In vorgestrigen Eintrag wurde Peter Hacks zitiert, unter anderem mit diesem Satz (gesagt über „Iamben“):
Das Metrum setzt ein Erwartungsschema, und in dem Wechsel von Erfüllung und Nichterfüllung der Erwartung liegt der ästhetische Reiz.
Dagegen ist nichts zu sagen, nur: wann ist ein Erwartungsschema erfüllt, wann nicht erfüllt? Und welches Erwartungsschema liegt einem iambischen Vers genau zugrunde?!
Hm.
Wenn man sich zum Beispiel den iambischen Fünfheber anschaut, der ja so aussieht:
◡ — ◡ — ◡ — ◡ — ◡ —
… dann ist noch keineswegs gesagt, dass sich dieser Vers auch iambisch bewegen wird; er kann genausogut trochäisch klingen oder amphybrachisch oder ganz anders. Man kann dieses MIschmasch, in dem viele, und viele sehr gute! Gedichte geschrieben sind, vielleicht „Alternationsbewegung“ nennen?!
Am nächsten an die „metrische Erwartungshaltung“ kommt aber eine „iambische Bewegung“, und die entsteht, wenn die hörbaren Sinneinheiten, die „Wortfüße“, mit den metrischen Einheiten übereinstimmen!
Beides, die „Alternationsbewegung“ und die „iambische Bewegung“, steht am Anfang von Gertrud Kolmars „Die Müde“ scharf geschieden nebeneinander:
Dies Müde, Flügellose ruht auf mir
So wie ein großes, sanftes, goldnes Tier.
– Im ersten Verspaar ist die iambische Bewegung, wenn überhaupt, äußerst schwach vernehmbar: „auf mir“ im ersten Vers, „so wie“ im zweiten. Bestimmend sind die zweisilbigen Wörter der Form — ◡ mit ihrer trochäischen Wortbewegung. Das ändert sich aber aufsehenerregend im zweiten Verspaar!
Uns trägt, was schwillt: ein Trank, der überlief.
Es blickt mich an. Sein Blick ist gut und tief.
Hier stimmen Metrum und Bewegung fast vollständig überein, die beiden Verse sind so iambisch, wie sie irgend sein können!
Uns trägt, | was schwillt: || ein Trank, | der überlief.
◡ — / ◡ — / ◡ — / ◡ — / ◡ —
Es blickt | mich an. || Sein Blick | ist gut | und tief.
◡ — / ◡ — / ◡ — / ◡ — / ◡ —
Dadurch stellt sich auch eine für den iambischen Fünfheber sehr wichtige Größe ein: Der Einschnitt nach der vierten Silbe. Ob er da ist oder nicht, und wenn ja, wie stark er ist: das prägt den Vers außerordentlich! Weiter zum dritten Verspaar:
Es lastet schwerer und mein Atem hebt
Es nicht mehr auf. Sein Drachenmantel webt
Hier ist wieder eher die Alternationsbewegung zu spüren, aber der zweite Vers bewahrt zumindest den Einschnitt nach der vierten Silbe. Den weist auch das vierte Verspaar auf, das dadurch nicht übermäßig, aber doch erkennbar iambisch klingt:
Ins Düster sich. Ein Zackenkrallen spinnt,
Drum schale Milch zu einem Mohnkopf rinnt.
Das fünfte und sechste Verspaar sind sehr weit weg von der iambischen Bewegung, erst im letzten Vers taucht der Einschnitt nach der vierten Silbe wieder auf und führt aus der Alternationsbewegung:
Nun darf ich nur noch eigne Lieder sehn,
Die blau und grüne Pfauenräder drehn.
Ich habe kein Gesicht mehr. Hauch wird Stein.
Bedächtig kehrt mein Schauen in mich ein.
„Führt aus“, denn: Das siebte Verspaar ist wieder von äußerst deutlicher iambischer Bewegung!
Es steigt hinab, hinab, es fällt, wird dicht.
Der Schwarzschlund sackt es ein: es wehrt sich nicht.
Wobei hier der Einschnitt einmal nicht ganz so deutlich, einmal sehr deutlich nicht hinter der vierten, sondern hinter der sechsten Silbe liegt. Aber auch dieser Einschnitt fördert die iambische Bewegung sehr!
Das neunte Verspaar ist im ersten Verspaar nur milde, im zweiten etwas erkennbarer iambisch …
Es sinkt geballt in tauben Mauerkern.
Es ist in sich. Nur seltsam klar und fern.
… ehe das letzte Verspaar, das mit dem ersten Verspaar eine Art Rahmen aufspannt, auch dessen Alternationsbewegung wieder aufnimmt:
Scheint auch dies Müde, Flügellose hier
So wie ein kleines, silbern sanftes Tier.
Nun ist das hier Beschriebene nicht unbedingt das, was Hacks unter „Erwartungsschema“ versteht; aber ich denke doch, dass dieses Hinführen zur und das anschließende Wegführen von der Grundbewegung in die gleiche Richtung geht; und dass man, achtet man darauf, wie nah oder fern die eigenen Verse der iambischen Grundbewegung sind, viel stärker als gestaltet erkennbare Vers schreibt, als wenn man sich ausschließlich der Alternationsbewegung anvertraut.