen sticht
Sternenlicht!“

Das Spannende an so einer Liste ist: man muss sich mit Wörtern und Zusammenhängen abgeben, die sonst außerhalb des eigenen Denkens blieben. Dabei ist die von einem Programm erstellte Liste aber nur ein Ausgangspunkt – vieles ist möglich, was ein Anagramm-Generator nicht macht! Zum Beispiel Verkürzungen, sagen wir, von „ein“, „einen“ oder „den“ auf „’n“. Dann kann man aus dem eigentlich Buchstabenvorrat ein „n“ herausnehmen und schauen, was die restlichen Buchstaben hergeben …

‚N Lichternest –
Es rennt Licht,
Sternenlicht,
Ins Echt, lernt
‚N rechten Stil:
Lichten Ernst.

Oder man verkürzt „gehen“ auf „gehn“ und ähnliches … Der Möglichkeiten sind viele, gleichgültig, ob man mit Bleistift und Papier anagrammiert oder mit der Hilfe von Programmen! Einfach versuchen, meist kommen erstaunliche Ergebnisse zustande; Sachen, auf die man sonst nie käme.

Erzählverse: Der Hexameter (37)

Paul Heyses „Thekla“ (5)

Im fünften Gesang bricht Thekla mit Hilfe des Türsklaven von zu Hause auf, schleicht sich zum Gefängnis, besticht einen der Wächter und gelangt so zu Tryphon. Sie hat sich auch schon überlegt, wie sie ihm zur Flucht verhelfen kann, doch leider ist der Apostel angekettet. So bleibt ihr also nur, sich Rat zu holen bezüglich ihres Verlobten, ihrer Mutter, dem christlichen Glauben. Tryphon hingegen ist zutiefst gerührt darüber, dass Thekla, obwohl die beiden ja gar nicht bekannt sind, sich für ihn in Gefahr begibt. Und so reden sie, und reden; und vergessen die Zeit ….

Beim Versaufbau möchte ich nochmal auf die immer gleiche Schlusswendung zurückkommen. Die hat nämlich Auswirkungen auf den ganzen Vers. Denn wenn dieses „X x x / X x“ dem Hörer den Versschluss anzeigen soll, dann darf es nirgendswo sonst im Vers auftauchen, da es sonst für Verwirrung sorgt. Diese Gefahr ist zum Beispiel dann gegeben, wenn die Zäsur in der vierten Einheit liegt, genauer: hinter der unbetonten Silbe der vierten Einheit. Also so:

X x (x) / X x (x) / X x x / X x || x / X x x / X x

Vor der Zäsur kann sich dabei die Schlusswendung bilden – ich habe sie mal fett gekennzeichnet. Wenn sie da erklingt und von der zur Zäsur gehörenden Pause abgeschlossen wird, dann klingt die richtige Schlusswendung, die von der Pause am Versende abgeschlossen wird, bloß noch wie eine Wiederholung.

 

Wer nun Diesem zu Lieb‘ und Jenem und Hunderten handelt,
Kennt er den Herrn, der nur in der Tiefe des innersten Wesens
Ihm sich enthüllt? Er lebt in den Tag hin, glaubens- und gottlos.

 

Ja. Unverkennbarer Apostel-Ton … Worauf es mir hier aber ankommt: Der zweite Vers hat ein kleines Problem.

Kennt er den Herrn, / der nur in der Tiefe / des innersten Wesens

Wenn man ihn nach Sinneinheiten abteilt, erkennt man, dass die zweite und die dritte Einheit genau gleich sind, und praktisch (bis auf einen vorgelagerten unbetonten Artikel) der Schlusswendung entsprechen! Das verwischt die dem Vers eigene Bewegung. Und der dritte Vers hat im wesentlichen die gleiche Sorge …

Aber sicherlich: Ein Vers unter vielen kann das immer machen, bedenklich wird es erst, wenn es in Massen auftritt. Und dass man derlei sogar ganz bewusst zur Versgestaltung einsetzen kann, beweist der berühmte Vers aus dem „Sicheren Mann“ von Mörike – es geht um einen Riesen, der ein Buch aus Scheunentoren vollgeschrieben hat.

 

Endlich am Schluss denn folget das Punktum, groß wie ein Kindskopf.

 

Wieder nach Sinneinheiten aufgeteilt:

Endlich am Schluss denn / folget das Punktum, / groß wie ein Kindskopf.

Mörike hat den Vers auf der Ebene der Sinneinheiten in drei(!) aufeinanderfolgende Schlusswendungen aufgeteilt! Das unterstützt den Inhalt aufs äußerste – da wurde ein Buch wahrlich und wahrhaftig abgeschlossen!? Normalerweise wäre das ein bedenklicher Vers, aber hier ist es  herrlich anzuhören.

Ein anderer Ort, an dem die Schlusswendung nichts zu suchen hat, ist – wenig überraschend – der Versanfang. Wenn man sich die bisherigen Beispiele anschaut, erkennt man, dass zu der Zäsur in der vierten Einheit immer eine zweite tritt, die in der zweiten Einheit liegt. Auch danach folgt eine Sprechpause, und auch davor könnte eine Schlusswendung folgen. Aber Heyse hat vor den wirklichen schweren Pausen immer eine andere Wendung!

Entweder diese: X x x X (wie schon oben):

 

Gottes Gesetz! Nun siehe, wir fanden es eines und vielfach.

 

Wieder der Apostel. Thekla verwendet gegenüber dem Türsklaven die Wendung X x X:

 

Still, mein Freund! Ich bin’s, und komme zu dir, denn ich weiß ja,

 

Alles beide „männnliche“ Zäsuren nach der betonten Silbe. Wenn der Schnitt in der zweiten Einheit nach der unbetonten Silbe erfolgt, sieht die Wendung immer so aus: X x X x.

 

Geh, du Teure! Der Segen des Herrn sei über dem Haupt dir,

 

Wieder Tryphon (offensichtlich). Jedenfalls verkneift sich Heyse die Wendung „X x x X x“ vor einer schweren Zäsur durchgängig. Am nächsten ran reicht so etwas:

 

Halblaut summt‘ er ein Liedchen und pochte den Takt mit der Lanze,
Gähnte dazwischen und kraulte den Bart. Noch zauderte Thekla,

 

Das ist jetzt der Wächter, und „Gähnte dazwischen“ das „X x x X x“, das ich meinte.

Na ja. Das war jetzt wieder eine Menge Versbau …. Aber die Versbewegung ist entscheidend für den Hexameter, und die setzt sich eben aus vielen einzelnen Bestandteilen zusammen. Ich mache Schluss für heute mit dem Erscheinen Theklas in der Zelle.

 

Hell war’s drinnen. Ein Fenster, verwahrt mit eisernem Gitter,
Ließ in das enge Gemach einströmen die Welle des Mondlichts.
Hier auf niedriger Schütte von Stroh lag Tryphon. Verwundert
Stützt er sich auf, da plötzlich die fremde Gestalt in die Pforte
Tritt mit scheuer Gebärde, das Haupt entschleiert, die Stirne
Tief von den Locken verhängt. Ein Traumbild meint er zu schauen.