Erzählverse: Der Blankvers (49)

Es gibt heute nicht viele, die Romane schreiben und davon leben können; und noch weniger, die Gedichte schreiben und damit ihren Lebensunterhalt bestreiten?! Also geht man tagsüber einer Erwerbsarbeit nach und schreibt abends und nachts, Romane wie Gedichte.

Das war wahrscheinlich auch zu Adelbert von Chamissos Zeiten so, allerdings findet er am Ende seines Blankvers-Textes „Nachhall“ große und weihevolle Worte zur Beschreibung dieses Umstands, der auch gar nicht notwediges Übel ist, sondern Berufung! Er ruft den „jüngern Sangbegabten“ zu:

 

Esst euer Brot, das ist der Menschen Los,
In eures Angesichtes Schweiß; dem Tage
Gehöret seine Plage: spaltet Holz,
Karrt Steine, wenn die Not es von euch heischt;
Wann aber schlägt die Abendfeierstunde,
Und in des Himmels Räumen sich entzündet
Das Licht der Sterne, dann, Geweihte, schüttelt
Von euch die Sorgen, frei erhebt das Haupt
Und frei belebt die heil’ge Nacht mit Tönen;
Ruft in den Schlafenden die Träume wach,
Die Träume jener Welt, die in euch lebt;
Das Reich der Dichtung ist das Reich der Wahrheit,
Schließt auf das Heiligtum, es werde Licht!

 

Das kann man jetzt übertrieben und kitschig finden und hat damit sicherlich recht; trotzdem mag ich die Verse, wie überhaupt vieles von Chamisso. Das liegt, wie oft, am Klang; spricht man sich seine Blankverse vor, hört man immer wieder eine kleine Überraschung, einen Binnenreim zum Beispiel; und eine schöne, starke Bewegung.

Erzählformen: Die alkäische Strophe (5)

Ich möchte noch einmal auf die Bestimmung der alkäischen Strophe eingehen, die Wolfgang Binder gegeben hat (nachzulesen in 2).

x X x X x  | X x x X x X

– Das Silbenbild der ersten beiden Verse. Binder beschreibt die Versbewegung als Welle: Ein Steigen in den ersten fünf Silben, dann ein schnelles Fallen, das am Versende aufgefangen wird. Der dritte und der vierte Vers zeigen nun zusammen die selbige Bewegung, nur in einer doppelt so breiten Welle – das sieht man gut, schreibt man beide als einen langen Vers:

x X x X x X x X x | X x x X x x X x X x

– Das „Steigen“ hat den doppelten Umfang, vergleichen mit den ersten beiden Versen: vier Hebungen statt zwei. Das „Fallen“ genauso, zwei Hebungen statt einer, zwei doppelte Senkungen statt einer; dann folgt ein nur leicht längerer Versschluss, der die fallende Bewegung auffängt und beruhigt.

Drei „Wellen“ also. Nun muss man die Strophe nicht wie Binder auffassen und nicht dieses Bild benutzen; aber wenn man sich darauf einlässt, ist der Zeilenumbruch zwischen drittem und viertem Vers nur für’s Auge da und nicht aus der inneren Notwendigkeit der Strophe; und dann müsste die der alkäischen wie allen antiken Strophen offenstehende Möglichkeit zum ausgedehnten Zeilensprung hier häufiger sein als etwa zwischen dem ersten und dem zweiten Vers?!

Binder schreibt über Hölderlin, als er seine Formbestimmung gibt, daher hier eine alkäische Ode Hölderlins mittlerer Länge, „Ganymed“:

 

Was schläfst du, Bergsohn, liegest in Unmut, schief,
Und frierst am kahlen Ufer, Geduldiger!
Denkst nicht der Gnade du, wenns an den
Tischen die Himmlischen sonst gedürstet?

Kennst drunten du vom Vater die Boten nicht,
Nicht in der Kluft der Lüfte geschärfter Spiel?
Trifft nicht das Wort dich, das voll alten
Geists ein gewanderter Mann dir sendet?

