Wir Dichter

Gramberg wandert im Garten umher. Wir Dichter, wir Sylphen,
Murmelt er, zögert, bedenkt sich; ergänzt Wir singen und schweben,
Sicherer schon, und breitet die Arme – Mit duftigem Flügel
Ruft er, und lacht, und schließt die Strophe: Durchs fröhliche Leben.

Gerhard Anton Gramberg / Wir Dichter

 

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (24)

Unbeweglich ruhn die Wasser,
Und die Terebinthenhaine
Und die dunklen Sykomoren
Spiegeln sich in tiefer Flut.
Wie ein schwarzer Grabeshügel,
Welchen Marmorvasen kränzen,
Kauern Büffel dort am Ufer,
Und auf ihrem Rücken nistet
Alabasterweißer Vögel
Frühlingsjunge Wasserbrut.
Rötlichbraune Tauben gurren,
Wiegen sich auf Palmenzweigen.
Und die Palmen bilden Säulen,
Ihre Kronen ein Gewölbe.
Dort in einsam dunklen Hallen
Fand der Mensch den ersten Tempel,
Kniete hin in Morgenandacht,
Kindlich wie die Welt umher.

Greis und altklug, blutbesudelt,
Gähnt sie heute, hoffnungsleer.

 

Verse von Carl Bleibtreu. Abgesehen davon, dass Begriffe wie „Terebinthen“ und „Sykomoren“ allemal die Allgemeinbildung und den Wortschatz befördern, steht man als Leser erst einmal leicht verwirrt vor all den vom Dichter aufgeführten Dingen. Warum, wozu? Aber der Vierheber leitet hier sicher, und so lässt man sichs gefallen, bis dann der Schluss die Auflösung bringt.

Bemerkenswert auch der Reim, „-her / -leer“, der im Gegensatz zu einem zuvor aufklingenden, „Flut / -brut“, auch wirklich wahrnehmbar ist durch die Nähe der Reimworte … Gehört das Reimen dann auch zum „greis sein“, zum „altklug sein“? Oder ist es einfach nur ein Mittel, die abgesetzten Schlussverse über den Klang doch wieder enger anzubinden und den Text nachhaltig zu schließen?!

Ringel

Rundgedicht
kurz & schmerzvoll

das mädchen fällt
den baum, der auf
das mädchen fällt

Erzählverse: Der Hexameter (48)

Wie das in (47) gezeigte Gedicht Klopstocks ist auch „Glück, herrenloses“ von Christian Wagner ein „Vier-Hexameter-Epigramm“:

 

Glück begehr ich von Gott, doch herrenloses und nicht ein
Andern gehöriges Glück. – Denn niemals möcht ich ein Glück, das
Andere kostet Verzicht; nur Glück aus dem Schoße der Gottheit,
Fernher kommend und schön, rotblumig gleich Oleander.

 

In mancherlei Hinsicht bedenkenswerte Verse?!

Da sind einmal die zwei sehr heftigen Zeilenumbrüche der ersten beiden Verse, gegen die sich die Verseinheit im Vortrag erst einmal behaupten muss – meint, man muss sich überlegen, wie man zwischen „ein“ und „Andern“ eine erkenntliche Verzögerung“ zum Ausdruck bringen kann! Ebenso zwischen „das“ und „Andere“.

Der vierte Vers rettet den ganzen Text ein wenig, der zuvor sehr blass und gedanklich daherkommt und erst hier zu einer gewissen Bildlichkeit und Wirkkraft findet. Bestünde das Gedicht aus Distichen, läse sich die Versmitte ohne Schwierigkeiten:

Fernher / kommend und / schön, || rotblumig / gleich Ole- / an(der).

Aber es ist ja ein Hexameter, der Vers endet auf eine unbetonte Silbe: „-der“. Also:

Fernher / kommend und / schön, || rot- / blumig / gleich Ole- / ander.

Dann ist „schön rotblu-“ einer der Voß’schen „geschleiften Spondeen“, und man muss als Vortragender schauen, wie man das darstellt; wahrscheinlich liest am am besten alle drei Silben auf einer „mittleren Betonung“?!

