Bücher zum Vers (47)

Günter Waldmann: Produktiver Umgang mit Lyrik

„Eine systematische Einführung in die Lyrik, ihre produktive Erfahrung und ihr Schreiben“, heißt es auf der Titelseite, im Untertitel; und das durchaus zutreffend. „Für Schule (Primar- und Sekundarstufe) und Hochschule sowie zum Selbststudium“ ist dann auf der ersten Innenseite zusätzlich zu erfahren, auch das: zutreffend.

Also ein Buch, das, wenn auch für das Selbststudium geeignet, doch immer irgendwie nach Schule klingt; was man mögen muss. Lässt man sich nicht abschrecken, stellt Waldmann auf knapp 300 Seiten eine große Menge an Wissen vor, das beständig durch Übungen und Arbeitsaufträge abgesichtert wird; „produktive Erfahrung“ eben.

Unter „5.1“ geht es zum Beispiel um „Die Wortwiederholung (an Gedichten Kunerts, Enzensbergers, Brecht und anderer)“. Ich wähle ein Gedicht der „anderen“ – auf Seite 129 schreibt Waldmann:

Ein Beispiel für den kunstvollen Gebrauch von Anapher, Epipher und Complexio ist Goethes Vierzeiler:

 Alles geben die Götter, die unendlichen,
Ihren Lieblingen ganz:
Alle Freuden, die unendlichen,
Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.

Eine dreigliedrige (wenn auch nicht ganz reine: „Alles – alle“) Anapher verbindet die 1. mit der 3. und der 4. Zeile. Eine Epipher („ganz“) verbindet die 2. mit der 4., eine andere Epipher („die unendlichen“) die 1. mit der 3. Zeile. Beide Epiphern sind kreuzreimartig miteinander verschränkt und zusätzlich noch in der 4. Zeile („die unendlichen, ganz“) direkt miteinander verbunden. Die 1. und 3. Zeile weisen dieselbe Anapher und Epipher auf und bilden also mit ihnen eine Complexio.

Das liest sich einigermaßen trocken und geschäftsmäßig, ungerührt vorstellend, eben: schulmäßig?! Wie gesagt: Alle, denen das nichts ausmacht, sollten dem Band eine Chance geben; Wissen steckt einiges darin.

Erschienen bei Schneider (11. Auflage 2010)!

Erzählverse: Der Hexameter (68)

Gerhart Hauptmanns „Till Eulenspiegel“ (2)

Wie angekündigt: Der Rest des „ersten Abenteuers“. Nach der Begegnung mit den Behörden baut Till seine „Bude“ ab und zieht mit seinem Karren los. Hauptmann beschreibt Tills Gefährten so (wieder aus Hauptmanns gesammelten Werken, vierter Band, erschienen 1964 bei Propylän, Seite 601-613):

 

Und im Grund des Gefährts saß ein Käuzlein. Es rührte sich wenig.
Gift und Galle: So nannte der fahrende Landschelm die Pferdchen,
der, als lachender Gott, sie regierte und so eines weißen
Pudels Dienste genoss, den, wie manchen der Gilde, man Prinz rief.

 

Weit außerhalb der Stadt schlägt Till sein Lager auf. Dort begegnen ihm Ulrich, ein blinder ehemaliger Soldat, der den Krieg genausowenig los wird wie Till, und dessen Mutter. Till läd sie ein, und:

 

Dieser aß höchst vergnügt und genoss von dem Weine des Gauklers,
ward gesprächig und schien seiner Blindheit sich nicht zu erinnern.
„Köstlich“, sprach er, „ist so eine Nacht, wenn die Schauer der Stille
mit den wohligen Strömen der laulichen Luft sich vereinen,
gleichsam unter das Weltengewimmel der Sterne sich flüchten!
Und wie bleich das Gebirge sich dehnt in der schummrigen Ferne,
überirdischem Horte gediegenen Silbers vergleichbar
in den nächtlichen Tempeln und Schätzegewölben der Gottheit!“

 