Schon tönets aber ihm in der Brust. Tief quillts,
Wie damals, als hoch oben im Fels er schlief,
Ihm auf. Im Zorne reinigt aber
Sich der Gefesselte nun, nun eilt er,

Der Linkische; der spottet der Schlacken nun,
Und nimmt und bricht und wirft die Zerbrochenen
Zorntrunken, spielend, dort und da zum
Schauenden Ufer, und bei des Fremdlings

Besondrer Stimme stehen die Herden auf,
Es regen sich die Wälder, es hört tief Land
Den Stromgeist fern, und schaudernd regt im
Nabel der Erde der Geist sich wieder.

Der Frühling kömmt. Und jedes, in seiner Art,
Blüht. Der ist aber ferne; nicht mehr dabei.
Irr ging er nun; denn allzugut sind
Genien; himmlisch Gespräch ist sein nun.

 

Zeilensprünge überall, am Ende jedes der vier Verse einer Strophe genauso wie zwischen einzelnen Strophen; aber wirklich sind die Sprünge, die Einschnitte nirgends heftiger als zwischen dem dritten und dem vierten Vers?!

Einmal werden Artikel und Substantiv getrennt, einmal Adjektiv und Substantiv, zweimal Präposition und Substantiv – und die beiden verbleibenden Sprünge sind kaum weniger heftig. Die Einschnitte zwischen erstem und zweitem Vers sind dagegen bei weitem nicht so stark!

Insofern scheint etwas dran zu sein an Binders Bild – die dritte, die doppelt so breite Welle füllt die beiden letzten Verse, und weil sie die gehörte, wahrgenommene EInheit ist, können am geschriebenen Übergang vom dritten in den vierten Vers, im Druckbild also, heftige Zeilensprünge stehen; denn in Bezug auf die eigentliche Bewegung geht die Bewegung hier nur vom Steigen ins Fallen über, setzt aber nicht neu an; sondern bleibt die dem Ohr schon aus den ersten beiden Versen bekannte Welle.

Von dieser Grundvorstellung aus weiterzudenken hat seinen Reiz; aber das verschiebe ich auf den nächsten Eintrag zur alkäischen Strophe.

Ohne Titel

Wo einmal ein Friedhof war,
Weiden heute Schafe,
Grabsteinfarben, marmorwollig;
Zupfen hier am Totengras,
Rupfen dort und scheißen.

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (34)

Ludwig Tieck ist für die deutsche Literatur ein nicht ganz unwichtiger Mann; seine Verse und Gedichte allerdings galten schon den meisten seiner Zeitgenossen als schwer genießbar aufgrund ihrer nachlässigen Art, bei der sich die Form der Texte oft genug bis zur Unkenntlichkeit auflöste und Floskeln und Allgemeinplätze sich häuften. Aber irgendwas ist dann doch in ihnen enthalten, oft nur ein einziger Ausdruck, eine besondere Wendung … Mir ging es eben wieder so bei „Das Wasser“, zu finden in Tiecks Lustspiel „Kaiser Octavianus“ (auch ein eher wunderliches Werk). Der Anfang:

 

Heilig, reine, milde Flut,
Kind der Liebe, klares Wasser!

Als die neue Welt dem Zorne
War im ersten Sein erstarret,
Alle Kräfte ihr entflohen
Und ihr innres Herz erkaltet,
Schwebte sie ein harter Leichnam
Durch die leeren Himmelsbahnen,
In sich keine Lebensgeister,
Über sich nicht Sternverwandten.
Und es regte sich ein Schmerz,
Liebe ganz und ganz Erbarmen,
In den allerreinsten Himmeln,
Legte sich wie weiche Arme
Um den stumm gewordnen Busen
Und das Herz drinnen erwarmte:
Und es fühlte erst ein Zittern,
Dann ein tief erbebend Bangen,
Und es riss sich von der Furcht
Und dem ungewissen Zagen,
Gab sich ganz und voll dem Schmerz hin,
Dass umher nur Toten-Halle,
Alle Jugend ihm entschwunden
Und die Lust hinweg, die alte.

