Erzählformen: Die Chevy-Chase-Strophe (2)

Auch Johann Martin Miller nutzt für seinen „Ritter Richard“ die Grundform der Strophe. Der Anfang des Textes:

 

Der Ritter Richard sah einmal
Das Fräulein Adelgund,
Und herzlich tat er seine Qual
Ihr unter Tränen kund;

Und wurde bald erhört. Es sprach
Die Lieb‘ aus ihrem Blick,
Sie sahen sich an jedem Tag,
Und täglich wuchs ihr Glück.

 

Knapp auf den Punkt gebracht; und das können solche Strophen wirklich gut! Allerdings sind die Verse sehr kurz, und vor allem Dreiheber haben oft die Schwierigkeit, in ihrem schmalen Raum eine Handlung so darzustellen, dass Spannung und Dramatik fühlbar werden. „Ritter Richard“ beispielsweise ist später im Text fort, und „Fräulein Adelgund“ schwenkt in dieser Zeit auf „Ritter Robert“ um, den sie sogar zu ehelichen gedenkt; was „Ritter Richard“ nicht gut aufnimmt:

 

Ein frischgeflochtner Blumenkranz
Umschlang ihr blondes Haar,
Und alles ging, in Prunk und Glanz,
Mit ihnen zum Altar.

Des Priesters Stimme schallte schon,
Sie sprachen beid‘ ihr Ja.
Gott segn‘ euch!Fluch euch! hallt‘ ein Ton,
Und flugs war Richard da;

Und stieß das Schwert mit einem Stoß
Ins Herz dem Bräutigam,
Dass quellend sich sein Blut ergoß
Und schwarz am Altar schwamm;

Und mit der andern Hand ergriff
Er ungestüm das Weib,
Und stieß das Schwert, noch rauchend, tief
Ihr in den falschen Leib.

 

Mir scheint, es fehlt in den letzten beiden der angeführten Strophen ein wenig der Nachdruck, die Überzeugungskraft, die dem (blutigen) Geschehen angemessen wäre? Vielleicht lohnte es sich, bei verschiedenen Verfassern nachzuschauen, wie sie solche Tötungen schildern – um mit Hilfe welcher Verse!

 

Er wirft sein Schwert, das blitzend des Jünglings Brust durchdringt,
Draus statt der goldnen Lieder ein Blutstrahl hoch aufspringt.

 

Das ist aus Ludwig Uhlands „Des Sängers Fluch“ und das erste, was mir in den Sinn kam … Weil es nachdrücklicher ist? Und das durch die Langverse möglich wird?!

Erzählformen: Die Chevy-Chase-Strophe (1)

Die Chavy-Chase-Strophe ist eine sehr robuste Erzählstrophe eigentlich englischen Ursprungs, die viel Anklang gefunden hat in der deutschen Dichtung! Sie sieht so aus:

x X / x X / x X / x X a
x X / x X / x X b
x X / x X / x X / x X a
x X / x X / x X b

– Also eine kreuzgereimte Strophe, in der sich iambische, männlich schließende Vierheber mit iambischen, männlich schließenden Dreihebern abwechseln! Die Senkungsstellen können gelegentlich mit zwei unbetonten Silben besetzt sein, was der Strophe mehr Schwung und Vielgestaltigkeit verleiht; „Die Wahl“ von Gottlieb Konrad Pfeffel, ein recht frühes Beispiel der Strophe, nutzt aber die Grundform:

 

Graf Hunerich, ein deutscher Mann,
Hielt sich und seinem Weib,
Frau Hedwig, einen Schlosskaplan
Zum frommen Zeitvertreib.

Der Mönch vergaß beim leckern Tisch
Des Grafen sein Brevier;
Aß auch am Freitag selten Fisch,
Trank lieber Wein als Bier.

Einst weckt ihn was um Mitternacht;
Da stand in stillem Grimm,
Gehörnt, in schwefelgelber Tracht,
Fürst Luzifer vor ihm.

Wähl, sprach er, unter dreien eins:
Ermorde Hunerich,
Entehr‘ sein Weib, sauf dich voll Weins,
Sonst hol‘ ich morgen dich.

Er wählt die Flasche, treibt berauscht
Mit Hedwig frevle Lust,
Und stößt dem Mann, der sie belauscht,
Ein Messer in die Brust.

