Die Klage um das, was verloren ist

… ist keine Erfindung der heutigen Zeit.

 

Sie schirren tote Rosse auf
Aus wildem Elementsgespann,
Ihr Leib ist Erz und Dampf der Schnauf,
Und Feu’r der Sporn und Sturm der Lauf;
Das Leben hängt als Schweif sich an
Mit Ketten, Riegeln und Verschluss,
Dass es dem Tode folgen muss.

 

So Christian Friedrich Scherenberg, der von 1798 bis 1881 lebte, in seinem Gedicht „Eisenbahn und immer Eisenbahn“, einer längeren Klage. Schon eher in Richtung Schluss finden sich diese vier Verse:

 

Die Stunde pfeift, in Massen schiebt man sich hinein,
Die Stunde pfeift, in Massen schiebt man sich hinaus,
Humor, der alte Reis’kumpan, steigt nicht mehr ein
Und nicht als Lieb‘ und Freundschaft wieder aus.

 

Nett; Vergleichsgröße ist die althergebrachte Reise mit der Postkutsche. Das Gedicht schließt so:

 

Um ihre Ferne kamen Stadt und Lande,
Um ihre stille Hoheit Wüste, Meer,
Die ganze Erde unterm Eisenbande
Um die Unendlichkeit von grauen Tagen her.
Zusammen eng geschmiedet wird der Raum,
gebrochen seine Rechte an die Zeit;
Die Wirklichkeit, sie wird zum Traum,
Und unser Traum stirbt an der Wirklichkeit.

 

Auch das: Eindrücklich. Den Schluss bildet ein Verspaar, wie es ähnlich schon einige Male im Text vorkam:

 

O Eisenbahn, was bist du kommen,
Hast unsre Erde uns genommen!

 

Als es 1835 losging mit der Eisenbahnerei in Deutschland, war das „Schienennetz“ sechs Kilometer lang; in Scherenbergs Todesjahr waren es über 35000 Kilometer Schienen. „O Eisenbahn, …!“

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (65)

„Ewald Christian von Kleists sämtliche Werke, nebst des Dichters Leben aus seinen Briefen an Gleim“ heißt ein 1803 von Wilhelm Körte herausgegebener Band, der gleichsam im Vorübergehen auch manch eigenartige Geschichte aus dem Leben des Berufssoldaten Kleist erzählt, darunter diese:

Sein Umgang war auf seine Kameraden eingeschränkt, denen aber meist seine Bildung, so wie ihm ihre Rohheit, sehr lästig fiel. Es konnte dabei an tausend Streitigkeiten und Neckereien nicht fehlen. So hatte Kleist 1743 mit einem anderen Offizier, wegen ungünstiger Äußerungen über einige Potsdamer Damen, einen Zweikampf, in welchem er schwer am Arme verwundet wurde. Im Hause des Obristen von Schulze, dessen Tochter Gleim unterrichtete, wurde von dem jungen verwundeten Offizier mit ganz besonderer Teilnahme gesprochen. Gleim suchte sogleich den Helden auf und fand ihn äußerst entkräftet auf dem Bette, vor welchem Caesars „De Bello Gallico“ aufgeschlagen lag. Der Kranke führte bittre Klage darüber, dass er nicht lesen dürfe, und nahm das Anerbieten Gleims, ihm vorzulesen, auf das freundlichste an. Zufällig las dieser ihm einst sein scherzhaftes Gedicht „An den Tod“ vor:

Tod, kannst du dich auch verlieben?
Warum holst du denn mein Mädchen?
Hole lieber ihre Mutter!
Ihre Mutter sieht dir ähnlich.
Frische rosenrote Wangen,
Schöngefärbt von meinem Kusse,
Blühen nicht für blasse Knochen!
Tod, was willst du mit dem Mädchen?
Mit den Zähnen ohne Lippen
Kannst du es ja doch nicht küssen!