 

… Und immer so weiter, ein ganzes Stück noch. Die Verse sind gar nicht mal so ungeformt, da ja die geradzahligen Verse allesamt auf „a“ assonieren; aber reichlich schräg klingt es an vielen Stellen trotzdem. „Dass umher nur Toten-Halle“?! Von Metrums-Verrenkungen wie „Und das Herz drinnen erwarmte“ gar nicht zu reden.

Aber es gibt eben auch diese beiden Verse:

Und es regte sich ein Schmerz,
Liebe ganz und ganz Erbarmen

– Und die haben sich mir sofort eingeprägt und werden auch bleiben. Dafür sind ein paar Dutzend weniger gelungener Verse, die man liest und ohnehin sofort wieder vergisst, eigentlich kein zu hoher Preis …

Erzählformen: Die alkäische Strophe (4)

Ganz anders als Hölderlins Oden klingen die von Ludwig Hölty: sanfter und zarter und trauriger. Seine berühmteste Ode ist sicherlich „Auftrag“:

 

Ihr Freunde, hänget, wann ich gestorben bin,
Die kleine Harfe hinter dem Altar auf,
Wo an der Wand die Totenkränze
Manches verstorbenen Mädchens schimmern.

Der Küster zeigt dann freundlich dem Reisenden
Die kleine Harfe, rauscht mit dem roten Band,
Das, an der Harfe festgeschlungen,
Unter den goldenen Saiten flattert.

 

Eben eine „elegische Ode“; Karl Vietor hat sie in seiner Geschichte der deutschen Ode „das vielleicht vollkommenste Muster“ einer solchen elegischen Ode genannt und weiter so beschrieben:

„Die leichte, fließende Art dieses  Gedichts war für die deutsche Lyrik unerhört. Schlichtheit und kunstvolle Fügung hatte man noch nicht so verbunden gesehen. Bedeutender noch der bestimmte, natürliche Ton einer edlen, sanften Empfindung“ (S. 144, 145).

Auch andere haben sich Gedanken gemacht; wer mag, kann ja einmal bei Walter Hinck hineinlesen.

Was fällt auf in Bezug auf die Form?! Hölty wählt immer die einfache, schlichte Lösung („Altar“ betont er dabei „andersrum“, entgegen dem gewöhnlichen Gebrauch auf der ersten Silbe?!), wodurch die Strophe keinerlei innere Spannung bekommt; was dem gewünschten Tonfall entspricht. Ein gutes BeispieI dafür ist dieser Vers:

Manches verstorbenen Mädchens schimmern.

Wenn man da Versfüße unterlegt …

X x x / X x x / X x / X x

Manches ver- / storbenen / Mädchens / schimmern.

… wird die fehlende Spannung auch sichtbar.

In den ersten beiden Versen jeder Strophe beachtet er die Zäsur nach der fünften Silbe:

x X x X x | X x x X x X

– Wie schon erwähnt, das ist keineswegs immer so. Hält man sich aber daran, bekommt man zwei gut zu unterscheidene Halbverse – unbetonter Beginn, unbetonter Schluss | betonter Beginn, betonter Schluss, was zusammen mit der zweisilbigen Senkung den Vers erkennbar formt.

Alles in allem ein Text, der seine Wirkung tut. Hölty ist jung gestorben, hat aber einige wirklich gute Gedichte geschaffen in seinem kurzen Leben …

Das Königreich von Sede (55)

Schemel sieht, des alten Königs
Alter Narr, auf einer Mauer
Frösche sitzen, viele Frösche,
Und er will die Frösche zählen
Eingedenk des alten Sinnspruchs,
Dass, wenn jemand Frösche sehe,
Auf der Mauer, viele Frösche,
Und wenn wer die Frösche zähle,
All die Frösche auf der Mauer,
Und die rechte Zahl bestimme:
Dass ein Liebesglück bestimmt sei
Diesem Jemand, rein und dauernd.
– Schemel will die Frösche zählen,
Doch die Frösche zählten lang schon,
All die Lebensjahre Schemels,
Und nun hüpfen sie und wechseln
Ihren Standort unablässig,
Unablässig Schemels spottend
Und der Anzahl seiner Jahre.

