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Erzählformen: Das Distichon (101)

Die Trauerweide

Wie auch sehnend, o Baum, die Arme nieder du streckest,
Ach! aus den Tiefen der Gruft langst du ihn nimmer herauf.

 

So Karl Gottfried von Leitner in seinen „Friedhofsblumen, meinen lieben Toten zum Kranze gewunden“. Trauerweiden und Gräber sind sicher eine naheliegende Zusammenstellung, da lohnt der gelegentliche Vergleich, zum Beispiel mit dem in Der Blankvers (89) vorgestellten Text von Otto Julius Bierbaum?!

Die metrische Form:

Wie auch / sehnend, o / Baum, || die / Arme / nieder du / streckest,
Ach! aus den / Tiefen der / Gruft || langst du ihn / nimmer her- / auf.

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Vor dem Farbgericht

„Ich rufe nun als Zeugen auf:
Den frühen Wintermorgen!“
So spricht das Grau beim Farbgericht,
denn hier will es beweisen,
dass jede Farbe, Grün und Blau
und Rot und welche immer,
in ihm, dem Grau, enthalten ist.

Der Wintermorgen tritt herein,
und man muss anerkennen:
Obwohl die Pfannen auf dem Dach
eindeutig grau sind, schimmert
in ihnen doch ein Hauch von Rot;
Obwohl das Gras der Wiesen
eindeutig grau ist, liegt ein Hauch
von Grün auf allen Blättern;
Obwohl der Wellenschlag im Bach
eindeutig grau ist, ahnt man
in jedem Wirbel doch das Blau..

Die andern Farben, die das Grau
seit jeher tief verachten,
sind stumm, und mit gesenktem Haupt
erwarten sie das Urteil.

„Im Namen aller Farben, hört!“
so spricht der Richter endlich,
„Der Anspruch, den das Grau erhebt,
ist rechtens; Alle Farben,
sei’s Grün, sei’s Blau, sei’s Rot, sind Teil
des Graus! Und damit schließe
ich diese Sitzung. Vielen Dank.“

„Ich danke auch, Herr Richter,“
bemerkt das Grau, springt hastig auf
und eilt davon: Es nahen
der späte Wintermorgen und
der helle Schein der Sonne.

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Erzählverse: Der Hexameter (167)

Noch einmal zu den im vorletzten Eintrag erwähnten „Literarische Zustände und Zeitgenossen“ von Böttiger – da steht selbstredend auch manches über Verse drin. Unter „Den 25. Dezember 1796“ findet sich zum Beispiel „Goethe liest mir seinen Hermann und Dorothea“, ein langer Text, teils inhaltliche Zusammenfassung, teils Betrachtung und Urteil; über den Hexameter findet sich dort:

Der Gang des Hexameters in diesem Gedichte ist der rascheste Wechseltanz, den je eine nordische Sprache in griechischer Modulation einherschwebte. Wie verschieden von dem leichtsinnigen Hüpfen im „Reineke Fuchs“, und von dem pathetischen Gang in einigen Übersetzungen homerischer Hymnen. Man fühlt es, dass der Dichter bis auf das Silbenmaß selbst, in dem er sich bewegt, Schöpfer war, und sein wollte. Jeder Vers malt, und doch ist kein Gedanke an kindische Ziererei. Freilich, um alles zu verstehen, muss man den göttlichen Rhapsoden sein Gedicht selbst deklamieren hören.

Na, das ist doch einmal echte Begeisterung, wie sie sich auch in Böttigers Schlusssatz ausdrückt:

Wohl mir, die heutige Weihnachtsfreude war die genussreichste meines Lebens!

Aber, das lässt zumindest der folgende Eintrag vom 15. April 1797 vermuten, keine vollständige:

Ich habe diesen Abend die letzten fünf Gesänge von Hermann und Dorothea vom Meistersänger selbst vorlesen hören. Welch eine Welt von Handlung und Gefühl in welchem engen Raum und mit wie wenigen Mitteln?

Goethe fühlte, dass, sobald seine Dorothea auftrete, Hermann gewissermaßen nur zur zweiten Figur herabsinken müsse, und dass, je später sie auftritt, desto größer die Spannung der Hörer (Leser möchte ich bei einem Gedicht nicht sagen, das eigentlich nur durchs Ohr empfangen werden sollte) sein müsse.

Der Hexameter ist ein Vortragsvers – keine Frage; und hier eine Bestätigung mehr.