Erzählformen: Das Madrigal (26)

Christoph Martin Wieland erzählte gerne in Versen, und er tat es gut: Leicht und abwechslungsreich fließen ihm die Sätze durch die Verse. Ein Beispiel aus seinem „Schach Lolo“, mit dem schon bekannten Wechsel von Vier-, Fünf- und Sechshebern bei freier Reimstellung, ist der Beginn eines typischen Tages im Leben des „Helden“:

 

Schach Lolo streckt sich, gähnt, bohrt in der Nase, dreht
Die Augen, und so fort – kurz, steht ein wenig dummer
Als gestern auf, verrichtet sein Gebet,
Wird abgewaschen, angezogen,
Beräuchert, nimmt sein Frühstück, geht
In seinen Divan – wo, sobald die goldne Türe
In ihren Angeln knarrt, die Emirn und Wesire
(Als Erdgeschöpfe, die den Glanz der Majestät
Mit bloßen Augen nicht ertragen)
An seines Thrones Fuß die Sklavenstirnen schlagen.
Der Großwesir verrichtet nun sein Amt,
Und Lolo, der indes mit hohen Augenbrauen
Im Staate sitzt und sich mit Betelkauen
Die Zeit vertreibt, begnadigt und verdammt,
So wie sich’s trifft, die Bösen und die Frommen.

 

Das liest sich, als wäre es im Augenblick hingeworfen worden; doch auch, dass man dem Text die viele Arbeit, die es kostet, diesen Eindruck zu erwecken, nicht ansieht, gehört zu seinem Wert!

Erzählverse: Der iambische Dreiheber (2)

Nicolaus Götz hatte diese gewisse Leichtigkeit und Nachlässigkeit, die ein anakreontisches Gedicht unbedingt braucht und die sich im ungereimten iambischen Dreiheber besonders leicht verwirklichen lässt. „Der flüchtige Amor“:

 

Jüngst sah ich den Cupido
Am Feuer brauner Augen
Sich kleine Pfeile schmieden;
Da trat ich etwas näher,
Und guckte zu, und lachte.
Da sprüheten auf einmal
So viele Feuerfunken
Auf seine nackten Glieder,
Dass er entfliehen wollte;
Doch seiner Flügel Spitzen,
Die waren schon versenget,
Und konnt‘ er nicht mehr weiter
Als in mein Herze flattern.

 

– Ausschließlich einsilbige Bauwörter vorn, was ähnlich zu werten ist wie die ausschließlich zweisilbigen Wörter am Versende in Wilhelm Müllers Text aus (1): das ist die leichteste und flüchtigste Art, diesen Vers zu gestalten – das doppelte „da“ ist ein Zeichen dafür. Und dass der Satzbau genauso nachlässig wie alles andere gehandhabt wird, zeigt der Schluss … Aber wie immer: Reizlos ist das alles nicht!

Bücher zum Vers (87)

Dietrich Krusche: Haiku. Japanische Gedichte.

Dieses dtv-Taschenbuch, 2008 in elfter Auflage erschienen, fiel mir heute beim Umstellen eines Regals wieder in die Hände, und das Blättern darin rief mir ins Gedächtnis, dass es trotz seines Alters, zuerst erschien der Band 1970, und der gewaltig gewachsenen Beliebtheit des Haiku  immer noch eine schöne Einführung ist! Krusche übersetzt 150 klassische japanische Haiku wirksam ins Deutsche und erklärt das Wesen dieser Gedichte darüber hinaus in einem lesenswerten Essay, dessen am Rande eingestreuter Vergleich zwischen der japanischen und deutschen Sprache auch ein Licht auf die rein deutschen Gedichte  wirft:

Das Verb spielt nicht, wie in einem deutschen Satz, die entscheidende Rolle, oft fehlt es ganz – ein anderes Wort, etwa ein Eigenschaftswort, schließt die Verbaussage mit ein. So mehr assoziativ als grammatisch-logisch verbunden, behaupten die Worte ihr Eigenrecht stärker, sind nicht eingeordnet in einen alles bezwingenden, alles miteinander in Beziehung setzenden Aussagebogen. (Seite 130)

Das „Eigenrecht der Worte“: Eine Größe, über die beim Fertigen eines Gedichts mehr nachgedacht werden sollte, als das oft der Fall ist?!

Erzählformen: Das Distichon (29)

Etwas, für das immer wieder geworben werden muss, ist der Verzicht auf die harte Gegenüberstellung der beiden Pentameterhälften! Daher hier ein Distichon von Heinrich von Kleist:

 

 Die unverhoffte Wirkung

Wenn du die Kinder ermahnst, so meinst du, dein Amt sei erfüllet;
Weißt du, was sie dadurch lernen? Ermahnen, mein Freund!