Mit der Naturschilderung glättet sich auch der Vers, und die Hexameter klingen fast schon etwas kitschig. Doch der Ton ändert sich gleich wieder, den nun wird vom „Krieg geplauscht“:

 

„Über Zion“, sprach Till, „hing ich, kreisend, im dröhnenden Flugzeug.
Den gewaltigsten Traum, den ich jemals geträumt, träumt‘ ich damals,
von der Größe des Reichs, von der länderumgreifenden Weltmacht
deutscher Art und dem heilgen Beruf, der uns damit gesetzt war.
Deutschland träumte in mir, und sein Traum war geharnischt – das war er! -,
eisenschmetternd und Feuer auswerfend und donnernden Rauchdampf!“

 

Der Unterschied zu den vorigen Versen lässt sich auch beim Vergleich der Versausgänge erkennen: Stille, flüchten, Ferne, aber Flugzeug, Weltmacht, Rauchdampf! Bei Till sind die Schlusssilben viel schwerer und eigentlich nie mit „schwachem e“ besetzt.

Schließlich spielt Till noch auf der Zither und singt, er schildert

 

Rossewiehern, Trompeten und brausenden Ruf der Begeistrung,

 

doch dann bricht er plötzlich ab: Ihm sind tote Soldaten erschienen, die seine Musik nicht dulden. Einer sagt:

 

Wie du weißt: wir sind tot. Unser Vaterland hat uns erschlagen.
Grausam trieb’s mich hinein in den höllischen Sturm der Geschosse,
stolpernd starb ich, ins eigne Geschlinke die Füße verwickelt,
und ich lag zwanzig Tage, verwesend im eigenen Kote,
stank, solange die Lüfte verderbend mit giftigem Pesthauch!
Als man endlich den irdischen Rest zu bestatten die Zeit fand,
tat man es mit verbundenem Maul, unter Flüchen und Zoten.

 

Es ist also wirklich viel vom Krieg die Rede, und das bleibt auch so. In den folgenden Abenteuern erweitert sich der abgeschrittene Raum aber, es kommen mehrere Themen hinzu (der Pudel etwa bleibt nicht die einzige Verknüpfung mit Goethes „Faust“), und das ganze lässt den Leser nur schwer wieder los. Was in meinem Fall natürlich auch an Hauptmanns Hexameter liegt – ein seltsamer Vers, gleichzeitig anziehend und abstoßend. Oskar Loerke hat über ihn geschrieben:

Der Vers misst nicht, er er-misst, er zählt nicht, er er-zählt. Der Till-Vers ist einem Atemzuge vergleichbar, in sechs rhythmischen Schlägen zieht er vorüber; diese stellen sich unbefangen ein und setzen sich nicht gleichsam dem Vers auf den Nacken. Sie schalten nicht gleichmacherisch mit ihrem Inhalt. Der Atem wiederholt nicht das Unwiederholbare der Dinge, aber er freut sich an den Dingen, die nicht da wären, wenn er sich nicht wiederholte. Er hat durchblutende, ansaugende, erhaltende Kraft.

Das kann man so gelten lassen, denke ich?! Jedenfalls, wer Muße und Gelegenheit hat, sollte den „Till“ auf jeden Fall zur Hand nehmen – ein lohnender Text!

Das Distichon

Aus zwei Versen hinaus ins Unendliche wächst es und schenkt so
Glück den Sprechenden, Glück schenkt es den Hörenden auch.

Erzählformen: Das Reimpaar (5)

Ich hatte im ersten Eintrag zum „Reimpaar“ erwähnt, ich zweifele etwas an seiner Tauglichkeit, heute noch Mittel des verslichen Erzählens sein zu können. Einer der Gründe für diese Annahme sind die „Altlasten“ dieser Form!

