Erzählverse: Der trochäische Vierheber (53)

Der schriftstellernde Onkel des berühmten Johann Georg Hamann wurde vom Verserzähler schon vorgestellt in Wortvergnügt (1); hier folgt nun sein Sohn Johann Michael Hamann!

 

Der Knoten

Aus der roten Busenschleife
Künstlich einen Knoten schlagend,
Gab ihn Janthe mir zu lösen.
Doch ich marterte vergebens
Sinnen, Aug‘ und Fingerspitzen.
Janthe! Janthe! Einen Knoten
Von so schöner Hand geschlagen
Löset selbst Hephaistos nimmer.

 

Das ist … annehmbar, aber sicher keine große Dichtkunst, ein Urteil, das Hamann in der „Vorrede“ seiner „Poetischen Vesuche“ mit erfrischender Offenheit bestätigt:

Übrigens gelobe ich Lesern und Rezensenten, nie wieder Verse drucken zu lassen, mit denen ich selbst unzufrieden bin. Bei sehr vielen in diesem Bändchen ist dies der Fall. Nur war mir vor der Hand eine strengere Selbstkritik unmöglich. Genug, dass ich wenigstens noch ein Viertel in meinem Pult zurückließ. Wer will auch von einem leichtgesinnten Jünglinge, der nicht mehr als  vier Lustren zählt, die unerbittlich weise Schärfe verlangen, welche Männer üben, die nach acht Lustren ihre sämtlichen Werke herausgeben?

Na ja – Hamann ist auch später nicht über Texte „im Stil von …“ hinausgekommen; aber eine solche Vorrede, die ist ziemlich einmalig. Vielleicht sollte auch heutzutage der eine oder andere Verfasser derart ehrlich mit seinen Lesern sein?!

Erzählformen: Das Distichon (31)

In „letzte Liebe“ führt Novalis (wie sich Friedrich von Hardenberg ja nannte) einen Vergleich über zwei Distichen aus – sinnvollerweise (das Distichon ist meist nicht nur eine metrische, sondern auch eine Sinn-Einheit!) enthält jedes eine Hälfte des Vergleichs:

 

Wie aus dem Schlummer die Mutter den Liebling weckt mit dem Kusse,
Wie er zuerst sie sieht und sich verständigt an ihr:
Also die Liebe mit mir – durch sie erfuhr ich die Welt erst,
Fand mich selber und ward, was man als Liebender wird.

 

Ein wenig haltlos, das alles – es sind doch einige Hebungen mit sehr schwachen Silben besetzt, und in den ersten Hexameter eine Zäsur zu legen, um ihn zu verlangsamen, ist nicht ganz einfach. Trotzdem ein gelungenes Distichonpaar, schein mir; es ist auch eine frische Leichtigkeit spürbar, ohne dass die Nachdrücklichkeit des Gedankens darüber verloren geht. Und es gibt Ausdrücke zu bestaunen, die heute nicht mehr recht üblich sind: „Sich an jemandem verständigen“. Sehr anziehend!

Immer wenn

Still steht an meinen Fenster
Ein Kaktus, grün und klein,
Und scheint der Mond herein,
Beginnen die Gespenster,

Die dort zusammenkamen,
Im silberhellen Glanz
Des Mondlichts bald den Tanz
Mit den Gespensterdamen.

Im Takt des Schweigens finden
Zwei Seelen, von der Zeit
Vergessen, sich bereit,
Auf ewig sich zu binden –

Auf Kaktusstachelspitzen
Seh ich dann, wohlbewacht
Vom Zauber dieser Nacht,
Gespensterpärchen sitzen.

Erzählverse: Der iambische Dreiheber (4)

Die bisherigen Beispiele für den iambischen Dreiheber stammen aus der anakreontischen Tradition, was heißt: es waren leichte, tändelnde, spielerische Stücke. Der in diesem Beitrag vorgestellte Text findet sich dagegen in den Liedertagebüchern Friedrich Rückerts (hier dem von 1855), was einen ganz anderen Ton zum Klingen bringt: die sich selbst genügende Kargheit der Rückertschen Altersdichtung!

 

Im Winter streu‘ ich Brocken
Den Sperlingen vors Fenster
Und denke, dass im Sommer
Sie meine Kirschen fraßen:
Fräßet ihr bald sie wieder!
Nicht dass ich ihnen lieber
Sie gönnt‘ als mir, doch gönnt‘ ich
Uns beiderseits den Sommer.

 

Das sind Verse, gegen die sich manches sagen lässt, nicht zuletzt in Bezug auf die große Menge an Pronomen in der zweiten Hälfte des Textes; aber eindringlich sind sie doch, und einnehmend, auf ihre ganz eigene Art.

Bücher zum Vers (88)

Hermann Patsch: Alle Menschen sind Künstler. Friedrich Schleiermachers poetische Versuche.

Die Sammlung der Dichtversuche Schleiermachers erschließt der deutschen Literatur keinen neuen Dichter, aber sie fügt dem Bild des bedeutenden Theologen, Philosophen und Philologen eine bisher weitgehend unbekannte Facette hinzu, die (zugleich) typisch für die romantische Bewegung ist. Sie nimmt den Autor dort ernst, wo er sein Scheitern erprobt und erlebt; einen Autor, der sich dieses Scheitern eingestand und der dennoch – vielleicht gerade deshalb – der Dichtungstheorie, wie seine Vorlesungen über Ethik und Ästhetik zeigen, nicht den Abschied gab.