Aber um noch einige Verse anhängen zu können, hier Böttigers Anmerkung zum Schluss des achten Gesangs, und anschließend die entsprechenden Verse:

Dorothea tritt fehl und sinkt dem vorausgehenden Jüngling an die Brust. Aber er bekämpft sich, er bleibt starr und unbeweglich. Dadurch wird er Doroteens wert, die den Mut hatte, sich zum Dienen zu erniedrigen. Ein magischer Zug des Gedichts.

 

Aber sie, unkundig des Steigs und der roheren Stufen,
Fehlte tretend, es knackte der Fuß, sie drohte zu fallen.
Eilig streckte gewandt der sinnige Jüngling den Arm aus,
Hielt empor die Geliebte; sie sank ihm leis auf die Schulter,
Brust war gesenkt an Brust und Wang‘ an Wange. So stand er,
Starr wie ein Marmorbild, vom ernsten Willen gebändigt,
Drückte nicht fester sie an, er stemmte sich gegen die Schwere.
Und so fühlt‘ er die herrliche Last, die Wärme des Herzens
Und den Balsam des Atems, an seinen Lippen verhauchet,
Trug mit Mannesgefühl die Heldengröße des Weibes.

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Nachtgetan

Dr. Sotz, in seiner Linken
Einen kleinen Topf voll Farbe,
In der Rechten einen Pinsel,
Wandert nachts herum im Stadtpark,
Neumond ist es und ist dunkel:
Wo auch immer aus der Schwärze
Eine Schraube sich heraushebt
(Irgendwelchen Lichtes Reste
Machten sie dem Auge sichtbar),
Sich ein Blatt im Laub vereinzelt,
Falter still auf Wänden ruhen,
Tunkt er ein den Pinsel, tupft dann
Einem Ding, von dessen Farbe
Er nichts weiß, ein wenig Farbe
(Welche, weiß er nicht zu sagen,
Weil die Birne, die den Keller
Sonst erhellte, heute platzte,
Just als er herabgestiegen
Kam, ein Töpfchen auszuwählen)
Außen auf, und wasserlöslich
Ist die Farbe, und der Neumond
Ist verborgen hinter Wolken:
Dunkel ist es, regnen wird es.

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Wieland, Lucian, Böttiger

Karl August Böttiger war ein Zeitgenosse Schillers, Goethes, Wielands und Herders; sein „Literarische Zustände und Zeitgenossen“ (herausgegeben von Klaus Gerlach und Rene Sternke, erschienen 1997 im Aufbau-Verlag) ein wunderbares Buch, und das in vielerlei Hinsicht, zum Beispiel, weil es erahnbar macht, wie tief die klassischen Dichter in ihren Dichtungen und ihren anderen Arbeiten versanken.

Über Christoph Martin Wieland, der die sämtlichen Werke des Lucian von Samosata vorbildlich übersetzt hatte, schreibt Böttiger:

Wieland hat ein Makulaturexemplar des Lucians. Dies war lange Zeit seine Lektüre und Serviette, wenn er im Tempel der Cloacina saß. Hier, gestand er mir, konnte er sich oft selbst nicht genug über die glücklichen Wendungen und Orginalität seiner Übersetzung wundern, so dass er einigemal sogleich in seine Bibliothek lief, um zu sehen, ob Lucian hier auch treu übersetzt sei, aber allezeit fand, dass er dem Griechen sein volles Recht hat wiederfahren lassen.

Bei manchen Dingen weiß ich nicht recht, ob ich sie mir vorstellen will und soll oder nicht; aber hier ist die Entscheidung dann doch ein „Ja“ …

Vielleicht noch ein Satz aus dem Lucian, in Wielands Übersetzung  – es geht um das Innere eines nicht bildlichen, sondern wirklichen Tempels:

Hier atmet man diesen ambrosischen Wohlgeruch, der von der Luft des glücklichen Arabiens gerühmt wird; er duftet einem schon von ferne unbeschreiblich angenehm entgegen und verlässt einen auch nicht, wenn man wieder weggeht, sondern setzt sich in die Kleider, und man glaubt ihn noch lange überall zu spüren.

Schön gesagt, schön übersetzt.