 

Und sieh! und sieh! an weißer Wand
Da kam’s hervor wie Menschenhand;

 

Ein sehr bekanntes Reimpaar, wie das ganze erzählende Gedicht, aus dem es stammt: „Belsazar“ von Heinrich Heine. Aber so bekannt es auch ist, andere sind bekannter und zahlreicher:

 

Helene denkt: „Dies will ich nun
Auch ganz gewiss nicht wieder tun.“

 

– Aus Wilhelm Buschs „Die fromme Helene“. Auch das ist sicher ein erzählender Text, aber eher ein heiterer; und mit einem solchen Erzählen wird das Reimpaar, denke ich, auch erst einmal in Verbindung gebracht?! Und wer da im Reimpaar ernst erzählen möchte, der enttäuscht erst einmal Erwartungen und schreibt gegen enttäuschte Erwartungen an.

Ich stelle daher hier, als winzigkleines Gegengewicht, einen sehr unheiteren Reimpaar-Text vor, „Schnitzwerk an einem Hochaltar“ von Josef Weinheber, zu finden im zweiten Band von Weinhebers „Gesammelten Werken“, erschienen 1954 bei Müller, auf den Seiten 374 und 375:

 

Mit Schatten grau und Flammen rot,
das Leben hie und hie der Tod,
und Erd und Himmel, schön gestuft,
zum Lob befeuernd, wen es ruft,
und mit Gestalten um und an
und Bildern sinnvoll angetan
und durch und durch von Wundern groß,
so liegt die Welt in Gottes Schoß,
so steht die Zeit in Gottes Licht,
der Künstler, dem das Herz dran bricht,
der Meister, dem die Seel drin schmolz,
er schnitt es frommer Hand ins Holz,
und königliche Gloria
im Faltenwurfe siehst du da,
und Kron und Zepter schwerer Art
und Angesicht mit Rauschebart,
und Blattwerk, üppig auferbaut,
so seltsam, wie du’s nie geschaut,
und Macht, die wissend um die Welt
das Reich in hohen Händen hält.
Sei also leise, komm, tritt ein!
Hier ruht der Traum bei Brot und Wein,
das Herz, das fromm und gläubig schmolz,
will schlafen hier im braunen Holz,
all, was geschehen ist, geschah
in königlicher Gloria,
die Wölbung schweigt, die Stille lebt,
sieh, wie der Engel betend schwebt,
zu künden Gottes Kraft und Gunst:
Und dieses alles durch die Kunst.

 

Ein Text, der einfacher erscheint, als er ist, und dem in seiner Wirkungsweise nachzuspüren durchaus lohnt; und vor allem ein ernster Text, ganz und gar, wenn auch beschreibend und nicht erzählend.

Erzählverse: Der Hexameter (67)

Gerhart Hauptmanns „Till Eulenspiegel“ (1)

Hauptmann begann mit dem „Till“ im Frühjahr 1920. Wie der vollständige Titel

Des großen Kampffliegers, Landfahrers, Gauklers und Magiers Till Eulenspiegel Abenteuer, Streiche, Gaukeleien, Gesichte und Träume

angesichts des darin enthaltenen „Kampffliegers“ schon vermuten lässt, entstand das Epos vor dem Hintergrund des Weltkriegs. Hauptmann selbst sagt:

Mein „Till“ ist ein Werk, das nur aus der Nachkriegszeit entstehen konnte. Durch alle Poren drang die Zeit in diese Dichtung ein. Es war eine Art Notwehr gegen die Trübsal und die albhafte Problematik der Gegenwart.

Die Figur „Till“ hatte dabei in Krafft Christian Tesdorpf sogar einen wirklichen Kampfflieger als geschichtliches Urbild!

Insgesamt hat das Epos 15 umfangreiche „Abenteuer“, ist also etwas zu lang, um hier ausführlich vorgestellt werden zu können. Ich beschränke mich daher auf das erste Abenteuer! Hauptmann hat jedem Abenteuer eine kurze Inhaltsangabe vorangestellt; der so gestaltete Anfang, zu finden in Hauptmanns gesammelten Werken, genauer: im vierten Band, erschienen 1964 bei Propylän, auf Seite 601:

 

DAS ERSTE ABENTEUER

zeigt, wie Till Eulenspiegel sich zu Warmbrunn beträgt, und das Spiegelärgernis. Alsdann, wie er vom Kriege und einer Granate träumt, von einem Splitter getroffen zu sterben vermeint, aber statt dessen erwacht. Schließlich und endlich, was sich am nächtlichen Lagerfeuer zwischen Till, dem Blinden und seiner Mutter und überhaupt ereignet.

