Erzählverse: Der trochäische Fünfheber (21)

Ich glaube, die guten Dichter unterscheiden sich von den schlechten nicht dadurch, dass sie bessere Verse machen – einen guten Vers bekommt auch der Stümper hin, der Unterschied liegt darin, dass bei den Könnern jeder Vers eines Gedichts gut ist.

Rochus Otto Manderup Heinrich zu Lynar (welch Name!) beginnt sein Erzählgedicht „Die Kellnerin“ so:

 

Auf der breiten, kunstgerechten Straße
Fuhr ich einsam hin, verdrießlich sinnend;
Und des Unmuts wetterschwere Wolken
Türmten sich am Horizont der Seele.
Eilst du wieder, sprach ich zu mir selber,
Zu dem reichen Markte, wo die Güter
Aller fremden Zonen leicht sich tauschen;
Wo ein ewig reges Leben waltet
Und ein Jeder zu erwerben trachtet?

 

Das klingt doch gar nicht schlecht! Aber als „Ich“ – wie nach dieser Einleitung nicht anders zu erwarten – in einem Gasthaus einkehrt, wandelt sich etwas im Ton:

 

An dem Tisch‘, aus kühlem Stein‘ gehauen,
Setzt‘ ich auf die kleine Bank mich nieder,
Harrend, dass man mir Erfrischung reiche.
Da erschien, wie aus der Fabel Zeiten,
Mir ein feenhaftes Wesen, lieblich,
Wie die jüngste Nymphe dieses Tales,
Reizend, wie man sich die Hebe dachte,
Wenn sie einem Sterblichen erschienen,
Ihn durch Himmelsgabe zu vergöttern;
Und ich musste die umwölkten Sinne
In die Wirklichkeit gewaltsam rufen,
Um das holde, reizend schöne Mädchen
Als des Wirtes Tochter zu begrüßen.

 

Das klingt schon sehr viel weniger eigenständig?! Noch nicht wirklich schlecht, und der trochäische Fünfheber fängt sicher auch einiges auf; aber Dinge wie das „holde, reizend schöne Mädchen“ sind eine Leerstelle, eine Versfüllung …

Bild & Wort (216)

Hm. Ich habe viele Schach-Strips gemacht unter dem Titel „… und MATT!“; dieser hier ist wohl auch Nichtschachspielern verständlich?!

Erzählformen: Das Distichon (66)

„Wechselrede im Blankvers“ führte der letzte Eintrag vor; „Wechselrede im Distichon“ ist es diesmal.

 

Reinhold Forsters Grab

Der Wanderer
Grab, wen beherbergst du?

Das Grab
Den gewaltigen Reisegefährten
Cooks, den ein Unglücksgestirn einst nach Owhyhee geführt.

Der Wanderer
Herrlicher! Du, dem zu eng vier geräumige Weltteile schienen,
Bergen vier Bretter dich nun ewig in finsterer Gruft?

Das Grab
Klage nicht! Sieh, es beschifft nur des stillen Ozeans Straße,
Ruhiger Heimat zusteuernd, der Dulder aufs neu:
Dieses Haus hier verschließt sein lästiges Reisegeräte.
Wanderer, wünsche dem Greis eine geruhige Fahrt!

 

So Johannes Daniel Falk. Redende Gräber finden sich in Gedichten dieser Art häufiger; spannend aber die Aufteilung des ersten Hexameters, und der Pentameter

Ruhiger / Heimat / zu|| steuernd, der / Dulder aufs / neu:

ist bemerkenswert, weil der den Einschnitt in der Mitte des Verses, das Zusammenstoßen zweier schwerer Silben, mit einem dreisilbigen Wort „überdeckt“! Das ist eigentlich nicht vorgesehen – Conrad Beyer sagt  in seiner „Deutschen Poetik“, das sei eine Stelle im Vers,

wo auch im Lesen eine Pause zu machen ist, so dass diese als Incision erscheint. Es ist ein Fehler, dass August Wilhelm Schlegel diese Incision durch ein umklammerndes Wort überbrückt hat, vergleiche sein „Rom“: „Priamus auch und des schwert- || schwingenden Priamus‘ Volk.“

Nun ja. Die Dichter haben trotzdem gemacht, was sie wollten, und wenn derartige „Umklammerungen“ auch nicht häufig sind – man findet sie, und gar nicht  sooo selten! (Die Art, wie sie Schlegel handhabt, gefällt mir dabei besser als die Falks.)

