Erzählverse: Der Blankvers (42)

Hugo von Hofmannsthals „Brief aus Bad Fusch“ liest sich sehr eigenartig – eine ton- und gefühlslose Bestandsaufnahme, die aber doch (oder eben darum?!) eindringlich daherkommt. Ein Text, dem der schmucklose Blankvers sehr gerecht wird; mit gereimten Fünfhebern würde die Wirkung geringer sein, wenn überhaupt vorhanden?! So gesehen: Ein schönes Beispiel für die Einsatzmöglichkeiten des Blankverses!

 

Es regnet seit fünf Tagen und fünf Nächten.
Der wilde Wind ist wach auf allen Wegen
Die ganze Nacht. Die blassen Blätter zittern,
Dann fallen kalte Tropfen; kaltes Rieseln
Ist Tag und Nacht an allen Fenstern, Gurgeln
Und Plätschern in der Rinne und am ärgsten
Das Rauschen nachts im angeschwoll’nen Mühlbach.
Wir können nicht mehr lesen in den Zimmern,
Wir müssen immer horchen auf das Rauschen
Der angeschwoll’nen Bäche. Und es dämmert
Unendlich lang. Dann wirds auch immer kälter.
Die Knechte sagen, dass es sicher schneit
Auf allen Bergen und auch bald herunten;
Doch sieht man nichts vor schwerem kalten Regen.
Die Knechte können nichts im Freien tun.
So sitzen sie den ganzen Tag beisammen
In einer niedern Stube, wo die Fenster
Vergittert sind und reden von Gespenstern:
Vom Sandmann, der die Kinderaugen tötet,
Vom toten Gast und von berühmten Mördern,
Besessenen und nächtlichen Vampiren.
Wir sitzen abends in dem weißen Zimmer,
Dem mit den alten unbequemen Möbeln
Aus der Kongresszeit, wo auch das Klavier steht …

 

Fast alle Verse schließen „weiblich“, also mit einer unbetonten Silbe – das trägt zur Eintönigkeit bei. Der letzte Vers schließt dabei kräftig, mit einer Nebenhebung auf „steht“, ehe alles im „…“ aus- und verklingt.

Erzählverse: Der Hexameter (69)

Emil Staigers „Die Kunst der Interpretation“

„Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte“ ist nun kein Hexameter-Werk, sondern Sekundärliteratur; aber ich stelle den Band hier trotzdem einmal vor, weil ich ihn für ein sehr lesens- und empfehlenswertes Buch halte trotz seines schon etwas fortgeschrittenen Alters (erschienen 1955 bei Atlantis).

Nach einem allgemeinen Kapitel zu Fragen der Interpretation folgen ein Briefwechsel zwischen Staiger und Martin Heidegger über Eduard Mörikes „Auf eine Lampe“ und dann Kapitel zu Werken von Klopstock, Lessing, Wieland, Schiller, Schelling, Mörike, Kerner, Gotthelf und Meyer; alle beachtenswert. Der Grund für das Auftauchen des Buches hier unter den Hexameter-Einträgen ist aber das Kapitel „Goethes antike Versmaße“, in dem Interessantes sowohl über Goethe als auch über den Hexameter zu erfahren ist.

Goethe hat zehn Jahre lang hexametrische Dichtung geschrieben. Staiger fragt sich nun, warum nicht vorher, warum gerade in diesen zehn Jahren, und warum nicht mehr danach?

Davor nicht, weil die „Stürmer und Dränger“ jedwedes Gesetz zurückwiesen, danach nicht, weil Goethe den iambischen Trimeter für sich entdeckt hatte. Über das „Dazwischen“ schreibt Staiger, beim „Eintritt in Weimar“ einsetzend:

„Die großen Meister drängen ihn nicht mehr zu außerordentlichem Gebaren; sie überzeugen ihn von dem freundlichen, lebensfördernden Sinn der Muster. Und also befreundet sich Goethe nun auch mit der Autorität des ältesten Verses der europäischen Poesie und bewegt sich ungehindert, frei – in seiner Sprache zu reden – ‘mit Behagen‘ in dessen Gesetz.“

Für den Hexameter und seine Regeln gilt, so Staiger weiter:

„Der Zufall des Lebendigen bleibt in zart umrissenen Grenzen gewahrt. Man möchte sich an die Verse erinnern:

 

Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür
Und Gesetz, von Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung,
Vorzug und Mangel erfreue dich hoch; die heilige Muse
Bringt harmonisch ihn dir, mit sanftem Zwange belehrend.