Bücher zum Vers (54)

Reiner Wild: Goethes klassische Lyrik.

Etwas zu Goethes Lyrik zu lesen, schadet nie; und seine klassische Lyrik ist schon darum im Blickfeld des Verserzählers, weil es sich dabei um Texte in Hexametern und Distichen handelt – also Formen, die hier im Blog ausgiebig verhandelt werden!

Reiner WIld breitet auf 300 Seiten manches Wissenswerte aus, indem er erst  Goethes Weg zur klassischen Lyrik zeigt; und dann, worin sie bestand und was sie ausmachte. Ich gebe einen Abschnitt wieder, der auf die auch für heutige Versebauer wichtige Frage eingeht: Was bedeutet es, ein „antikes Maß“ zu wählen?!

„Das antike Maß markiert Distanz. Darin entspricht es Goethes italienischer Erfahrung der Antike; die Erfahrung der Fremdheit authentisch griechischer Kunstwerke und die Aufhebung dieser Fremdheit in der Verknüpfung von Natur und Kunst gehören zu den Voraussetzungen für seine produktive Aneignung der Antike. Distanz setzt das antike Versmaß aber auch zur eigenen Subjektivität (des Autors wie der Rezipienten). In seiner vorgegebenen Regelhaftigkeit ist es kein Medium des unmittelbaren Ausdrucks und taugt auch nicht dazu, den Schein solcher Unmittelbarkeit zum Ausdruck zu bringen. Die antike Form signalisiert vielmehr von vorneherein den Kunstcharakter des Gestalteten; sie ist Ausdruck von Artifizialität. Insofern markiert die Verwendung des antiken Versmaßes in der klassischen Lyrik gerade auch die Distanz, welche diese von der Antike trennt. Das antike Versmaß wird in der klassischen Lyrik gleichsam ‚zitiert‘, und die von Goethe genützte Spannung zwischen antiker Metrik und deutschem Sprachfluss lässt gerade auch diesen Zitatcharakter deutlich werden. Zugleich markiert das antike Versmaß aber auch – als ein ‚fremdes‘ Maß und als Zitat – Distanz zur Gegenwart, und in solcher Distanzierung bietet es die Möglichkeit der Gestaltung autonomer Kunst, signalisiert es als Zeichen der Artifizialität die Lösung der Kunst aus ihr vorgesetzten Zwecken. Damit aber wird, vermittelt über die Form, durch die das Kunstwerk sich als eigenständiges behauptet, erneut die Gegenwart zum Thema.“ (S. 190-191)

Nun ist Goethe schon ein ganzes Weilchen tot und das Verhältnis zur Antike heute ein ganz anderes als zu seiner Zeit; aber trotzdem kann ein wenig Nachdenken darüber, was geschieht, wenn man im 21. Jahrhundert ein Distichon in die Welt entlässt, ja nicht schaden?! Und da sind Wilds Ausführungen gar kein schlechter Ausgangspunkt.

Auffallend sind auch die vielen Gedichte Goethes, die Wild vollständig wiedergibt. Das kostet einigen Platz, ist mir aber sehr angenehm! Da kommt vieles wieder ins Gedächtnis, zum Beispiel dieses Distichon aus den gemeinsam mit Friedrich Schiller verfassten „Xenien“:

 

Die Sicherheit

Nur das feurige Ross, das mutige, stürzt auf der Rennbahn,
Mit bedächtigem Pass schreitet der Esel daher.

 

Da waren zwei auf Streit aus; und Streit haben sie bekommen bei ihrem gemeinsamen Ringen um die „Klassik“…

Erschienen ist „Goethes klassische Lyrik“ 1999 im Verlag J.B. Metzler.