„Nur herein, nur hereinspaziert! meine Damen und Herren!
ohne Furcht, ohne Zagen! Der Krieg – Gott sei Dank – ist vorüber!
Gold ist freilich nicht mehr im Lande: das haben die Schweizer,
hat vor allem die Wallstreet. Wir aber, wir haben das Nachsehn!“
Der das rief in den wimmelnden Markt, vor der leinenen Bude,
war ein Mann von geschmeidigem Wuchse, er trug die Litewka,
trug die Wickelgamasche, die Erbschaft der feldgrauen Kriegszeit.
Und der Marktschreier schrie wiederum: „Nur herein, meine Damen!
Was sie drinnen bei mir zu sehen bekommen, es lohnt sich,
einem armen, entlassnen Soldaten sein Gröschlein zu gönnen!
Gerne geb ich’s, beim Hunde! zurück, wenn Sie irgend enttäuscht sind.
Doch Sie sind nicht enttäuscht, sondern treten heraus aus der Bude,
aus dem Zelt – es ist Leinwand, die mir an der Marne gedient hat! -,
ganz berauscht von der größten, der höchsten Entdeckung der Neuzeit,
wie der Himmel sie mir zum Entgelt in der Nacht unsres Unglücks
für den schmählich verlorenen Krieg gradezu ins Gesicht warf.
Was denn ist es? so werden Sie fragen, ein Serum für Starrkrampf,
um den sterbenden Körper des Reichs zu entgiften? ein Mittel
gegen Kriegspest und Schießruhr? ein Flugzeug, den Mars zu erreichen?
oder aber auch nur ein Haar in der Suppe des Sträflings,
jenem ranzigen Fraß, der dem Michel heut tägliches Brot ist?

 

Was der Besucher vorfindet, ist (es wundert nicht) ein Spiegel, in dem er sich selbst sieht. Von einem verärgerten Kunden angezeigt, muss Till auf die Wache, wird dort aber schnell wieder entlassen.

Wie liest sich nun Hauptmanns Hexameter? Ich glaube, man hört schon, dass er viel unruhiger ist als der Vers der klassischen Hexametristen. Ein Beispiel ist der zweite Vers:

ohne / Furcht, ohne / Zagen! || Der / Krieg – Gott sei / Dank – ist vor- / über!

Das erste „ohne“ ist vorne betont, das zweite ist gänzlich ohne Betonung; „Krieg“ ist betont, das völlig gleichwertige „Gott“ nicht. Das kann man wunderbar so lesen – das zweite, wiederholende „ohne“ klingt schwächer als das erste, erst Recht hinter dem schweren „Furcht“, die Redewendung „Gott sei Dank“ klingt „hinten betont“ vollkommen in Ordnung; doch setzt es eine sichere Kenntnis der Hexameterbewegung voraus? Die Sprache gibt aus sich heraus die Bewegung nicht vor, sie arbeitet sogar oft dagegen an und der Vortragende muss sie erst in den Hexameter „zwingen“, was für einige Spannung sorgt; aber eben auch sehr lebendig wirkt!

Von klassischem Gleichmaß ist jedenfalls nicht mehr viel zu hören, und dementsprechend ist Hauptmann von Kritikern, die Goethes Hexameter im Ohr hatten, auch sehr gerügt worden. Aber kann das im 20. Jahrhundert wirklich der alleinige Maßstab sein? Eigentlich handhabt Hauptmann den Vers nämlich mit Geschick. Joseph Gregor schreibt sogar, Hauptmann „braucht den Hexameter mit unerhörter Virtuosität“. Ob ich soweit gehen würde, weiß ich nicht; klar ist jedenfalls, dass Hauptmanns Vers nirgendwo nur darum unruhig oder zerrissen wirkt, weil es ihm an handwerklichem Können mangelt! In späteren Abenteuern kann es da auch schon mal geschehen, dass der Vers in Momenten höchster Erregung einfach zerbricht und einige Zeilen lang bloß rhythmische Prosa vernehmbar ist – aber auch das gehört zum Hauptmannschen Epos, und der Vers findet dann mit der Beruhigung des Beschriebenen immer zurück zum hexametrischen Maß.

