Erzählformen: Das Distichon (99)

Liest man in Friedrich Hebbels Tagebüchern und Briefen, fällt auf, wie eng seine Gedanken auch in alltäglichen Dingen mit seinen Gedichen verbunden sind …

Ich bin, nach einiger Stockung, in das Gedicht wieder hineingekommen und habe den vierten Gesang fast geendigt. Er ist fast ganz im Prater beim Veilchenpflücken entstanden; es waren himmlische Tage. Sowie ich einen Strauß beisammen hatte, waren auch dreißig oder vierzig Hexameter fertig.

Das sagt ein Tagebucheintrag vom 15. April 1856 über das Hexameter-Epos „Mutter und Kind“. Und dieser Eindruck blieb auch, als es Hebbel schlechter ging – 1859 schrieb er am 5. September in einem Brief an Friedrich Uechtritz:

Wo ist der schöne Frühling, in dem ich Veilchen pflückte und Dutzende von Hexametern schrieb! Der jetzige Frühling hat mich anders behandelt; ich bin in den Orden der Gichtbrüchigen eingetreten, habe drei Wochen liegen müssen wie ein krumm geschossener Soldat und genieße noch jetzt Kinderfreuden, indem ich Milch trinke und Gehen lerne …

Zu einem wiederum glücklicheren Anlass stellte Hebbel einmal auch ein Distichon an den Beginn eines Briefes, geschrieben am 11. April 1846 an Charlotte Rousseau:

Fromm verlangt ihr mich, Götter? So macht mich glücklich! Ich werd‘ euch
Niemals fürchten, ihr wisst’s, aber ich liebte euch gern!

Eine kecke Herausforderung, nicht wahr? Aber – sie hat geholfen! Wie? werden Sie fragen, hier die Antwort. Ich habe eine Braut und wahrscheinlich schon in vier Monaten eine Frau.

Ich denke, so ganz ernst hat er das mit der Herausforderung und dem Geholfenhaben nicht gemeint; aber ein schönes Distichon ist es trotzdem, und ein geistreich verwendetes auch …

Die Bewegungsschule (59)

Wenn man erst einmal angeangen hat, über die iambische Bewegung nachzudenken, fallen einem alle möglichen Sachen auf … Wenn die iambische Bewegung sehr eng am Metrum sein, aber nicht gänzlich mit ihm übereinstimmen soll, kann man zwei Iamben zu einem doppeliambischen Wortfuß zusammenfassen: ◡ — ◡ —. Im fünffüßigen Iambus geht das zweimal, ein einzelner Iambus bleibt übrig. Die drei so geschaffenen Bestandteile lassen sich auf drei verschiedene Arten anordnen:

◡ — ◡ — | ◡ — | ◡ — ◡ —

◡ — | ◡ — ◡ — | ◡ — ◡ —

◡ — ◡ — | ◡ — ◡ — | ◡ —

Und wenn man sich danach Georg Heyms bekanntes Sonett „Printemps“ anschaut …

 

Ein Feldweg, der in weißen Bäumen träumt,
In Kirschenblüten, zieht fern über Feld.
Die hellen Zweige, feierlich erhellt,
Zittern im Abend, wo die Wolke säumt,

Ein düstrer Berg, den Tag mit goldnem Grat,
Ganz hinten, wo ein kleiner Kirchturm blinkt.
Das Glöckchen sanft im lichten Winde klingt
Herüber goldnen Tons auf grüner Saat.

Ein Ackerer geht groß am Himmelsrand.
Davor, wie Riesen schwarz, der Stiere Paar,
Ein Dämon vor des Himmels tiefer Glut.

Und eine Mühle fasst der Sonne Haar
Und wirbelt ihren Kopf von Hand zu Hand
Auf schwarze Au, der langsam sinkt, voll Blut.

 

… stellt man fest, dass jede dieser drei Möglichkeiten genau einmal verwirklicht wird – in V5, V10, V14. V9 ist eine leicht abgeänderte Form desselben Musters! Die restlichen Verse verdienen aber auch einen nähereren Blick bezüglich ihrer Bewegung, zum Beispiel, wie die „iambische Bewegtheit“ zum Gedichtschluss hin immer vernehmbarer wird …

Die Bewegungsschule (58)

In vorgestrigen Eintrag wurde Peter Hacks zitiert, unter anderem mit diesem Satz (gesagt über „Iamben“):

Das Metrum setzt ein Erwartungsschema, und in dem Wechsel von Erfüllung und Nichterfüllung der Erwartung liegt der ästhetische Reiz.

Dagegen ist nichts zu sagen, nur: wann ist ein Erwartungsschema erfüllt, wann nicht erfüllt? Und welches Erwartungsschema liegt einem iambischen Vers genau zugrunde?!