Alles in allem kein großes Gedicht, aber doch ein eigenständiges Werk.

Erzählverse: Der iambische Trimeter (12)

Eduard Mörikes „Auf eine Lampe“ ist ein sehr bekanntes Gedicht. Zu Recht!

 

Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du,
An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier,
Die Decke des nun fast vergessnen Lustgemachs.
Auf deiner weißen Marmorschale, deren Rand
Der Efeukranz von goldengrünem Erz umflicht,
Schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelreihn.
Wie reizend alles! lachend, und ein sanfter Geist
Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form –
Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein?
Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.

 

Wunderbare Verse. Mörike hat viele Trimeter-Gedichte geschrieben und diesen Vers fast immer vorbildlich behadelt; wer den Trimeter wagen möchte, sollte sich also auf jeden Fall diese Werke zu eigen machen!

Auch hier lässt sich viel lernenaus der Art, wie Mörike jeden Vers anders gliedert als den davor erklungenen, wie er manchmal einen Zeilensprung setzt, und manchmal nicht, bis schließlich im Schlussvers ein wirlich vollkommener Trimeter das Gedicht eindrucksvoll beschließt. Auch die verwendeten Wörter sollte man sich genau anschauen!

Zu diesem Gedicht gibt es auch viele Auslegungen, durchaus auch im Netz; wer schaut, wird fündig werden. Aber eigentlich begeistert mich hier am meisten Mörikes Vers-Meisterschaft.

Rätsel

Auf fremder Schwelle weint ein Kind.
Du stellst die Silben vor ihm um –
Schon schwimmt ein Kind im Meer herum.
Nun sag mir, wer die Kinder sind!

Erzählverse: Der Hexameter (47)

Friedrich Gottlieb Klopstocks „Der doppelte Mitausdruck“

Klopstock hat sich über seine Vorstellungen von Dichtung auch dichterisch geäußert, oft in der Gestalt von Epigrammen. „Der doppelte Mitausdruck“ ist ein solches Epigramm! Es ist kurz, vier Verse nur, und besteht durchgängig aus Hexametern – erstaunlich eigentlich, üblicher wäre da doch ein doppeltes Distichon gewesen?! Hier jedenfalls der Text:

 

Der doppelte Mitausdruck

„Silbenmaß, ich weiche dir nicht, behaupte mich, ziehe
Dir mich vor!“ „Wohlklang, ich liebe das Streiten nicht. Besser
Horchen wir jeder mit wachem Ohr dem Gesetz und vereinen
Fest uns. Wir sind alsdann die zweite Seele der Sprache.“

 

Nun sollte natürlich kurz besprochen werden, worum es Klostock hier geht; aber zuerst möchte ich auf eine Lesung dieses Stückes hinweisen, die auf einer sehr schönen Seite von Fritz Stavenhagen zu finden ist:

Der doppelte Mitausdruck

Daran finde ich nämlich einiges Bemerkenswertes. Das geht schon in der Überschrift los, die Stavenhagen für mich so liest:

v — v v — — —

Also bei „Mitausdruck“ drei annährend gleichschwere Silben, jedenfalls aber deutlich schwerere als das „-pel-te“, wodurch ein schöner Ausdruck entsteht!

Im ersten Vers steht das „-maß“ auf einer betonten Stelle, da hätte ich mir vielleicht ein wenig mehr Nachdruck gewünscht, um das „— v —“ noch deutlicher hörbar zu machen; aber so geht’s natürlich auch. Im zweiten Vers wird dem Leser einiges abverlangt, der metrische Aufbau ist wohl dieser:

Dir mich / vor!“ „Wohl- / klang, ich / liebe das / Streiten nicht. / Besser

— — / — — / — || v / — v v / — v v / — v

Also eher „antik gemessen“ … Nun fallen die beiden ersten Betonungen auf recht schwache Silben („Dir“, „vor“), und das eigentlich sehr schwere und betonte „Wohl-“ steht in einer Senkungsposition, wodurch sich einer jener berüchtigen „geschleiften Spondeen ergibt. Wie löst der Sprecher nun dieses Kuddelmuddel? Sinnig, scheint mir: Er betont „Dir“ und „mich“ auf einer Höhe, geht dann, notgedrungen, beim „vor“ etwas runter (vielleicht eine Kleinigkeit zu weit?!), ehe er das „Wohl-“ nicht allzustark heraushebt und das „-klang“ schön streckt, um sie einander anzunähern. Der eine „unantike“ Trochäus „— v“ ist schon von Klopstock so verwandt worden, dass er die Zäsur enthält und sich durch die Sprechpause „längt“. Also: Trickreich, das alles.

