Apolog

Hast du jemals den Schwank vom Fuchs und vom Kranich gelesen?
Etwas ähnliches, Freund, hab ich vor kurzem erlebt.
Hab‘ ich, ich las und vergaß über ihm Speise und Trank.

 

Das Ursprungsdistichon findet in den Xenien Goethes und Schillers.

Erzählformen: Der Zweiheber (28)

Das reine Erzählen ist Zweiheber-Texten eher fremd. Adelbert von Chamisso wagt es in „Untergang“ trotzdem:

 

Zu des Meeres
Dunklem Schoße
Senkte trauernd,
Blut’gen Scheines,
Sturmverkündend
Sich die Sonne.

Nächtlich hebet
Dumpf herbrausend
Sich des Sturmes
Wilder Fittich.

In dem Streifen
Roher Winde
Ziehn die Wolken,
Oft des Mondes
Silberstrahlen
Nächtlich hemmend.

An des Ufers
Felsenriffe
Brechen schäumend
Sich die Wogen;
Ihr Ertosen
Scheint die Stimme
Von der Erden,
Die den Donnern
In den Höhen
Klagend ruft.

Und es nahen
Ferne Donner,
Dumpf verhallend.

 

– Man merkt: Da ist eine Spannung zwischen den kurzen Versen und ihrem Wunsch, als Einheit erfahrbar zu werden, und dem Wunsch der Handlung (oder, hier erst einmal: Der Beschreibung), stetig und ungestört fortzuschreiten. Aber es verträgt sich doch, irgendwie, auch im weiteren Verlauf; der Text umfasst noch viele, wenn auch kurze Verse!

Das Wie wechselt, das Was bleibt

Grabschrift des Nitulus

Hier modert Nitulus, jungfräuliches Gesichts,
Der durch den Tod gewann: er wurde Staub aus Nichts.

 

„Grabschriften“ waren zu allen Zeiten ein beliebter Gegenstand des Epigramms; geändert hat sich nur die Form, in der sie erscheinen: Von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an wurden sie eher in Distichen verfasst, davor häufig in sogenannten „Alexandriner-Couplets“, das sind durch den Reim gebundene Paare von Alexandrinern, die gleichfalls ein hohes Maß an Geschlossenheit aufweisen.

Hier ist es Gotthold Ephraim Lessing, der das in sehr überzeugender, wenn auch wenig netter Weise bestätigt! („jungfräuliches“ ist eine inzwischen aufgegebene Art der Deklination; damals ging das.)

Erzählformen: Das Distichon (56)

Felix Dahn setzt die Bedingungen in Deutschland gegen die des (antiken) Mittelmeerraums ab:

 

Nicht ragt glänzend und rund mir von thrakischem Steine die Villa
Und die Charitinnen nicht stehen im Atrium mir,
Nicht, von Platanen bedacht, dehnt weit sich die sand’ge Palästra:
Nicht aus staubigem Schlauch wird mir Falerner geschenkt:
Nicht umspület das Haus mit der sanften ausonischen Welle,
Bis in das dienende Meer waglich gemauert, das Bad:
Hart ist unser Geschlecht und die alabasterne Glätte
Edelster Formengewalt weigert sich unserer Kunst:
Horch, der Hexameter selbst, wie er seufzt in der Fessel des Deutschen!
Ach, der Verwöhnte verlangt reichere Tonmelodie.

 

Spannend ist dabei einmal die wiederholte Voranstellung des „nicht“, die der Versrahmen ermöglicht, innerhalb dessen der Satz sich freier ordnen kann (wobei diese vorangestellten „nicht“ schon Johann Heinrich Voß in seinen Homer-Übersetzungen mit guter Wirkung gebraucht hat); und sicherlich der Verweis auf den Hexameter, ausgestaltet im Hexameter; einem ziemlich gelungenen, wie ich finde, dernicht wirklich „seufzt“!

Erzählformen: Die Chevy-Chase-Strophe (6)

Wie die meisten vierzeiligen Strophen kann auch die Chevy-Chase-Strophe durch angefügte Verse erweitert werden. Fügt man ein Reimpaar aus iambischen Vierhebern an, entsteht diese sechszeilige Strophe:

x X / x X / x X / x X a
x X / x X / x X b
x X / x X / x X / x X a
x X / x X / x X b
x X / x X / x X / x X c
x X / x X / x X / x X c

Wie immer bei der Reimanordnung ababcc kann das schließende Reimpaar epigrammatisch-nachdrücklich genutzt werden; wird die Strophe erzählend gebraucht, ist das weniger der Fall, wie zum Beispiel in Nikolaus Lenaus „Der Raubschütz“, an dessen Beginn dem Leser der Müller Jacob zu mitternächtlicher Stunde gezeigt wird; es stürmt, als plötzlich:

 

Die Tür geht auf, er fährt empor:
Wer kommt zu solcher Stund?
Ein Weidmann mit dem Feuerrohr,
Mit seinem Stöberhund,
Hahnfeder, Gemsbart auf dem Hut,
Das grüne Wams befleckt mit Blut.