Hm.

Wenn man sich zum Beispiel den iambischen Fünfheber anschaut, der ja so aussieht:

◡ — ◡ — ◡ — ◡ — ◡ —

… dann ist noch keineswegs gesagt, dass sich dieser Vers auch iambisch bewegen wird; er kann genausogut trochäisch klingen oder amphybrachisch oder ganz anders. Man kann dieses MIschmasch, in dem viele, und viele sehr gute! Gedichte geschrieben sind, vielleicht „Alternationsbewegung“ nennen?!

Am nächsten an die „metrische Erwartungshaltung“ kommt aber eine „iambische Bewegung“, und die entsteht, wenn die hörbaren Sinneinheiten, die „Wortfüße“, mit den metrischen Einheiten übereinstimmen!

Beides, die „Alternationsbewegung“ und die „iambische Bewegung“, steht am Anfang von Gertrud Kolmars „Die Müde“ scharf geschieden nebeneinander:

 

Dies Müde, Flügellose ruht auf mir
So wie ein großes, sanftes, goldnes Tier.

 

– Im ersten Verspaar ist die iambische Bewegung, wenn überhaupt, äußerst schwach vernehmbar: „auf mir“ im ersten Vers, „so wie“ im zweiten. Bestimmend sind die zweisilbigen Wörter der Form — ◡ mit ihrer trochäischen Wortbewegung. Das ändert sich aber aufsehenerregend im zweiten Verspaar!

 

Uns trägt, was schwillt: ein Trank, der überlief.
Es blickt mich an. Sein Blick ist gut und tief.

 

Hier stimmen Metrum und Bewegung fast vollständig überein, die beiden Verse sind so iambisch, wie sie irgend sein können!

Uns trägt, | was schwillt: || ein Trank, | der überlief.
◡ — / ◡ — / ◡ — / ◡ — / ◡ —
Es blickt | mich an. || Sein Blick | ist gut | und tief.
◡ — / ◡ — / ◡ — / ◡ — / ◡ —

Dadurch stellt sich auch eine für den iambischen Fünfheber sehr wichtige Größe ein: Der Einschnitt nach der vierten Silbe. Ob er da ist oder nicht, und wenn ja, wie stark er ist: das prägt den Vers außerordentlich! Weiter zum dritten Verspaar:

 

Es lastet schwerer und mein Atem hebt
Es nicht mehr auf. Sein Drachenmantel webt

 

Hier ist wieder eher die Alternationsbewegung zu spüren, aber der zweite Vers bewahrt zumindest den Einschnitt nach der vierten Silbe. Den weist auch das vierte Verspaar auf, das dadurch nicht übermäßig, aber doch erkennbar iambisch klingt:

 

Ins Düster sich. Ein Zackenkrallen spinnt,
Drum schale Milch zu einem Mohnkopf rinnt.

 

Das fünfte und sechste Verspaar sind sehr weit weg von der iambischen Bewegung, erst im letzten Vers taucht der Einschnitt nach der vierten Silbe wieder auf und führt aus der Alternationsbewegung:

 

Nun darf ich nur noch eigne Lieder sehn,
Die blau und grüne Pfauenräder drehn.

Ich habe kein Gesicht mehr. Hauch wird Stein.
Bedächtig kehrt mein Schauen in mich ein.

 

„Führt aus“, denn: Das siebte Verspaar ist wieder von äußerst deutlicher iambischer Bewegung!

 

Es steigt hinab, hinab, es fällt, wird dicht.
Der Schwarzschlund sackt es ein: es wehrt sich nicht.

 

Wobei hier der Einschnitt einmal nicht ganz so deutlich, einmal sehr deutlich nicht hinter der vierten, sondern hinter der sechsten Silbe liegt. Aber auch dieser Einschnitt fördert die iambische Bewegung sehr!

 

Das neunte Verspaar ist im ersten Verspaar nur milde, im zweiten etwas erkennbarer iambisch …

 

Es sinkt geballt in tauben Mauerkern.
Es ist in sich. Nur seltsam klar und fern.

 

… ehe das letzte Verspaar, das mit dem ersten Verspaar eine Art Rahmen aufspannt, auch dessen Alternationsbewegung wieder aufnimmt:

 

Scheint auch dies Müde, Flügellose hier
So wie ein kleines, silbern sanftes Tier.

 

Nun ist das hier Beschriebene nicht unbedingt das, was Hacks unter „Erwartungsschema“ versteht; aber ich denke doch, dass dieses Hinführen zur und das anschließende Wegführen von der Grundbewegung in die gleiche Richtung geht; und dass man, achtet man darauf, wie nah oder fern die eigenen Verse der iambischen Grundbewegung sind, viel stärker als gestaltet erkennbare Vers schreibt, als wenn man sich ausschließlich der Alternationsbewegung anvertraut.