– So Patsch in der Einleitung (genauer: auf Seite 3) dieses 1986 bei deGruyter erscheinenen Bandes. Kann ein solcher 250 Seiten langer Nachweis eines „Scheiterns“ lesenswert sein? Er kann es, er ist es; auch, weil auf so großem Raum Platz ist für viele über Schleiermacher hinausgehende Bezüge in seine Zeit hinein und ihre Dichtung. Der eigentliche Kern aber ist tatsächlich Schleiermachers Scheitern als Dichter – in einem Brief an Henriette Herz schrieb er diesen schonungslos offenen Satz:

Verse werde ich wohl machen lernen, aber keine Poesie.

Und so kam es … Wobei manches gelungene zu finden ist unter Schleiermachers Versen, dieses Distichon zum Beispiel:

 

Schöpfung

„Lass uns ein Bild nun schaffen, uns gleich“, sprach Gott zu der Erde;
Darum ist irdischer Gott, göttliche Erde der Mensch.

Märchenhaft

Von einem Stern (unendlich viele
gibt es, und darum)
lässt Rapunzel ihr Haar herunter,
immer weiter (sie weiß).

Von der Strophe

Im Nachwort des Bandes „Friedrich Gottlieb Klopstock. Ausgewählte Werke“, erschienen 1962 bei Hanser, schreibt Friedrich Georg Jünger bezüglich der Anfordernisse, die an eine Strophe gestellt werden, folgendes (Seite 1357):

Bei der Komposition der lyrischen Strophe bleibt vieles zu bedenken. Die Verse dürfen wegen ihrer Leidenschaftlichkeit nicht die Länge epischer Verse haben. Die Strophe darf, weil sie als Einheit sich dem Ohre mitzuteilen hat, nicht zu viele Verse haben. Die Verse dürfen in der Zahl der Silben, Takte, Kola nicht alle gleich oder gleichartig sein, denn die leidenschaftliche Bewegung verlangt den Abbruch längerer Verse gegen kürzere. Der einzelne Vers muss seine Selbstständigkeit dem Gesetz der Strophe unterordnen, denn erst durch diesen Gehorsam entsteht eine kompositorische Einheit der Strophe. Der Wuchs der Strophe zeigt sich darin, dass die Verse sich nicht gegeneinander absetzen, sondern, ihre Selbstständigkeit ohne Furcht aufgebend, sich umarmen und verschlingen.

Und das, so Jünger, gilt für die Nachahmung antiker Strophen ebenso wie für einheimische Strophen. Ich denke, da hat er sehr recht – und deswegen gehört doch einiges mehr dazu, zum Beispiel eine antike Oden-Strophe zu meistern, als bloßes Vollschreiben eines Betonungsmusters; und das Einschreiben in eine solche Form ist immer mit Nachdenken verbunden, mit dem Versuchen und Vergleichen und Verwerfen – von heute auf morgen lässt sich das jedenfalls kaum erreichen!

Ähnliches gilt auch, will man eigene Strophenformen erfinden. Vorbild ist da unbedingt Klopstock, und darum soll nun auch eine der von ihm ersonnenen Strophen hier den Abschluss bilden!  Der Anfang von „Die frühen Gräber“:

 

Willkommen, o silberner Mond,
Schöner, stiller Gefährt‘ der Nacht!
Du entfliehst? Eile nicht, bleib, Gedankenfreund!
Sehet, er bleibt, das Gewölk wallte nur hin.

 

Wunderbar. Wer mag, kann sich ja das Silbenbild erstellen; und sich überlegen, ob und wie die von Jünger genannten Strophen-Merkmale hier verwirklicht worden sind …

Homer-Begeisterung

Homer ist auch heute noch ein bekannter und großer Name; trotzdem macht man sich schwer eine Vorstellung, wieviel er den Gebildeten des späten 18. Jahrhunderts bedeutet hat – und da besonders: den Dichtern.

Ich bin heute wieder einmal daran erinnert worden, als ich in Friedrich Gottlieb Klopstocks Briefen gelesen habe und dabei in einem von Klopstock an Gottlob Friedrich Ernst Schönborn gerichteten Brief vom 8.8.1776 diese Stelle fand – es geht dabei, mehr oder weniger, um das Baden in der Ostsee:

Stolberg deklamierte einmal Verse aus Homeren (bald aus dem Originale, bald aus seiner Übersetzung); und ich machte die Gestus dazu, auf der Fläche des Wassers nämlich und ihm oft ins Gesicht. Wenn er es mit Poseidaonen zu laut machte und es gar selbst sein wollte, so bekam er solche Wellen ins Gesicht, dass er fliehen musste.

Homer deklamieren, im Original, während des Badens?! Hm. Stolberg, das ist: Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, hat aber nicht nur Homers Ilias übersetzt, sondern den griechischen Epiker auch in eigenen Gedichten behandelt. Der Anfang von „Homer“ (1775):

 

Heil dir, Homer!
Freudiger, entflammter, weinender Dank
Bebt auf der Lippe,
Schimmert im Auge,
Träufelt wie Tau
Hinab in deines Gesanges heiligen Strom!

 

Das ist nun allerdings ein Tonfall, der dem 21. Jahrhundert sehr fremd geworden ist … Ganz anders, und heutigen Ohren wohl auch verständlicher, klingt ein Jahr später (also 1776, das Jahr, in dem auch Klopstock seinen Brief schrieb) die erste Strophe von „Bei Homers Bilde“:

 

Du guter, alter, blinder Mann,
Wie ist mein Herz dir zugetan!
Nimm dieses Herzens heißen Dank
Für deinen göttlichen Gesang.

 

Da spricht eine große Liebe und Begeisterung; und wenn man sich Stolbergs Ilias anschaut, findet man dort ähnliches. Die Zeit ist über diese Übersetzung hinweggegangen, aber man kann sie doch immer noch hervorholen, dann und wann, und mit Gewinn lesen!