Der Schluss des kleinen Lieds überraschte den Kranken, in der Laune, worin er gerade war, bis zum lauten Lachen, dessen Erschütterung die Wunde aufriss und ein heftiges Erbluten veranlasste. Der eilig herbeigeholte Wundarzt versicherte: Das gewaltsame Erbluten der Wunde sei für das Genesen des Kranken äußerst wohltätig und erspare ihm viel Schmerzen. Die Wunde heilte wirklich sehr schnell nach diesem Vorfall. „Der Dichtkunst und Ihnen“, sagte der Genesene dankbar seinem Gleim, „verdank‘ ich also meine Genesung!“

Dichter leben ihr Leben wie alle anderen Menschen auch; an manchen Stellen ist ein solches Leben dann aber auf eine Weise einzigartig, wie es eben nur ein Dichterleben sein kann … Johann Wilhelm Ludwig Gleims Verse treten über die Geschichte ein wenig in den Hintergrund; es sind aber doch gut gemachte, wirkungsstarke trochäische Vierheber, denen man, laut vorgelesen, einen Eindruck auf die Zuhörerschaft durchaus zutrauen darf!

Stoff für Geschichten

Ein Märzwind, mies gelaunt und schroff,
Sieht vor sich etwas bunten Stoff
Und geht, ihn durchzuschütteln,
Und kommt von allen Seiten her,
Ihn kräftig durchzurütteln,

Und reißt und zerrt ihn längs und quer
– Und findet kein Vergnügen mehr
An solchem Tun, und loszulassen
Beschließt er, um am Anderort
Ein Anderding zu hassen;

Hat’s kaum gedacht und ist schon fort
Und hört nicht mehr das Dankeswort
Der just gehissten Fahne
War’s Schütt-, war’s Rütteln einer Hoff-
Nung Eintritt, nicht Schikane!

Erzählformen: Das Distichon (78)

Das Distichon ist, seinen allerersten Vertretern vor über 2500 Jahren nach, eine Auf- oder Inschrift. Später hat es sich dann von den Gegenständen gelöst und ist ganz in die Bücher gewandert, „literarisch“ geworden; und findet nur gelegentlich zu seiner ursprünglichen Bestimmung zurück.

In Johann Heinrich Kaufmanns Gedichtsammlung findet sich ein „Fliegendes Blatt. Angebunden am Nachtigallenbrünnchen, auf Herrn Baron von Recums Landgut“, dessen erstes (und eigentlich einziges halbwegs reines) Distichon so lautet:

 

Fördert auch hier mit geschäftiger Hand ein sinnender Genius?
Fügt er zum Wunderbar-Herrlichen geistigen Sinn?

 

„Gen-jus“, offenbar. Auch die Überbrückung der Pentameter-Zäsur fällt ins Auge?! Doch vor allem: Ist etwas „Angebundenes“ wirklich eine „Aufschrift“, etwas untrennbar zum Gegenstand gehörendes?! Aber gut, das habe ich ins Spiel gebracht, nicht Kaufmann. Trotzdem – alles, was an diesen „eigentlichen“ Zweck des Distichons erinnert, in welcher Form auch immer: hat seinen ganz eigenen Reiz.

Erzählverse: Der Blankvers (97)

Gewöhnung ist tödlich. 150 Jahre, nachdem der Blankvers den Alexandriner, dessen die Menschen überdrüssig gewesen waren, als Dramenvers abgelöst hatte, begannen die Menschen, auch seiner überdrüssig zu werden. Gegen diesen Überdruss wandte sich um 1900 Conrad Beyer in seiner „Deutschen Poetik“:

Einzuräumen ist wohl, dass es ermüdend wirkt, immer denselben Vers zu hören. Aber dies sollte eben zur freieren Behandlung dieses Verses auffordern, nicht zur Beseitigung desselben! Man sollte zur Vermeidung der Einförmigkeit mit den Zäsuren wechseln; man sollte sich ferner nicht scheuen, iambische Spondeen einzuflechten; man sollte kein Bedenken tragen, zuweilen den Quinar (= den Blankvers – F.)   um einen oder mehrere Füße zu verkürzen, sofern der Satz schließt und die rhythmischen Pausen den Restteil zu füllen vermögen; man sollte namentlich die zur Beschaffung der üblichen fünf Furchen selbst von besseren Dichtern angewandten Flickwörter möglichst vermeiden, ja, hie und da mit dem Rhythmus wechseln, um auf diese Weise der bedenklich stumpf gewordenen fünffüßigen Pflugschar neue Schärfe zu verleihen. Es gibt nichts widerwärtigeres als einerlei Musik; sie wird zum Geleier. Der iambische Grundcharakter muss selbstredend bei jedem Verse vorhanden bleiben, wenn dieser nicht der künstlerischen Basis entbehren soll. Allein auf diesem Boden kann doch manche Abweichung von der Schablone gepflanzt werden.

Und so ist das auch heute noch – der Blankvers lebt! Wenn man ihn richtig angeht, was meint: wenn man für Abwechslung sorgt, zum Beispiel auch durch das Einfügen eines „gut wirkenden“ (Beyer) Anapästs.

Bild & Wort (225)

„Selbstatari“: Ein Zug, der dazu führt, dass die eigenen Steine geschlagen werden können. Also eher nichts geistreiches …

Erzählverse: Der iambische Dreiheber (7)

Gebrauchs-, Anlass- und Gelegenheitsgedichte sind heutzutage ein arg unterschätze Gattung. Elisa von der Recke schrieb 1782 angesichts eines Sturms, der viele Bäume umgestürzt hatte, diese Verse (ein Ausschnitt):

 

Da wird ein Schiff zerschmettert,
Dort reißt des Landmanns Hütte
Der wilde Sturmwind nieder,
Und ach! – in meinem Wäldchen,
In dem die Nachtigallen
So liebetönend flöten,
Wo blaue Veilchen duften,
Wo Birk‘ und Espe säuseln,
Und wo mit teuren Freunden
Ich oft so froh gewesen,
In diesem schönen Wäldchen
Hat auch der Sturm gewütet,
Gestürzt die hohen Stämme,
Die meinen Kinderjahren
So milden Schatten liehen.
Schont doch, o schont! ihr Stürme,
Den kleinen Rest der Bäume,
Die schon als Kind ich liebte
Und deren sanftes Rauschen
Mir manchen Gram verscheuchte.
Macht euch an große Wälder,
Dort wütet nach Gefallen!

 

– Und wem wollten bei aller Schlichheit der Darstellung und Formelhaftigkeit der Bausteine diese Zeilen nicht gefallen? Erst recht, wenn dem Leser selbst schon einige derartige Bäume umgerissen worden sind …

Erzählformen: Das Distichon (77)

Nah an des Tags und der Nacht lichtbringender Gleiche des Frühlings
Riss dich der neidische Tod jäh in das nächtliche Grab.

 

Karl Geisheim findet einen Weg, ganz zu Beginn seiner „Elegie zum Andenken des Professors Dr. Kephalides“, nicht „am 10. März (1820)“ sagen zu müssen; was in einem Hexameter auch sehr fremd und leblos gewirkt hätte. Im letzten Distichon der Elegie, um einiges später, hat sich dann die Bildlichkeit gewandelt und ist in antiken Gefilden angelangt, angeregt, wie zu vermuten ist, durch den Namen des Verstorbenen:

 

Reif für das ewige Licht schon dünkte der Eos dein Leben,
Und, – wie den Kephalos einst, – raubte dich liebend ihr Kuss.

 

Wogegen nichts spricht, nur, hm: In dieser Form und Zeichensetzung scheint mir der Pentameter vom Satzbau her „geschummelt“ zu sein?! Nun soll man ja nicht an den Versen anderer herumdoktern, aber so etwas wie …

Und dich raubte – wie einst Kephalos – liebend ihr Kuss.