Erzählformen: Das Distichon (98)

In „Das Distichon (97)“ sagte Johannes Minckwitz über die Versfolge Hexameter & erste Pentameter-Hälfte „Eine solche Strophenform, an und für sich tadellos, ist in der Lyrik auch wirklich gebraucht worden.“

Ein paar wenige Verse aus Ludwig Kosegartens „Das Blättchen“ können da als Beispiel dienen:

 

Emma, ich irr‘ hinauf und hinab im schaurigen Garten,
Wühl‘ im rasselnden Laub,
Und es hüllt mir Dämmrung die Seele, Dämmrung das Auge,
Denn es prediget mir
Jedes welkende Blatt und jedes sterbende Gräschen:
„Einstens grünt‘ ich, wie du!
Einstens welkt du wie ich. Wie Gras auf dem Felde sind Menschen,
Grünen und welken wie wir.“

 

Nur durchschnittlich gute Verse, denke ich, und auch inhaltlich nichts weltbewegend neues; aber wie die beiden Verse zusammen wirken – das wid doch deutlich?!

(Das „rasselnde Laub“ klang mir erst einmal fremd, aber der „Online-Grimm“ gibt als Bedeutung auch „ein hartes Geräusch verursachen“ und in Bezug auf „dürres Laub“ Versbeispiele von Bürger und Droste-Hülshoff – „Die Meute mit geschwoll’nen Kehlen / Ihm nach wie rasselnd Winterlaub.“)

Bücher zum Vers (113)

Peter Hacks: Die Maßgaben der Kunst

Dieser zuletzt 2010 bei Suhrkamp erschienene Band ist nicht wirklich ein „Buch zum Vers“, eher ein zum Theater, eigentlich aber eines zu allem möglichen; aber hier und da findet sich auf seinen beeindruckenden 1200 Seiten doch etwas über den Vers, und wenn, dann ist es eigentlich immer die Zeit wert, die man braucht, es zu durchdenken. So finden sich gleich am Anfang fünf Seiten „Über den Vers in Müllers Umsiedlerin-Fragment“, und an deren Anfang (S. 39) diese Sätze:

Über das Grundprinzip der Verslehre sind sich die Metriker inzwischen einig geworden. Wert, Schönheit und Leben eines Verses beruhen nicht auf der Identität von Metrum und Rhythmus, sondern auf ihrem Widerspruch. Iamben, bei denen der natürliche Tonfall der Sprache, Hebung für Hebung und Senkung für Senkung, mit dem Versschema zusammenstimmt, sind keine guten Iamben, sondern schlechte. Vielmehr ist die Dialektik die: das Metrum setzt ein Erwartungsschema, und in dem Wechsel von Erfüllung und Nichterfüllung der Erwartung liegt der ästhetische Reiz. Weit entfernt davon, Fehler zu sein, gehören Abweichungen vom Metrum gerade zum Wesen der gebundenen Sprache: sie machen die formale Schönheit, und sie sind das einzige Mittel, inhaltliche Akzente in formale Akzente umzusetzen: sie ermöglichen Betonung.

Wie groß „die Einigkeit der Metriker“ diesbezüglich ist, mag ich nicht beurteilen, und inwieweit widerum die Verschaffenden mit den Metrikern einig sind, kann ich schon überhaupt nicht sagen; aber wahr sind sie schon, diese Sätze, und der Welt wären eine Menge schlechter Verse erspart geblieben, wäre immer schon auf sie gehört worden …

Erzählformen: Das Distichon (97)

Wie bei allem muss auch in Bezug auf die den Vers betreffenden Fragen nicht alles geglaubt werden, was dazu geschrieben und gesagt wurde und wird.

Ein Beispiel, das eher zur Erheiterung des Lesenden als zur Vertiefung seines Vers-Verständnisses dient, ist Johannes Minckwitz‘ Erklärung, wie der Pentameter als zweiter Vers des Distichons entstanden ist:

Wie also der lyrische Dichter nachsann, auf welche Weise er am besten eine zweite ähnliche Reihe dem Hexameter zur Seite stellen könnte, so kam er zunächst auf den Gedanken, den ganzen ersten Anlauf, welchen der Hexameter bis zu seiner Hauptzäsur nimmt, zu wiederholen und zu der beabsichtigten Verszeile zu verwenden. Natürlich wählte er dazu die kräftigste Hauptzäsur aus, die männliche, da diese es ist, welche dem Hexameter seinen sichersten Halt gibt, wenn wir auch nicht berechtigt sind, sie die häufigste Hauptzäsur zu nennen. Nachdem der Dichter einen Hexameter vorausgeschickt hatte, wie etwa folgenden:

Singe den schrecklichen Zorn des berühmten Peliden Achilleus

… fuhr er, an die neue Reihe denkend, fort, indem er den ganzen ersten Anlauf des Hexameters wiederholte:

Singe den schrecklichen Zorn.