Der Müller starrt, zurückgebeugt,
Dem Jäger ins Gesicht,
Sein Haar entsetzt zu Berge fleugt,
Sein Blut zum Herzen kriecht:
Der Raubschütz ists, der wilde Kurd,
Der jüngst im Wald erschossen wurd.

 

Die Zweiteilung der Strophe ist zwar da, wird aber nicht wirklich betont! Die zweite Strophe von „Der Freundschaftsbund“ von Johann Heinrich Voß trennt etwas deutlicher:

 

Erbarmend sah des Lebens Müh
Der Menschen Vater, schwieg,
Erschuf die Freundschaft, wog, und sieh,
Des Elends Schale stieg.
Da sprach der Vater: „Es ist gut!“
Und alles Leben hauchte Mut.

 

Da wird vielleicht auch schon ein gewisser Grundton, eine Grundstimmung der Strophe hörbar? Das Volks- und Küchenlied klingt nicht viel anders („Der Räuber Willibald“, zweite Strophe) …

 

Einst raubt er eine Jungfrau fein
Und führt sie in den Wald
Und sprach: Mein Kind, jetzt bist du mein!
Ich heiße Willibald.
Jetzt will ich kühlen meine Lust
An deiner zarten weißen Brust.

 

… und das Liebeslied auch nicht („Winterlied“ von Gottfried August Bürger, erste Strophe):

 

Der Winter hat mit kalter Hand
Die Pappel abgelaubt,
Und hat das grüne Maigewand
Der armen Flur geraubt;
Hat Blümchen, blau und rot und weiß,
Begraben unter Schnee und Eis.

 

Insgesamt eine schöne, runde Strophe, die auszuprobieren sich lohnt!

Umkehrung

Friede mit der Welt

Lebe von der Welt geschieden,
Und du lebst mit ihr in Frieden.
Willst du dich mit ihr befassen,
Höre, was dir widerfährt!
Du musst lieben oder hassen;
Keines ist der Mühe wert.

 

Ein kurzer, knapper, einprägsamer Text von Friedrich Rückert, der zumindest bezüglich seiner Gedichte und zumindest in seinen späten Jahren ganz zufrieden damit war, „von der Welt geschieden“ zu sein …

Die Form ist dabei einen zweiten Blick wert – es gibt eine sechszeilige Strophe, die in den alten Zeiten ziemlich beliebt war, und wie Rückerts Text aus gereimten trochäischen Vierhebern besteht; nur lautet das Reimschema da ababcc, ein auch in anderen Strophen geläufiger Aubau, in dem auf einen Kreuzreim ein Paarreim folgt, der die Form nachdrücklich-einprägsam schließt.

Diesen Paarreim stellt Rückert an den Anfang, und auch hier liefert er eine griffige Erkenntnis; die vier kreuzgereimten Verse folgen erklärend nach, verlaufen dann aber nicht haltlos ins Nichts, sondern schaffen mir der trocken dahingesagten Behauptung des letzten Verses ihrerseits einen schönen Schluss- und Ruhepunkt.

Erzählformen: Das Distichon (56)

6. Psalm (Anfang)

Strafe mich nicht, o Herr! in deinem erschrecklichen Zorne,
Züchtige mich doch nicht! Vater, aus Eifer und Grimm:
Sei mir gnädig, o Herr! denn ich bin schwach und erschrocken:
Heile mich, himmlischer Arzt! meine Gebeine sind schwach.

 

Nun sind die Psalmen ja nicht in Distichen geschrieben – was geht also hier vor? Nun: Johann Christoph Gottsched gebührt der Verdienst, sich als einer der ersten um praktikable deutsche Hexameter und Distichen bemüht zu haben. Dafür hat er in seinem „Versuch einer critischen Dichtkunst“ 1730 unter anderem auch den sechsten Psalm in Distichen übertragen. Bleibt natürlich die Frage, welches Maß an Eigenständigkeit ein solcher Text durch die Versifikation gewinnt … In einer hier gerade herumliegenden (Luther-)Bibel geht der Anfang des Psalms so:

Ach Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn, und züchtige mich nicht in deinem Grimm! Herr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach; heile mich Herr, denn meine Gebeine sind erschrocken.

– Jeder mache sich sein eigenes Bild … Gottsched selbst schrieb zu seinem Versuch:

Meines Erachtens fehlt nichts mehr, als dass einmal ein glücklicher Kopf, dem es weder an Gelehrsamkeit, noch an Witz, noch an Stärke in seiner Sprache fehlet, auf die Gedanken gerät, eine solche Art von Gedichten zu schreiben; und sie mit allen Schönheiten auszuschmücken, deren sonst eine poetische Schrift, außer den Reimen, fähig ist.

Uns so kam es – keine zwanzig Jahre später schrieb Klopstock seinen „Messias“, und danach waren die nachgebildeten antiken Versmaße nicht mehr wegzudenken aus der deutschen Dichtung. Was Gottsched dann auch wieder nicht recht war; aber das ist eine andere Geschichte.