Erzählformen: Der Zweiheber (2)

Zweihebige Verse können auch gereimt sein. Dann wirkt der Gleichklang, weil er schon sehr bald wiederkehrt, sehr stark und formt das Gedicht. Der größtmögliche Gegensatz zum Christian Morgensterns ungereimt fortlaufendem Text aus iambischen Zweihebern, in dem die Sätze sich über viele Verse erstreckten (siehe 1), ist vielleicht das „Liedchen“ von Joachim Ringelnatz:

 

Liedchen

Die Zeit vergeht.
Das Gras verwelkt.
Die Milch entsteht.
Die Kuhmagd melkt.

Die Milch verdirbt.
Die Wahrheit schweigt.
Die Kuhmagd stirbt.
Ein Geiger geigt.

 

 – (Kreuz-)Gereimte iambische Zweiheber, zwei Strophen also; in denen jeder einzelne Vers einen Satz enthält. Eine ganz andere Gestaltung, eine ganz andere Wirkung – auch wenn Zweiheber wenig Raum bieten, eingeschränkt zu fühlen braucht man sich als Verse-Schaffender nicht!

Go: Die alten Meister (39)

– Gleich im Anschluss ein eigenes Beispiel:

 

Strategem 13
Auf das Gras schlagen, um die Schlange aufzuscheuchen

Die alten Meister schlagen
Auf’s Gras, um so die Schlange
Aus dem Versteck zu jagen.

 

Wer mag – es stehen noch 34 Strategeme zur Verfügung …

Go: Die alten Meister (38)

In China sind die über 1500 Jahre alten „36 Strategeme“ fast jedem bekannt. Auch die alten Meister haben, seit Thomas Kettenring sie und die Strategeme zusammengebracht hat, Kenntnis der zeitlos-gültigen Ratschläge …

Strategem 12

Mit leichter Hand das Schaf wegführen

Die alten Meister schlendern
vorbei, und schon gehören
die Schafe den Entwendern.

(Thomas Kettenring)

Die Bewegungsschule (53)

Der „Bewegungsschulenvers“ und kein Ende …

1817 nennt J.H.F. Meineke das „tataTAM“ einen „sehr munter aufspringenden Tanzfuß“ und merkt weiter an, auf seiner Grundlage gebildete Verse „schicken sich mehr zur lyrischen als zur deklamatorischen Poesie, und zwar nur zu Liedern muntern Inhalts.“

Hm.

Schwierig, das; so ganz habe ich an diese Zuordnungen nie geglaubt … Sicher, jedes Versmaß hat seine Eigenarten und darum fällt es seinem Nutzer leichter, diesen Eigenarten entgegenkommende Inhalte darzustellen als solche, die diesen Eigenarten Widerstand leisten; aber dass es nicht geht, und dass so keine Wirkungen zu erzielen sind: Das ist einfach nicht so.

Zwei Jahre früher, 1815,  hat Lord Byron sein später äußerst bekanntes Gedicht „The Destruction of Sennacherib“ veröffentlicht, dessen erste Strophe so lautet:

 

The Assyrian came down like the wolf on the fold,
And his cohorts were gleaming in purple and gold;
And the sheen of their spears was like stars on the sea,
When the blue wave rolls nightly on deep Galilee.

 

– Und auch ohne die restlichen Strophen zu kennen, ist klar: hier wird deklamiert, zauf jeden Fall aber erzählt; und sonderlich „munter“ geht es nicht zu … Aber das Herannahen zu Pferde: Das wird sicherlich gut wachgerufen durch den tataTAM-Rhythmus!

Bemerkenswert auch, wie der dritte Vers den Grundvers überdeutlich ausprägt:

And the sheen / of their spears || was like stars / on the sea,
ta ta TAM / ta ta TAM || ta ta TAM / ta ta TAM

Der vierte Vers ist da viel freier meinem Empfinden nach, aber die gegebene Blaupause lässt keinen Zweifel aufkommen?!

Erzählformen: Der Zweiheber (1)

Zweihebige Verse sind von ganz eigener Art. In ihrer Kürze bieten sie wenig Raum, der Sprung in die nächste Zeile ist sehr üblich; trotzdem wollen und müssen sie als eigenständige Einheit erfahrbar bleiben. Ein gutes Beispiel, wie das im eher erzählenden Gedicht gelingen kann, gibt Christian Morgenstern:

 

 Der Wissende

Wer einmal frei
vom großen Wahn
ins leere Aug
der Sphinx geblickt,
vergisst den Ernst
des Irdischen
aus Überernst
und lächelt nur.