 

Goethe fasst so die Lehre von der Metamorphose der Tiere zusammen. Beinah jedes Wort aber könnte als Ehrung des Hexameters gelten, mit Fug; denn nach allem erweist sich: der Hexameter ist ein organischer Vers, ein Organismus, wie er in Goethes naturwissenschaftlichen Schriften steht.“

Die „Metamorphose der Tiere“ muss ich hier unbedingt auch mal vorstellen; sie hat auch über diese vier sehr beeindruckenden Verse hinaus noch vieles zu bieten. Das haben auch Staigers Ausführungen, aber ich belasse es mal bei dem vorgestellten und schließe mit einem von Staiger angeführten Zitat Wilhelm von Humboldts:

„Der ursprünglichste und älteste Vers der Griechen, der Hexameter, ist zugleich der Inbegriff und der Grundton aller Harmonien des Menschen und der Schöpfung.“

„Vielleicht zu feierlich im Ton“ klingt das für Staiger. Bestimmt; aber auch ziemlich eindrucksvoll …

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (30)

Robert Hamerlings „Homunkulus“ (1)

1887 erschien Robert Hamerlings „Homunkulus. Modernes Epos in zehn Gesängen“ – und war ein ziemlicher Erfolg. Warum, dazu später; hier möchte ich nur die allerersten Anfangsverse vorstellen. Also, erster Gesang, „Aus der Retorte“:

 

„Bravo!“ sagte der Homunkel,
Als er fertig, und hernieder
Von der riesigen Retorte
Sprang er auf den Tisch des wackern
Hoch- und tiefgelehrten Doktors
Und Magisters, welcher eben
Nach unsäglichem Bemühen
Mit den Mitteln der Chemie nur
Aus den ersten Elementen
Dargestellt und hergestellt ihn,
Zum Triumph der Wissenschaft.
„Bravo, Doktorchen!“ so rief er
Noch ein zweites Mal, indem er
Fröstelnd in ein Wämschen schlüpfte,
Welches schon für ihn bereit lag;
Und mit gnäd’ger Miene klopft‘ er
Auf die Achsel dem Erzeuger.
„So im Ganzen und vom reinen
Chemisch-physiolog’schen Standpunkt
Aus betrachtet, ist, mein Lieber,
Was du schufst, ein respektables,
Lobenswürdiges Stück Arbeit.
Im Detail, da wäre freilich
Mancherlei davon zu sagen.“
Also fortfuhr der Homunkel,
Ließ dann einige gelehrte,
Schätzenswerte Winke fallen,
Sprach von Albumin sehr Vieles,
Von Fibrin, von Globulin auch,
Keratin, Mucin und Andrem,
Und von regelrechter Mischung,
Und belehrte seinen Schöpfer
Und Erzeuger gründlich, wie er’s
Hätte besser machen können.
Musterte hierauf des Doktors
Hochgetürmten Bücherschragen,
Nahm ein Buch herab und streckte
Lesend sich in einen Lehnstuhl.

 

Hm. Hamerling selbst hat den ersten Gesang als „leichtes, satirisches Vorspiel“ bezeichnet, und das kommt hier auch schon heraus, denke ich?! Vom Vers her betrachtet scheint es mir so, dass der Satz hier doch sehr stark das Übergewicht hat; der Vers, die Acht-Silben-Einheit des Vierhebers wird nicht wirklich erfahrbar?! Das muss sicherlich nicht sein, aber für meine Begriffe macht das Erzählen in Versen mehr Sinn, wenn man diese Verse dann auch wahrnehmen kann, und zwar nicht nur mit dem Auge, im Schriftbild: sondern auch mit dem Ohr.

Na, einige wenige Verse noch, kurze Zeit später:

 

Allgemach begann zu kritteln
Und zu nörgeln an dem Buche,
Welches er in Händen hatte,
Der Homunkel. Int’ressant war
Dies dem Doktor, er notierte
Die Bemerkung in’s Notizbuch:
„Erste literar’sche Regung
Eines Menschleins – Rezensieren.“

 

Da macht sich der Vers dann wieder auf eine Art bemerkbar, die mir nicht recht gefällt: Er erzwingt Silbenausfälle in Worten. „Literar’sche“. Geht aber auch; Hauptsache, der Text findet einen eigenen Ton und hält ihn durch!

(Und „Rezensieren“ ist, wie dieser Eintrag beweist, nicht nur die erste Regung eines „Menschleins“. Ojemine.)

Nimm dies

Ein Apfel hängt an einem Ast.
Ein Knabe reckt und streckt sich. Fast;
Fast kann er ihn erreichen.
Er hüpft, er springt: Nichts. Nur ein Fast
Kind, nimm dies als ein Zeichen!

Erzählformen: Das Madrigal (7)

Komm, sage mir, was du für Sorgen hast

Es zwitschert eine Lerche im Kamin,
Wenn du sie hörst.
Ein jeder Schutzmann in Berlin
Verhaftet dich, wenn du ihn störst.

Im Faltenwurfe einer Decke
Klagt ein Gesicht,
Wenn du es siehst.
Der Posten im Gefängnis schießt,
Wenn du als kleiner Sträfling ihm entfliehst.
Ich tät es nicht.