Erzählverse: Der Blankvers (94)

Der Blankvers kann so gut wie alles, und daher auch: ein Gespräch abbilden. Wenn man es allerdings mit dem Umgangssprachlichen übertreibt, und dann noch viele Sprecheinsätze hat, kommt auch dieses Maß an seine Grenzen! Ein Beispiel sind „Die spielenden Kinder“ von Christian Friedrich Scherenberg:

 

Wohin führt diese Straße, Kind? „Wohin?
Das wisst Ihr nicht einmal! In unser Dorf.“
In euer Dorf! Das hätt‘ ich allerdings
Wohl wissen können. ’s ist wohl groß? „Ach! Das da
Sind alles meine Brüder, die da spielen.“
So. Und was spielen sie denn? „Nichts – sie spielen –
Sie bauen – graben Erde auf und zu.“
Was baut ihr? „Vaters Haus – bau’n Vaters Haus!“
In’s Fahrgeleis! Der heiligen Sicherheit!
Des Vaters Haus? Da seid ihr liebe Kinder!
„Ach ja, wir kommen alle in den Himmel.“
So? „Ja.“ „Das heißt, wenn wir recht artig sind.
Ich bin schon älter, Herr.“ Das höre ich.
Wo ist der Himmel denn? „Da!“ Ja, da ist er:
Wohin ihr seht, da ist der Himmel auch.
Ja: Da! Mehr sagt auch nicht der Weisteste.
Ich spiele mit. Ihr grabet auf – ich zu –
Dazwischen liegt das Spiel. Nicht wahr, Vernünft’ger?
Lasst euch nicht stören! „Stören lassen sie
Sich nicht.“ Hast Recht – der eitlen Sorgen nur!
Wie sie es fassen, halten, das warme Jetzt,
Das frisch-unmittelbare Sein des Lebens!
Da ist Gedanke, Wille, Tat nur eins,
Ein einz’ger Griff nur Same, Blüte, Frucht,
Und alles Blüte wieder im Genuss.
Wer störte sie, die Herrn der Welt. Sie haben.

 

– Und immer so weiter noch ein ganzes Stück lang. Das wäre auch dann schwer zu lesen, meint: es wäre schwer, den Vers als Einheit hörbar werden zu lassen, wenn die Hebungen deutlicher beetzt wären als hier an vielen Stellen; so, wie es ist, ist es eine ziemliche Herausforderung! Am Schluss dieses Abschnitts sind es ausnahmsweise einmal „richtige“ Blankverse, und da ist dann sofort ein großer Unterschied vernehmbar.

Erzählformen: Die Brunnenstrophe (18)

Frösche sind beim Verserzähler recht häufig vertreten, da sie im „Königreich von Sede“ eine der Hauptrollen spielen! Da wundert es nicht, wenn ich beim Durchsehen von Gedichtsammlungen besonders auf Froschgedichte achte. Heute fiel mir eines von Karl Geisheim auf, „Frühlingsmusikanten“, aus dem ich drei Strophen vorstelle:

 

Quak, quak! so ging’s im Teiche,
Quak, quak! stimmt alles ein:
Kommt, kommt, ihr lieben Leute,
Der Frösche Gast zu sein.

Denn wahre Hexenmeister
Die Herren Frösche sind;
Man sieht sein blaues Wunder,
Wenn ihr Gesang beginnt.

Das fahle, graue Röckchen
Der Mutter Erde schwand,
Frosch rief sich einen Schneider,
Der hat es Grün gewandt.