 

Der Satz geht über die Pentameter-Mitte und damit das Zusammentreffen der beiden schweren / betonten Silben einfach hinweg, um zwei Silben später aber doch zu enden:

Weißt du, / was sie da- / durch || lernen? Er- / mahnen, mein / Freund!

Das macht den Vortrag etwas anspruchsvoller, weil ja nun sowohl die Satz- als auch die Verspause hörbar gemacht werden muss; aber gerade dadurch gewinnt der Vers, denn die Spannung zwischen Satz und Vers wirkt immer frisch und lebendig!

Erzählverse: Der iambische Vierheber (10)

In seinem „Hyperion“ schreibt Friedrich Hölderlin eine sehr rhythmische und sich darin dem Gedicht zuneigende Prosa. Immer wieder erstaunlich, wie lang die Abschnitte sind, die im steten Wechsel von betonten und unbetonten Silben dahinströmen; und auch als Verse gesetzt werden könnten!

 

Wenn euer Garten so voll Blumen ist,
Warum erfreut ihr Odem mich nicht auch?
– Wenn ihr so voll der Gottheit seid,
So reicht sie mir zu trinken.
An Festen darbt ja niemand,
Auch der Ärmste nicht.
Aber einer nur hat seine Feste unter euch,
Das ist der Tod.
Not und Angst und Nacht sind eure Herren.
Die sondern euch,
Die treiben euch mit Schlägen aneinander.
Den Hunger nennt ihr Liebe,
Und wo ihr nichts mehr seht,
Da wohnen eure Götter.
Götter und Liebe?

 

Die erste Silbe ist mal betont, mal unbetont – aber sonst? Erst ganz am Ende gibt es eine „zweisilbige Senkung“ im Vers! Klar, es sind keine Verse; aber die Sätze bewegen sich wie solche, und manchmal bilden sie sich sogar zu richtigen Strophen aus, wie dieser aus iambischen Vierhebern:

 

Des Herzens Woge schäumte nicht
So schön empor, und würde Geist,
Wenn nicht der alte stumme Fels,
Das Schicksal, ihr entgegenstände.

 

Das könnte wirklich eine Strophe sein?! Gut, der vierte und letzte Vers endet im Gesgensatz zu den drei Versen davor mit einer unbetonten Silbe; aber das Kennzeichnen des Strophenendes durch eine leichte metrische Veränderung ist ja nichts unübliches!

Gründe, immer mal wieder in den „Hyperion“ zu schauen, gibt es viele; der Bewegung seiner Sätze nachzuspüren, ist darunter nicht der schlechteste.

Ohne Titel

Angesichts der Wörterdiebe,
Die mir stehlen, was ich liebe,
Bleibt mir nichts, als nachzuzählen,
Ob schon wieder Wörter

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (52)

Johann Wilhelm Ludwig Gleim war ein Meister der wohlgefälligen Nichtigkeit. „Der Wert eines Mädchens“:

 

Neulich sprach ich mit den Bergen,
Und sie priesen mir ihr Silber,
Und den Schatz in goldnen Adern,
Und sie wollten mir ihn schenken,
Und ich wollt‘ ihn zu mir nehmen;
Aber, da ich nehmen wollte,
Sprang ein Mädchen aus dem Busche,
Gleich verließ ich Gold und Silber.

 

Der erste Vers hat seinen Reiz und weckt die Neugier; vielleicht stärker, als  die nachfolgenden Verse, und da besonders die beiden Schlussverse, es rechtfertigen. Aber so einen schnurgerade aufs Ziel zusteuernden, und dadurch geradezu nackten Text: muss man sich erst einmal trauen. Oder man ist Anakreontiker – dann ist diese Art zu schreiben eine Selbstverständlichkeit …

Der Vierheber formt sich entsprechend schlicht und dienend aus: zum Beispiel schließt jeder Vers mit einem zweisilbigen Wort, dessen zweite Silbe ein „schwaches e“ als Vokal hat! Das ist sehr nah an der „Alltagssprache“, für gewöhnlich bemühen sich die Verfasser, die Vokale der unbetonten Schluss-Silben abwechslungsreicher zu gestalten; ab und an eine etwas schwerere Schluss-Silbe einzumischen; und einsilbige Wörter in den Versausgang zu stellen. Gleim unterlässt alles das, aber nicht, weil er nicht geschickt genug dazu gewesen wäre als Dichter – nein: diese Schlichtheit gehört zum anakereontischen Gedicht.