Erzählformen: Das Distichon (122)

Distichen sind seit jeher die Form für Grabinschriften und Grabaufschriften; kein Wunder also, dass seit der Antike die verschiedensten Verfasser auch das Dahinscheiden ihrer (Haus-)Tiere in Distichen besungen haben! Ein Beispiel von Friedrich Rückert:

Zierlich wedelndes Hündchen! So musste des finsteren Gottes
Herrischer Ruf auch dich ziehen hinab in die Nacht!
Oftmals hast du im Schatten die grasenden Herden bewachet,
Ruhig im Busche dabei lauscheten Hirtin und Hirt.
Aber nahete sich mit störenden Tritten ein Fremdling,
Weckte dein warnender Laut leise die Träumenden auf.
Treuer Wächter der Liebe! So fahr‘ in Frieden hinunter.
Und das Scheusal der Nacht, Cerberus, schrecke dich nicht!
In Elysiums Hainen, von frommen Hirten bewohnet,
Sei dir ein Schattenvolk weidender Lämmer beschert.
Und wann mich und das Mädchen hinab ein freundlicher Gott einst
Führt, aus Myrthengebüsch belle du wedelnd uns an!

Eine Rolle wird eingenommen, sicherlich; aber wirksam ist das Gedicht trotzdem!

Eingeordnet

Klag nicht, siehst du zu Staub die Rollen sich wandeln und Bücher –
„Alles Geschriebene stirbt“? Wohl! Denn dann hat es gelebt.

Erzählverse: Der Hexameter (183)

Das Beiwort im Hexameter (I)

Verse formen Sprache, und wer es ernst meint mit dem Schreiben metrisch geregelter Texte, ist sich dessen bewusst; er arbeitet daran, sich die sprachlichen Möglichkeiten, die dem Vers im Vergleich zur Prosa eigen sind, verfügbar zu machen und sie, nötigenfalls, gegen den Vorherrschaftsanspruch der Prosa durchzusetzen.

Beispiel Hexameter: Ein Vers, der viel mehr ist als eine Abfolge von Hebungen und Senkungen. Wer sich bei seiner Gestaltung auf die in der Prosa üblichen Mittel beschränkt, verlangweilt ihn! Das lässt sich gut an den Beiwörtern zeigen, die im Hexameter ganz anders eingesetzt werden können – und sollten! – als in der Prosa. Das schließt ihre Neubildung ein!

Es gibt zum Beispiel das Bildungsmuster „Sinn“, „sinnig“, „feinsinnig“; „Maul“, „mäulig“, „großmäulig“; „Fuß“, „füßig“, „beidfüßig“. Das ist, wie gleicht gezeigt wird, eine Wortstruktur, die dem Bau des Hexameters gelegen kommt; warum also nicht neue Wörter nach diesem Bildungsmuster schaffen?!

Mählig erhöht, weichgrasig, gemach dem müdesten Wandrer.

Das ist ein Vers aus Jens Baggesens Parthenais (II,213); er beschreibt einen Hügel. „Mählig“, „mählich“ ist das noch unverstärkte „allmählich“, also „nach und nach“; „gemach“ meint hier „bequem“. Aber das eigentlich interessante Wort ist, natürlich! das „weichgrasig“, gebildet nach dem angeführten Muster: „Gras“, „grasig“, „weichgrasig“! Einige Verse weiter (II,228) findet man es wieder:

Rechts, wo mählig hinauf weichgrasige Matten emporblühn,

Aber dabei bleibt es nicht. II,292/293:

Endlich bestiegen sie alle nunmehr den helvetischen Wagen,
Wägli genannt, kleinrädrig, mit zween Sitzbrettern gerüstet;

Wenn „Geist“, „geistig“, kleingeistig“, warum dann nicht „Rad“, „rädrig“, „kleinrädrig“?! „Mit kleinen Rädern“ alterniert, „der kleine Räder hatte“ auch; das gewählte, geschaffene Wort dagegen fügt sich dem rhythmischen Anforderungen des Hexameters aufs Schönste:

Wägli genannt, kleinrädrig, mit zween Sitzbrettern gerüstet;

— ◡ ◡, — —, — ◡ ◡ , — — , — ◡ ◡ , — ◡

Das neue Wort hilft also, die zweisilbige Einheit möglichst „spondeusähnlich“ zu füllen!

Und das meine ich, wenn ich sage, jeder (und das meint wirklich: jeder!)Vers hat Anforderungen und Möglichkeiten. Da muss man schon ein wenig Arbeit hineinstecken, manchmal weniger, manchmal, wie beim Hexameter, mehr; und der Prosa gelegentlich auf die Finger hauen. Aber: die Mühe lohnt sich! Versucht es einfach einmal und schaut, nein

Baut euch ein Wort schrägsinniger Art, das den Leser verwundert!