In eines Holzes Duft
Lebt fernes Land.
Gebirge schreiten durch die blaue Luft.
Ein Windhauch streicht wie Mutter deine Hand.
Und eine Speise schmeckt nach Kindersand.

Die Erde hat ein freundliches Gesicht,
So groß, dass man’s von weitem nur erfasst.
Komm, sage mir, was du für Sorgen hast.
Reich willst du werden? – Warum bist du’s nicht?

 

Ein Gedicht von Joachim Ringelnatz, das die Erfordernisse eines Madrigals ganz gut erfüllt: Freie Anzahl der Hebungen, freie Reimstellung bei durchgängigem, hier: iambischem Metrum. Von dem wird nur leicht abgewichen – es gibt zwei versetzte Hebungen am Versanfang, „Klagt …“ und „Reich …“

Ein wenig lang ist es mit seinen 19 Versen; aber ich denke, man kann hier trotzdem von einem Madrigal sprechen.

Bemerkenswert dabei, wie sich der Schluss dann doch auf eine bestimmte Versart festlegt?! Die letzten sieben Verse sind betont schließende Fünfheber!

Erzählverse: Der iambische Trimeter (16)

„Ach nur einmal noch im Leben“ ist wieder einer dieser unnachahmlichen Plaudertexte Eduard Mörikes. Der Vers formt die Rede nur ganz leicht, fast kaum bemerkbar; und doch ist jederzeit klar, hier werden Verse vorgetragen. Ein Ausschnitt:

 

In meinem Garten aber (hieß‘ er nur noch mein!)
Ging so ein Hinterpförtchen frei ins Feld hinaus,
Abseits vom Dorf. Wie manches liebe Mal stieß ich
Den Riegel auf an der geschwärzten Gattertür
Und bog das überhängende Gesträuch zurück,
Indem sie sich auf rostgen Angeln schwer gedreht! –
Die Tür nun, musikalisch mannigfach begabt,
Für ihre Jahre noch ein ganz annehmlicher
Sopran (wenn sie nicht eben wetterlaunisch war),
Verriet mir eines Tages – plötzlich, wie es schien,
Erweckt aus einer lieblichen Erinnerung –
Ein schöneres Empfinden, höhere Fähigkeit.
Ich öffne sie gewohnter Weise, da beginnt
Sie zärtlich eine Arie, die mein Ohr sogleich
Bekannt ansprach. Wie? rief ich staunend: träum ich denn?
War das nicht „Ach nur einmal noch im Leben“ ganz?
Aus Titus, wenn mir recht ist? – Alsbald ließ ich sie
Die Stelle wiederholen; und ich irrte nicht!
Denn langsamer, bestimmter, seelenvoller nun
Da capo sang die Alte: „Ach nur einmal noch!“
Die fünf, sechs ersten Noten nämlich, weiter kaum,
Hingegen war auch dieser Anfang tadellos.

 

Wie leicht die Versbehandlung ist, kann man vielleicht an den zahlreichen „leichten“ Silben erkennen, die auf einer Hebungs-Stelle stehen?!

Und bog / das ü– / berhän– / gende / Gesträuch / zurück,

Das geht vor dem gleichfalls sehr schwachen „Ge-“ sicherlich, macht den Vers aber flüchtig?!

Für ih– / re Jah– / re noch / ein ganz / annehm– / licher

– Eine „leichte“ Silbe am Versende!

Ein schö– / neres / Empfin– / den, – / here – / higkeit.

Ein bemerkenswerter Vers durch die unerschiedliche Behandlung von „schöneres“ und „höhere“: im einen Fall – „schöneres“ – besetzt die zweite leichte Silbe „-res“ eine Hebungsstelle, wird als wichtig für den Vers herausgehoben; im zweiten Fall – „höhere“ – ist die zweite leichte Silbe „-re“ eine zusätzliche Silbe, die eigentlich gar nicht da sein bräuchte: Mörike macht von der Möglichkeit Gebrauch, ausnahmsweise zwei leichte Silben auf eine Senkungs-Stelle zu setzen. Beidesmal ein gesteigertes Adjektiv, beidesmal eine Verwendung, die leicht aus dem Trimeterrahmen fällt! Und obwohl es ganz unterschiedliche Abweichungen sind, fügt sich der Vers ganz wunderbar. Mörike war eben ein Mann mit einem sehr sicheren Gespür für Rhythmik …

Ach ja, wer wissen möchte, was die Tür denn da gesungen hat, die „mannigfach begabte“:

Deh per questo istante solo

– Das.

Ohne Titel

Ein Mensch auf einem Turm. Er schreit;
Der Wind trägt seine Schreie weit.
Wer Ohren hat, zu hören,
Der hört’s, der steigt auf einen Turm,
Der schreit: die Welt zu stören.