Im dritten Vers ist schade, das die eigentliche Verszäsur gar nicht hörbar gemacht wird. Im vierten Vers hätte ich mir das einletende „Fest“ stärker gewünscht; passt zum Metrum, passt zum Inhalt.

Genau, der Inhalt … In Prosa klingt Klopstock, redet er über das Machen von Gedichten, so:

Erst der Inhalt, hierauf der Ausdruck, das ist Worte, die dasjenige bestimmt bedeuten, was wir damit sagen wollen, indem sie zu dieser Absicht sorgfältig gewählt und geordnet sind; die denjenigen Wohlklang haben, der zu der vorgestellten Sache gehört und die durch die Bewegung, welche ihre Längen und Kürzen hervorbringt, noch mehr und noch lebhafter dasjenige dedeuten, was sie bedeuten sollen.

Oder, in zwei knappen Sätzen:

– Der Klang der Wörter ist Mitausdruck.
– Silbenmaß ist Mitausdruck durch Bewegung.

Wobei die „Bewegung“ für Klopstock immer eine viel wichtigere Rolle gespielt hat als der „Wohlklang“ – wenn man’s recht bedenkt, schimmert das auch durch den Dialog (Klopstock liebte es, in Dialogform zu theoretisieren) des Epigramms durch – das „Silbenmaß“ beansprucht doch den größeren und eindrucksvolleren Teil der vier Verse für sich …

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (23)

Der Fall in den Fluss

 

Lene Levi lief besoffen
Nächtlich in den Nebenstraßen,
Hin und wieder „Auto“ brüllend.

Ihre Bluse war geöffnet,
Dass man ihre feine, freche
Unterwäsche und das Fleisch sah.

Sieben geile Männlein rannten
Hinter Lene Levi her.

 

Sieben geile Männlein trachten
Lene Levi nach dem Leibe,
Überlegend, was das kostet.

Sieben, sonst sehr ernste Männer
Haben Kind und Kunst vergessen,
Wissenschaft und die Fabrik.

Und sie rannten wie besessen
Hinter Lene Levi her.

 

Lene Levi blieb auf einer
Brücke stehen, atemschöpfend,
Und sie hob die wirren blauen

Säuferblicke in die weiten
Süßen Dunkelheiten über
Den Laternen und den Häusern.

Sieben geile Männlein aber
Fielen Lenen in die Augen.

 

Sieben geile Männlein suchten
Lene Levis Herz zu rühren.
Lene Levi blieb unnahbar.

Plötzlich springt sie aufs Geländer,
Dreht der Welt die letzte Nase,
Jauchzend plumpst sie in den Fluss.

Sieben bleiche Männlein rannten,
Was sie konnten, aus der Gegend.

 

Ein Gedicht von Alfred Lichtenstein, der den Vierheber hier nicht reiht, sondern vier Gruppen bildet, von denen jede wieder aus zweimal drei und einmal zwei Versen besteht.  Jede dieser kleinen Einheiten fasst einen Satz.

So gesehen ein streng gebautes Gedicht?! Um so mehr fallen die beiden Dreizeiler der dritten Gruppe ins Ohr, da sie zum einen die Regel „Drei Verse = Ein Satz“ durchbrechen und zum anderen auch noch verschwenderisch viele Zeilenumbrüche aufweisen.

Auch bemerkenswert: sowohl in Bezug auf die „sieben Männlein“ als auch auf Levi wechselt der Text einmal in die Gegenwart!

Insgesamt also einiges an Auflockerung, die dem recht festen Aufbau entgegenwirkt, und aus dem entstehenden Spannungsverhältnis gewinnt Lichtensteins Gedicht eine schöne Lebendigkeit?!