… leuchtete mir eher ein. Oder kann man da durch das fehlende „den“ „Kephalos“ als Subjekt missverstehen? Und der erste Fuß ist schwach … Ach, es ist gut so, wie es ist!

Die Zeilenfüße in der dichten Rede

So heißt eine Auflistung in der „Wortlehre der deutschen Sprache, wissenschaftlich begründet von Dr. Wilhelm Harnisch“, die ein gutes Beispiel dafür ist, wohin es führt, wenn jemand unbedingt seine ganz eigenen Begriffe benutzen möchte. Weiter geht es so:

Die Füße der Zeilen sind folgende:

A) Einspellige

1) Voss (—)

B) Zweispellige

2) Klopstock (— —)
3) Vonkleist (◡ —)
4) Schiller (— ◡)

C) Dreispellige

5) Ossian (— ◡ ◡)
6) Derhomer (◡ ◡ —)
7) Sonnenberg (— ◡ —)
8) Vonhaller (◡ — ◡)
9) Blumauer (— — ◡)
10) Vonkleist-Voss (◡ — —)
11) Klopstock-Voss (— — —)

D) Vierspellige

12) Klopstock-Klopstock (— — — —)
13) Schiller-Vonkleist (Ossian-Voss, Voss-Derhomer ) (— ◡ ◡ —)
14) Vonkleist-Schiller (◡ — — ◡)
15) Vonkleist-Vonkleist (◡ — ◡ —)
16) Schiller-Schiller (— ◡ — ◡)
17) Voss-Ossian (— — ◡ ◡)
18) Derhomer-Voss (◡ ◡ — —)
19) Vonkleist-Klopstock (◡ — — —)
20) Schiller-Klopstock (— ◡ — —)
21) Klopstock-Vonkleist (Voss-Sonnenberg) ( — — ◡ —)
22) Klopstock-Schiller (Voss-Blumauer) (— — — ◡)
23) Eilenderer (— ◡ ◡ ◡)
24) Ertönender ( ◡ — ◡ ◡)
25) Der Besinger (◡ ◡ — ◡ )

Also: „-spellig“ meint „-silbig“, ein „Zeilenfuß“ ist das, was gemeinhin „Versfuß“ heißt (und ein „Gedankenfuß“ meint den handelsüblichen „Wortfuß“), die „dichte Rede“ ist die „gebundene“. Der Gedanke, die einzelnen Füße durch die Namen von Dichtern darzustellen, ist allerliebst, auch wenn manche davon längst vergessen sind (beziehungsweise – Ossian – reine Erfindung waren). Wenn diese Bezeichnungen dann allerdings in den Fließtext finden, liest sich das ganze … gewöhnungsbedürftig. Ein schlichter „iambischer Vers“ wird da zu einer „Vonkleist-Zeile“:

Statt eines Vonkleistfußes kann in den Vonkleistzeilen auch ein Klopstock stehen. Freilich nicht jeder Klopstock ist recht passend. Der Klopstock „lobsing“ ist hier sehr gut, weil der Nachdruck auf „-sing“ liegt. Der Klopstock „hellgrün“ würde hier schlecht sein, weil der Druck auf „hell-“ liegt, und „hellgrün“ daher mehr zu — ◡  als zu ◡ — neigt. Manche wollen die Klopstockfüße in den Vonkleistzeilen nur in den ungeraden Füßen (1, 3, 5, …) dulden, das ist aber wohl eine zu große Einschränkung, die auch keinen wesentlichen Grund hat.

Herrlich schräg! Ich zweifle zwar, dass das bei Lesern, die ohnehin erst anfangen, sich über metrische Fragen Gedanken zu machen, zur Klarheit beiträgt – aber wo sonst hört man mit den Worten …

Hieraus ergibt sich auch, dass die Schillerfüße, als verwandt mit den hier vorkommenden Klopstockfüßen, in den Sechsmaßen werden vorkommen können.

… die ewig junge Frage entschieden werden, ob Trochäen im Hexameter zulässig sind?!