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Residenzgras

In seinem Buch „Deutsche Dichter-Abende“ hat Jakob Loewenberg 1904 verschiedene seiner Vorträge versammelt, unter anderem einen über den Dramatiker Christian Dietrich Grabbe, den er mit einer Schilderung von dessen Geburtsstadt beginnt:

Am Fuß des Teutoburger Waldes, im Kern des alten Westfalenlandes, liegt die kleine lippische Residenz Detmold. Ein munterer Bach, von schmalen Brücken überwölbt, von hohen Bäumen überschattet, durchplätschert ihre Hauptstraße, deren zierliche Häuser aus wohlgepflegten Gärten freundlich zurückhaltend und würdig respektvoll herüberschauen, als wollten sie dem aus den Bergen kommenden Wanderer sagen: „Geh nur weiter, das große stattliche Fürstenschloss liegt am Ende der Straße.“

Ein eigener Hauch durchweht das alte deutsche Residenzstädtchen. Das Gras wächst munter zwischen den Pflastersteinen, macht unter jedem Tritte einen höflichen Knix und richtet sich gleich hinterher stolz und selbstbewusst wieder auf: „Ich gehör‘ doch auch zur Residenz, ich bin Hofgras!“ Fernab zieht der Strom des großen Lebens, kaum dass ein leises Rauschen herübertönt. Aber man hat einen empfänglichen Sinn für alle Dinge, die das Leben schmücken; die Kultur des Geistes und der Sitte hat hier einen alten Boden, und man ist stolz auf große geschichtliche Erinnerungen. Eine Tietmelle, eine Volksgerichtsstätte, erhob sich schon in ältester Zeit hier auf freiem Grund, und dort, in den Waldbergen, als deren höchster die Grotenburg aufragt, hat Hermann der Cherusker die Römer geschlagen.

Man verpasst nichts, wenn man Buch und Vortrag nicht kennt; aber diese tiefenentspannte Art der Schilderung mag ich doch, und der Einfall mit dem „Hofgras“ ist allerliebst!

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Erzählverse: Der Blankvers (112)

Es gibt Gedichte, die vor allem weit wirken: entgrenzt. Ein Beispiel ist die erste Hälfte von Hugo von Hofmannsthals „Botschaft“:

 

Ich habe mich bedacht, dass schönste Tage
Nur jene heißen dürfen, da wir redend
Die Landschaft uns vor Augen in ein Reich
Der Seele wandelten: da hügelan
Dem Schatten zu wir stiegen in den Hain,
Der uns umfing, wie schon einmal Erlebtes,
Da wir auf abgetrennten Wiesen still
Den Traum vom Leben niegeahnter Wesen,
Ja ihres Gehns und Trinkens Spuren fanden
Und übern Teich ein gleitendes Gespräch,
Noch tiefere Wölbung spiegelnd als der Himmel:
Ich habe mich bedacht auf solche Tage,
Und dass nächst diesen drei: gesund zu sein,
Am eignen Leib und Leben sich zu freuen,
Und an Gedanken, Flügeln junger Adler,
Nur eines frommt: gesellig sein mit Freunden.

 

Wenn 16 Blankverse vergehen müssen, bevor der erste „richtige“ Punkt nicht nur am Versende, sondern überhaupt erscheint: dann heißt das wohl, dass sich der Satz hier viel Raum nimmt, darüber aber der Vers nicht vergessen wird, der sich trotz aller Zeilensprünge jedesmal wieder hörbar ausbildet.

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Erzählformen: Das Distichon (100)

Eines der „Ventianischen Epigramme“ Johann Wolfgang Goethes geht so:

 

Ist denn so groß das Geheimnis, was Gott und der Mensch und die Welt sei?
Nein! Doch niemand hört’s gerne; da bleibt es geheim.

 

– Und das ist sicher schon „einfach so“ ein gutes Verspaar; aber ein kurzer Blick auf die Form lohnt trotzdem!

Im Pentameter fällt sicher die erste Hälfte auf, die mit zwei zweisilbigen Füßen besetzt ist, der deutlich seltensten Möglichkeit; und die Zäsur (nach „hört’s“), über die der Satz hier einfach hinweggeht.  Im Hexameter, bei dem, auch das eine der seltener genutzten Möglichkeiten, alle Einheiten dreisilbig sind, ist die Versbewegung nach der Zäsur ein genaueres Hinhören wert – abgeteilt nicht nach metrischen, sondern nach Sinneinheiten:

Ist denn so groß das Geheimnis, || was Gott | und der Mensch | und die Welt sei?

Dieses ◡ — | ◡ ◡ — | ◡ ◡ — — (Ich glaube, das „sei“ ist hier schwer?!) hat eine nachdrückliche Kraft – ein langsames Losgehen, das schneller wird und Kraft gewinnt … Wie so viele andere Bruchstücke des Hexameters kann man auch dieses, beziehungsweise seine Bewegung, in eigenen Texten nutzen und damit schöne Wirkungen erzielen – einfach einmal versuchen!