 

Das ist … harmlos, aber immerhin auf recht niedliche Weise harmlos; und in der Brunnenstrophe auch in einer Form dargestellt, die diese Harmlosigkeit gutheißt und lächelnd unterstützt. Wobei die Frühlingskünste der Frösche am Ende noch relativiert werden:

 

Da will der Frosch wohl sagen:
Seht, das hab‘ ich gemacht;
Doch wird er ob des Dünkels
Dann billig ausgelacht.

 

Geisheim gibt noch den Hinweis „nach der Melodie von ‚Für fünfzig alte Weiber'“; da mir das aber nichts sagt im Moment, verweise ich auf Paul McCartneys We all stand together, mit dem es eine, äh: Schnittmenge gibt. Frösche, zum Beispiel; und man wundert sich …

Erzählformen: Das Distichon (65)

„Der Markt und der Hafen“, von Peter Treschow Hanson, ist ein eigenartiger Text. Kein guter, aber einer, der die Zweigliedrigkeit des Distichons auf überraschende Art nutzt:

 

Stöhnend ziehet den Karren das Gaul und es knarren die Räder;
Still vor’m säuselnden Wind teilet die Wellen das Schiff.
Ärgerlich schwinget die Peitsch‘ der verdrossene, mürrische Treiber;
Unter ermunterndem Ruf hebt sich das Segel und fällt.
Ach! wie es schüttelt und holpert in Kot auf den Steinen der Straße!
Wiegend trägt und der Flut ebene Fläche daher.
Kärgliche Last in dem Wagen, doch schwer und unwürdig des Schleppens!
Reichliche, köstliche Fracht füllet die Höhlung des Schiffs.
Dort stumpft ab sich der Blick an den kärglichen Früchten des Nordens;
Hier erlabet des Süds üppige Sendung den Sinn.
Arbeit und strebender Fleiß schützt zwar vor darbendem Mangel,
Aber zu frohem Genuss leiten nur Kühnheit und Geist.

 

„Das Gaul“ ist vielleicht ein Schreibfehler – „der Gaul“, „das Maul“? Es kommt nicht darauf an …

Spannender ist da schon, wie der in Distichon immer wieder anzutreffende Gegensatz nicht zwischen Hexa- und Pentameter auftritt, sondern zwischen allen Hexametern, die das eine Bild, und allen Pentametern, die das andere Bild enthalten!

Nun hat der Text Mängel in der Bildlichkeit, und er führt den Gegensatz auch zu lange fort (ein Distichon, oder sogar zwei Distichen weniger zu nehmen, wäre vernünftig gewesen – der Leser langweilt sich bei Wiederholungen immer schneller als der Verfasser), und das Bild führt nur unzureichend auf das Schluss-Distichon hin (das, eigentlich, auch für sich alleine stehen könnte), und es leuchtet nicht ein, warum der bewegtere, rhythmisch freiere Hexameter das Mühsame des Lastkarrens, der engere, einförmigere Pentameter aber die Freiheit des Frachschiffes darstellen soll; gleichviel! Einen so aufgebauten Text sieht man nicht oft, und es ist eine weitere Anregung, was man mit dem Distichon alles anstellen kann.

Ein Fußnoten-Gedicht

Davon habe ich schon einige vorgestellt, hier und hier; dieses ist von Johann Nikolaus Götz.

 

Auf Dianens Bildsäule

Es beschäftigt selbst im Jagen
Amor ihre ganze Seele.
Unerachtet ihrer Miene voller Unschuld
Ist sie dennoch von dem Pfeile
Noch verwundet, den ihr Latmus *)
Schöner Schäfer in dem Herzen hinterlassen.

*) Latmus: Ein Berg in Karien, wo Diana den Endymion schlafend fand.

 

Beachtenswert, wie daraus hervorgeht, was beim Leser vorausgesetzt wird: Die Geschichte von Diana und Endymion, das antike Königreich Karien (heute in der Türkei) – aber nicht der Name des Berges …

Einen zweiten Blick wert sind auch die ungleich langen trochäischen Verse, die Götz hier verwendet, ungereimt und mit der ihm eigenen, anziehenden Nachlässigkeit.