Erzählverse: Der Knittel (12)

„Waldemar Atterdag“ ist ein nicht ganz so bekannter Erzähltext Theodor Fontanes, geschrieben aber wie seine „großen Balladen“ im Knittel. Der Anfang:

 

Und Waldemar (König Christophers Sohn),
Im Dome zu Ringstedt nahm er die Kron’,
Nun führt er die Herrschaft mit kluger Hand
Über Dänemark-Meer und Dänemark-Land,
Nie fasst ihn Jähzorn, nie treibt ihn Eil,
„Erst wägen, dann wagen.“ „Eile mit Weil.“
Und ob es zur Tat ihn auch drängen mag,
Auf den andern Tag schiebt er’s: „Atterdag“.

 

Die Verse wirken schnell, Fontane besetzt viele Senkungen mit zwei unbetonten Silben?! Die für den Knittel kennzeichnende gelegentliche Unklarheit über die Lage der betonten Silben begegnet hier in diesem Vers:

Nie fasst ihn Jähzorn, nie treibt ihn Eil,

Die erste Möglichkeit:

Nie fasst ihn Jähzorn, nie treibt ihn Eil,

Die zweite Möglichkeit:

Nie fasst ihn Jähzorn, nie treibt ihn Eil,

Man kann die Verhälften auch mischen, dann kommen noch zwei Möglichkeiten dazu. Ich lasse es aber bei diesen beiden. Möglich sind sie beide – die erste hält die doppelt besetzten Senkungen bei und fügt sich dadurch gut in den restlichen Text ein; die zweite fällt, in den Halbversen, in ein alternierendes Auf und Ab, was sonst im Text nicht häufig vorkommt, hier aber den Inhalt unterstützt, die ruhige, unaufgeregte Art Waldemars.  Jeder wähle, wie es ihm gefällt!

Wie schnell ein solcher Knittel werden kann und wie stark vorwärtsdrängend, zeigt der erste Vers des dritten Abschnitts:

Und ein Jahr und ein Tag, und auf Schloss Helsingör

Und ein Jahr und ein Tag, und auf Schloss Helsingör

x x X / x x X || x x X / x x X

Also: Sehr schnell. (Wobei das, nebenbei angemerkt, ja der Vers ist, der hier im Verserzähler in der „Bewegungsschule“ verhandelt wird; nur dass er im Knittel-Rahmen als Reimvers auftaucht.)

Ich hänge noch den wildbewegten vorletzten Abschnitt an; auch in diesem lohnt es sich sehr, den Bewegungslinien nachzuspüren. Vier Hebungen, immer! – wenn man diesem Grundgedanken folgt, findet man die entsprechenden Linien diesmal eigentlich ohne Anstrengung?!

 

Und wieder ein Jahr und auf Schloss Wordingborg
In Stille sitzt er und doch in Sorg’,
In Sorg’ um Heilwig. Auf seinem Sinn
Lastet die schöne Königin.
Es heißt, sie sei krank, ohne Schlaf ihre Ruh,
Aber ein Kämmerling flüstert ihm zu:
„Der Königin Krankheit ist Lug, ist Schein,
Sten Sture geht lachend aus und ein,
Er ist noch ein Knabe, noch halb ein Kind,
Das lieben die Frauen, wie Frauen sind.
Auf, Waldemar, stör ihre Lust, ihre List,
Zeige, dass du der König bist,
Überrasche Schön-Heilwig, erforsche sie, frag“
„Es würde sie töten – Atterdag.“

Erzählformen: Das Reimpaar (4)

„Der Reim ist immer ein Ende“, hat Josef Weinheber einmal festgestellt. Und das nirgends mehr als beim Reimpaar: Durch den Gleichklang entsteht ein zwei Verse großer, abgeschlossener Raum, wirkungsmächtig und eine Entscheidung fordernd vom Versemacher: fügt er sich diesem Abschluss, arbeitet er dagegen an, findet er ein ganz anderes Verhältnis?! Ein Verhältnis haben aber muss er, sonst werden seine Verspaare nicht lebendig.