Ein Spiel bedünkt
ihn nun die Welt,
ein Spiel er selbst
und all sein Tun.
Wohl läßt er’s nicht
und spielt es fort
und treibt es zart
und klug und kühn –
doch lüftet ihr
die Maske ihm:
er blickt euch an
und lächelt nur.

Wer einmal frei
vom großen Wahn
ins leere Aug
der Sphinx geblickt,
verachtet stumm
der Erde Weh,
der Erde Lust
und lächelt nur.

 

– Passend zum getragen-gelassenen Grundton kommen nur ganz regelmäßige iambische Zweiheber zum Einsatz, „x X / x X“; ungereimte noch dazu. Das könnte abgehackt wirken und einförmig, aber das lässt Morgenstern nicht zu; die Art, wie er jeden Vers als eine Sinneinheit in einen durchströmenden Satz einbaut, zeugt von viel Versverständnis, glaube ich! Am Ende steht jedenfalls ein überzeugender Text.

Erzählformen: Die Brunnen-Strophe (10)

In der Ausgabe der Werke Justinus Kerners, in der ich gerade lese, schreibt der Herausgeber Raimund Dissin: „Das Gebiet seiner Dichtung ist begrenzt, wie seine Persönlichkeit begrenzt ist: der Grundton seines Wesens ist der Schmerz; so ist auch Schmerz der Grundton seiner Poesie.“

 

Die schwerste Pein

Im Feuer zu verbrennen
Ist eine schwere Pein,
Doch kann ich eine nennen,
Die schmerzlicher mag sein.

Die Pein ist’s, das Verderben,
Das Los, so manchem fällt:
Langsam dahinzusterben
Im Froste dieser Welt.

 

– Wenn Kerner nicht selbst die Sache mit dem Schmerz bezeugt hätte im Vers, „Noch fließt die Quelle meiner Lieder: / Denn ihre Quelle ist der Schmerz“ – man käme wahrscheinlich auch so darauf anhand solcher doch eher hemdsärmligen Geradeaus-Gedichte wie dem hier vorgestellten; für die sich die Brunnen-Strophe aber vorzüglich eignet! Der Gedanke findet sich noch einmal in einem Zweizeiler aus dem Nachlass  …

 

Martyrtod in Feuersgluten, o wie bist du Kleinigkeit,
Denk‘ ich an die Pein, zu sterben in dem Froste uns’rer Zeit!

 

… der eigentlich ein Vierzeiler aus trochäischen Vierhebern ist; ein vergleichender Blick lohnt sich da?!

Bücher zum Vers (83)

Seamus Heaney: Verteidigung der Poesie.

Nicht unmittelbar auf den Vers bezogen, aber trotzdem sehr lesenswert: Die 1996 bei Hanser erschienene deutsche Ausgabe von „The Redress of Poetry“, einer Sammlung von Vorlesungen aus Heaneys Zeit als Professor für Poesie in Oxford. Zu erfahren gibt es dabei mancherlei Nachdenkenswertes über englische Dichter von Christopher Marlowe bis zu Dylan Thomas und Elizabeth Bishop; einer der mir am stärksten im Gedächtnis gebliebenen Sätze steht aber im Kapitel, das sich mit John Clare beschäftigt:

Trotz seines Rufs als Bauerndichter beherrschte Clare das Repertoire vorgeschriebener Stile und Techniken aus dem Effeff: Heutzutage würde jede Universität, die Metrik-Workshops für Fortgeschrittene anbietet, Headhunter auf einen so fähigen und kenntnisreichen Dichter ansetzen.

Universitäten, die Metrik-Workshops anbieten?! Keine Vorstellung, auf die ich so ohne weiteres gekommen wäre …

Wortvergnügt (0)

Wer mit Sprache gestaltet, greift in der Regel nicht unmittelbar auf die Alltagssprache zurück, sondern verändert sie je nach seinen Bedürfnissen; es entsteht eine „Dichtersprache“. Diese Dichtersprache ist mal mehr, mal weniger von der Alltagssprache unterschieden, immer aber zählt zu ihr das Nutzen von Wörtern, die in der Alltagssprache selten oder gar nicht vor kommen, oder von Wörtern, die sogar erst neu geschaffen werden für den Einsatz in einem Gedicht oder Prosa-Text!