Wer sich nämlich verwundert, wer staunt: der langweilt sich nicht – und ist zumindest einen Augenblick lang frei von der Herrschaft der Prosa.

Erzählverse: Der iambische Trimeter (26)

August von Platens „Philemons Tod“ ist ein kurzer, in Bezug auf die Versbehandlung aber interessanter Text:

Als einst Athen Antigonus belagerte,
Da saß der alte, neun und neunzigjährige
Poet Philemon, mächtiger Dichter Überrest,
In dürftiger Wohnung saß er da gedankenvoll:
Er, der Athens glorreichsten Tagen beigewohnt,
Der deine Philippiken angehört, Demosthenes,
Und oft den Preis errungen durch anmutige
Weisheitserfüllte, die er schrieb, Komödien.
Da schien es ihm, als schritten neun jungfräuliche
Gestalten leis an ihm vorbei, zur Tür hinaus.
Der Greis jedoch sprach dieses: Sagt, o sagt, warum
Verlasst ihr mich, Holde, Musenähnliche?
Und jene Mädchen, scheidend schon, erwiderten:
Wir wollen nicht den Untergang Athens beschaun!
Da rief Philemon seinem Knaben und foderte
Den Griffel, dieser wird sofort ihm dargereicht.
Den letzten Vers dann einer unvollendeten
Komödie schreibt der Alte, legt das Täfelchen
Hinweg, und ruhig sinkt er auf die Lagerstatt,
Und schläft den Schlaf, von dem der Mensch niemals erwacht.
Bald ward Athen zur Beute Makedonien.

Was fällt auf? Die recht hohe Zahl an doppelt besetzten Senkungen, sicher, und die dem antiken Trimeter nachempfundenen Längen in der Senkung, auch die vielen schwachen Endsilben; vor allem aber der etwas freiere Satzbau, besonders das

Weisheitserfüllte, die er schrieb, Komödien.

Ein solches Auseinanderstellen von Bei- und Hauptwort sieht man nicht alle Tage …

Erzählverse: Der Hexameter (182)

Karl Ludwig von Knebels „Philomela in Tiefurt“ ist ein kurzer Text von nur 50 Hexametern, allerdings eigenen Inhalts. Das Ende:

Also sang vom schwankenden Ast weissagend der Vogel,
Und der Nordwind verstummte; es nahten sich lindernde Weste.
Aber es schwebt‘ in der Höh‘ mit ausgespreiteten Rudern,
Und mit gierigem Aug‘ ein Geier, dürstend nach Blute.
Dieser ersah den lieblichen Sänger, und stürzt von der Höhe,
Fasst und drückt ihn gewaltig mit krummgespitzeter Klaue,
Reißt ihm die blutende Brust auf, und hackte begierig sein Leben.
Nicht ein leiser wimmernder Laut ward weiter gehöret;
Es entfloh die Seele mit stiller Wehmut von dannen.

Das „Ende vom Ende“, der letzte Vers, ist bemerkenswert – seines Anfangs wegen; denn viele deutsche Hexametristen haben ja der Versuchung nachgegeben, die erste Hebung mit einer zwar betonungsfähigen, ansonsten aber sehr leichten Silbe zu besetzen, was vor allem im zweisilbigen Fuß nicht so recht befriedigt. Knebels erster Fuß ist zweisilbig, und das „es“ auf der Hebung könnte ein Kandidat für die leichteste jemals dort gefundene Silbe sein – hebungsfähig aber ist sie, da ihr eine Vorsilbe folgt („ent-„), der gegenüber sich das „es“ behaupten kann.

Ausgestiegen

Kurz, nur ein kleiner Waggon folgt nach, und kommt an den Bahnhof,
Langsamt, hält, und erneut, aber, und wenn: wer es ist?

Die Uz-Strophe (26)

Schaut man auf die Verwendungszwecke der Uz-Strophe, fällt auf, dass sie nur sehr selten als Epigramm-Strophe verwendet worden ist – da sind die verwandten, durchgängig alternierenden Strophen ihr weit voraus. Gelegentlich ist es aber doch geschehen, so bei Daniel Schiebelers Vierzeiler „Unter Daphnens Bildnis“:

Seht diese Augen, den Mund, schön wie die lächelnde Rose,
Und dieses Wuchses bezaubernde Pracht!
Dies ist das Mädchen, das mich aus einem Narren in Prose
Zu einem Narren in Versen gemacht.

Wie zu erwarten, erscheint die Uz-Strophe hier gereimt – das gibt sicher, bei einer Einzelstrophe, einen größeren Eindruck von Geschlossenheit, als er bei der ungereimten Grundform möglich wäre!

1624

Nach dem Lesen von Gerhard Storz‘
„Martin Opitz und die deutsche Dichtung“

Ihr ehrt nicht mehr den klugen Mann,
Der damals unsern Vers gewann?
Ich tu’s: Hoch Martin Opitz!