Dadurch hatte der Versifizierende nun wenigstens ein Stück für eine neue Reihe gewonnen, und bei diesem Wurfe hätte er sich allerdings beruhigen können; ist doch eine solche Strophenform, an und für sich tadellos, in der Lyrik auch wirklich gebraucht worden. Allein für den ersten Erfinder, der sich einmal nach einer neuen Form umsah, wird man es natürlich finden, dass er sich nicht mit dieser kurzen Reihe begnügte; er ging darauf aus, dem langen, vielsilbigen Hexameter einen verhältnismäßig ebenso langen Vers entgegenzustellen, damit der neue dem alten desto besser entspreche.  Dazu kam, dass der neue Vers im Grunde bloß ein Anlauf, ein Stück war und abgerissen klang, während er eine Zeile suchte mit gutem, richtigem und für den gesamten Rhythmenstrom entsprechendem Schlusse. Unmittelbar anhängen durfte er jedoch nichts, wenn er nicht ganz in den Hexameter zurückfallen wollte. Und ohne Weiteres schlug er den einfachsten und natürlichsten Weg ein: er gab dem Bilde sein Gegenbild und wiederholte den gesamten Rhythmenstrom des ersten Wurfs.

Um den glücklichen Griff möglichst zu verdeutlichen, will ich auch die nämlichen Worte für das Gegenbild beibehalten. Die ganze Strophe lautete nach dem Gesagten auf die nächste und einfachste Weise:

Singe den schrecklichen Zorn des berühmten Peliden Achilleus,
Singe den schrecklichen Zorn, singe den schrecklichen Zorn.

Als wäre er dabeigewesen, der Herr Minckwitz … Aber das heißt selbstverständlich nicht, dass diese metrische Räuberpistole nicht auch an ein, zwei Stellen Bedenkenswertes äußerte; über die Aufteilung des Distichons in „Drei Pentameter-Hälften und zweite Hexameter-Hälfte“ hat sich zum Beispiel auch Ludwig Strauß Gedanken gemacht in seinem sehr lesenswerten Aufsatz „Zur Struktur des deutschen Distichons“!

Erzählformen: Die alkäische Strophe (24)

Friedrich Gottlieb Klopstock schätzte es, seine Gedanken zu Fragen der Dichtung auch in Versform darzustellen. In „An Johann Heinrich Voß“, also einen anderen Dichter, der sich viel aus den Fragen der Versbewegung machte, findet sich diese alkäische Strophe:

 

Dank euch noch einmal, Dichter! Die Sprache war
Durch unsern Iambus halb in die Acht erklärt,
Im Bann der Leidenschaften Ausdruck,
Welcher dahin mit dem Rhythmus strömet.

 

Das ist nun so gar nicht lyrisch oder odengemäß getragen und feierlich, aber trotzdem passend; denn der große Rhythmiker Klopstock war den iambischen Versmaßen gar nicht zugetan, die nicht sehr viel „rhythmischen Spielraum“ lassen, und lobt hier also die Dichter, die ihm gefolgt sind in seinen Versuchen, diese iambischen Versmaße durch zum Beispiel die Nachbildungen antiker Formen zu ersetzen. Und in welcher Form könnte das besser geschehen als in einer Odenstrophe?!

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (71)

Johann Gottfried Herders ungereimte Gedichte reizen mich deutlich stärker als seine gereimten. In „Der Himmel“ schließt er ein Paar von ungereimten trochäischen Vierhebern mit einem ebensolchen Dreiheber ab, und die so gewonnene Strophe nutzt er dreimal:

 

Dünste steigen auf und werden
In den Wolken Blitz und Donner
Oder Regentropfen.

Dünste steigen auf und werden
In dem Haupte Zorn und Unmut,
Oder werden Tränen.

Freund, bewahre Deinen Himmel
Vor dem Dunst der Leidenschaften!
Deine Stirn sei Sonne!

 

Inhaltlich gefällig, aber nicht weltbewegend, obwohl „Deine Stirn sei Sonne!“ sehr schön zeigt, wie gut ein kräftiger, klarer Schlussvers einem Gedicht tut; in der Form aber ein guter Vergleichspunkt zu der in (70) vorgeführten, kanzonenähnlichen Gestaltung mit ihren gleichfalls dreiversigen Stollen! Man sieht, auch der nicht-gereihte ungereimte trochäische Vierheber lässt viel Raum für eigene Gestaltungsmöglichkeiten …