Wie groß diese abschließende Wirkung ist, lässt sich vielleicht am Beispiel von vierzeiligen Strophen zeigen, die den iambischen Vierheber nutzen.

 

Er nickt mit seinem großen Haupt
Am Feuer eines fremden Herds:
Im Traum erblickt er einen Geist,
Der seines Purpurs Spange löst.

 

Die erste Strophe von Conrad Ferdinand Meyers „Napoleon im Kreml“. Die Verse sind ungereimt, der vom Satz zu füllende Raum ist daher die ganze Strophe, und die Gestaltung dieses Raums ist dem Satz überlassen – die stärkste Pause liegt nach dem zweiten Vers und teilt die Strophe mehr oder weniger hörbar in zwei Hälften.

 

Der Himmel hängt, wie Blei so schwer,
Dicht auf dem wildempörten Meer;
Ein englisch Segel, fast die Quer,
Schießt wie ein Pfeil darüber her.

 

Das ist die erste Strophe von Gottfried Kellers „Das Meer“. Diesmal sind die Verse gereimt, aber alle vier Verse haben den gleichen Reim; es ändert sich nichts wesentliches gegenüber Meyers Strophe, wieder sorgt der Satz für einen gliedernden Einschnitt in der Strophenhälfte.

 

Ich bin der Doktor Eisenbart,
Kurier die Leut nach meiner Art;
Kann machen, dass die Blinden gehn,
Und dass die Lahmen wieder sehn.

 

Der berühmte „Doktor Eisenbart“ nutzt nun zwei Reime, in Reimpaaren angeordnet; und das ändert auf einen Schlag alles! Jetzt gliedern die Reime die Strophe in zwei Hälften, und zwar viel stärker, als es bei Meyer und Keller der Satz tat; ihr Einfluss ist so groß, dass die Strophe auseinanderbricht und als Einheit kaum noch erkennbar ist – man könnte den Text auch als zwei Strophen setzen, von denen jede aus einem Reimpaar besteht!

Wie aber die Strophe trotzdem als Einheit kenntlich machen? „Doktor Eisenbart“ schafft das, indem bei der folgenden, langen Liste seiner „Behandlungserfolge“ immer dasselbe Grundgerüst verwendet wird: „Wo, wer, wie (zu Tode gekommen)?“ Ein Beispiel:

 

Zu Leipzig nahm ich einem Weib
Zehn Fuder Steine aus dem Leib;
Der letzte war ihr Leichenstein,
Jetzt wird sie wohl kurieret sein.

 

Wenn man als Versemacher diese Strophe ernst nimmt, muss man also sehr arbeiten, um die beiden Reimpaar-Hälften inhaltlich so eng aufeinander zu beziehen, dass sie als Einheit wahrgenommen werden können. Bevor die Gedichtewelt stumm wurde, hatte diese Strophe allerdings ein langes und erfülltes Dasein als Liedstrophe, und da hilft sicher auch die Melodie, die Stropheneinheit zu wahren. Aber sogar dann schadet es nichts, die beiden Reimpaare zu verleimen. Das wusste schon Martin Luther:

 

Vom Himmel hoch, da komm ich her.
Ich bring euch gute, neue Mär.
Der guten Mär bring ich so viel,
Davon ich sing’n und sagen will.

 

– Die dritte Zeile nimmt die zweite inhaltlich auf, und auch den (M)är-Reimklang des ersten Reimpaars?! (Und ja, es ist beinahe noch Sommer und sicher noch nicht Weihnachten. Aber es gibt im Supermarkt ja auch schon Lebkuchen.)