Möglichkeiten dazu hat die deutsche Sprache genug. Diese Möglichkeiten sollten aber nicht um ihrer selbst willen genutzt werden, sondern im Dienste einer bewussten Darstellungsabsicht. Wie bei vielem anderen lohnt es auch hier, bei Friedrich Gottlieb Klopstock vorbeizuschauen, der in seiner Jugend eine Dichtersprache vorgefunden hat, die im Geiste der Aufklärung stand und der Alltags-, beziehungsweise der Prosasprache nahezu gleich war; und der dann darangegangen ist, eine anschließend weit in die deutsche Dichtung hineinwirkende eigene Vers-Sprache zu schaffen.

Eines seiner wichtigsten Anliegen war dabei die Kürze des Ausdrucks, die (unter anderem) durch die Bildung von Zusammensetzungen zu erreichen ist: nicht „von fern herweinende Stimmen“, wie sich in der ersten Auflage von Klopstocks Messias findet, sondern „fernherweinender Stimmen“, wie er in späteren Auflagen dafür setzte und was die Präposition „von“ einspart, wodurch der Ausdruck einmal eigenständiger wirkt, weniger eingebunden in den Sinnzusammenhang; und zum anderen auch ungewohnter, neu, und damit den Leser – wortvergnügt zurücklässt.

Ohne Titel

Wenn den Ziegen und den Lachsen
Noch und nöcher Federn wachsen,
Wächst in Lachsen und in Ziegen
Auch die Sehnsucht, fortzufliegen.

Die Bewegungsschule (52)

Ich habe den Abend damit verbracht, in Stefan Zweigs „Der Kampf mit dem Dämon“ zu lesen. Zu Friedrich Hölderlins Gedichten sagt Zweig unter anderem:

Diese Entwicklung zur Freiheit, dieses Sich-Losreißen, Sich-Selbstherrlichmachen des Rhythmus (auf Kosten der Bindung und geistigen Ordnung) geht im Hölderlinschen Gedichte ganz allmählich vor sich: zuerst hat er den Reim, die klirrende Fußkette von sich gestoßen, dann das über die breitatmende Brust zu enge Kleid der Strophe gesprengt; antikisch nackt lebt nun das Gedicht seine körperhafte Schönheit aus und eilt wie ein griechischer Läufer dem Unendlichen entgegen. Alle gebundenen Formen werden dem Inspirierten allmählich zu enge, alle Tiefen zu seicht, alle Worte zu dumpf, alle Rhythmen zu schwertönig – die ursprünglichste klassische Regelmäßigkeit des lyrischen Baues überwölbt sich und bricht, der Gedanke schwillt immer dunkler, mächtiger, gewitterhafter aus Bildern empor, immer tiefer und voller wird gleichzeitig das rhythmische Atemholen, großartig kühne Inversionen binden oft ganze Strophenreihen in einen Satz zusammen – aus den Gedichten werden Gesänge, hymnischer Anruf, prophetische Schau, heroisches Manifest.

Ja … Etwas weniger wortgewaltig gesagt: An Hölderlin führt, macht man sich Gedanken über die Art, wie sich Verse bewegen, kein Weg vorbei; und auch wenn es viele Gründe gibt, eine Hölderlin-Ausgabe im Schrank zu haben – seine wunderbare Bewegungs-Kunst ist darunter nicht der schlechteste.

Nochmal Zweig:

Die ersten Zeilen seiner Hymnen haben immer etwas vom Kurzen, Abrupten, Losschnellenden eines Abstoßes, das Verswort muß immer erst fort von der Prosa des Daseins, um sich einzuschwingen in sein Element. … Hat sich Hölderlin aber einmal in die Begeisterung abgestoßen, so flutet ihm der Rhythmus gleichsam wie feuriger Atem von der Lippe, wunderbar bindet sich in kunstvollen Verschränkungen die schwere Syntax, die blendendsten Inversionen kontrapunktieren sich mit einer strahlenden, einer zauberhaften Leichtigkeit: durchsichtig wie feinster Stoff, wie die gläserne Schwinge eines Insektes lässt das „wehende Lied“ durch seine klingenden, leuchtenden Flügel den Äther und sein unendliches Blau fühlen.