0

Erzählverse: Der Blankvers (110)

Der Blankvers kann eigentlich alles; auch „Überzeugungsrede“. In Heinrich von Kleists „Prinz Friedrich von Homburg“ sagt zum Beispiel Natalie zum Kurfürsten, der gegenüber einer Begnadigung Bedenken in Bezug auf das „große Ganze“ hat, hier in Gestalt des Vaterlands:

 

O Herr! Was sorgst du doch? Dies Vaterland!
Das wird, um dieser Regung deiner Gnade,
Nicht gleich, zerschellt in Trümmern, untergehn.
Vielmehr, was du, im Lager auferzogen,
Unordnung nennst, die Tat, den Spruch der Richter,
In diesem Fall, willkürlich zu zerreißen,
Erscheint mir als die schönste Ordnung erst:
Das Kriegsgesetz, das weiß ich wohl, soll herrschen,
Jedoch die lieblichen Gefühle auch.
Das Vaterland, das du uns gründetest,
Steht, eine feste Burg, mein edler Ohm:
Das wird ganz andre Stürme noch ertragen,
Fürwahr, als diesen unberufnen Sieg;
Das wird sich ausbaun herrlich, in der Zukunft,
Erweitern, unter Enkels Hand, verschönern,
Mit Zinnen, üppig, feenhaft, zur Wonne
Der Freunde, und zum Schrecken aller Feinde:
Das braucht nicht dieser Bindung, kalt und öd,
Aus eines Freundes Blut, um Onkels Herbst,
Den friedlich prächtigen, zu überleben.

 

Der ganz eigene Kleist-Ton ist da; und die überzeugende Wirkung deutlich zu spüren. Was ich nie richtig verstanden habe, ist das „feenhaft“; aber es ist ja erst einmal ein „Mehr und immer mehr“, und da ist es vielleicht auch nicht ganz so wichtig …

0

Erzählformen: Das Distichon (96)

Weither kracht von dem Meer, hülfrufend, der Schlag des Geschützes,
Durch die empörte Natur schreitet Entsetzen und Tod.

 

Siegfried August Mahlmann hat dieses Distichon in seinem Gedicht „Die Sturmnacht“ – ein Gegenstand, der sich mit den rhythmischen Möglichkeiten des Distichons sicher gut verträgt!

Die metrische Form:

Weither / kracht von dem / Meer, || hülf- / rufend, der / Schlag des Ge- / schützes,
Durch die em- / pörte Na- / tur || schreitet Ent- / setzen und / Tod.

— — / — ◡ ◡ / — || — / — ◡ ◡ / — ◡ ◡ / — ◡
— ◡ ◡ / — ◡ ◡ / — || — ◡ ◡ / — ◡ ◡ / —

„-Her“ (schwere Senkungssilbe) und „Meer“ (Hebungssilbe) bilden einen unschönen, weil hörbaren Gleichklang?!

0

Das Königreich von Sede (107)

Schemel am Graben

Auf, weiter hinauf, alle Saiten empor
Schickst, Narr, du die Finger; erneut; da gewahrst
Du im Augenwinkel ein anderes Auf,
Schaust hoch – und es mahnt
Aus des springenden Froschs Was-War-Ich-Gesicht
Gutmütiger Spott dich der Vorzeit.

0

Hölderlins Reime

Hölderlins Ruhm gründet sich eher auf seine ungereimten Gedichte; aber er hat auch viele gereimte geschrieben, und sicher keine schlechten! Ein Beispiel dafür ist „Der Jüngling. An die klugen Ratgeber“, das auch Roger Willemsen einmal vorgetragen hat:

Der Jüngling. An die klugen Ratgeber

Da geht zwar manches durcheinander, und einmal fehlt sogar eine halbe Strophe;  aber was soll’s. Der Schwung des Vortrags ist da viel wichtiger, und wie er das Lebendige der Verse, und damit Hölderlin erfahrbar macht.

Wer mag, kann diese Strophe vergleichen:

 

Das Leben ist zum Tode nicht erkoren,
Zum Schlafe nicht der Gott, der uns entflammt,
Zum Joch ist nicht der Herrliche geboren,
Der Genius, der aus dem Äther stammt;
Er kommt herab; er taucht sich, wie zum Bade,
In des Jahrhunderts Strom und glücklich raubt
Auf eine Zeit den Schwimmer die Najade,
Doch hebt er heitrer bald sein leuchtend Haupt.

 

So nah dran am, oder so weit weg vom Text (je nach Sichtweise) ist der ganze Vortrag …

0

Neue Anapäste

Das meint, genauer: es steht ein neuer Eintrag im Hinterzimmer „Gesammeltes“, Rudolf von Gottschalls Anapästische Versmaße, ein Beitrag, der auch ganz gut verdeutlicht, dass man nicht immer allen alles glauben sollte …

Gottschall sagt allgemein über die metrischen Auflockerungsmöglichkeiten der anapästischen Verse:

Auch der Spondäus, dessen zweite Silbe einen höheren Ton erhalten muss, kann statt des Anapästus gesetzt werden.

Meint: Ein ◡ ◡ — kann gegen ein — — ausgetauscht werden, falls in diesem „Spondäus“ die zweite der beiden schweren Silben die gewichtigere ist.

Ein Beispiel von Gerhart Hauptmann, ein anapästischer Dimeter mit gleich zwei solchen Ersetzungen:

Licht glitzert das Eis, und der Schneesturm fegt

— — , ◡ ◡ — || ◡ ◡ — , — —

In den Beispielversen, die Gottschall für den anapästischen Dimeter gibt (entnommen aus August von Platens „Romantischem Ödipus“), hat aber in den Spondäen gleich dreimal die erste Silbe mehr Gewicht, also den „höheren Ton“!

Auf, auf, o Genossen! Er wandelt heran
Lichtschön, wie Apoll, der Köcher und Pfeil
Im Gebüsch ablegt, und die Leier bezieht
Mit Saiten! Es spült der kastalische Quell
An die Knöchel des Gotts und es schleicht Sehnsucht
In die liebliche Seele der Musen.

„Lichtschön“, „ablegt“, „Sehnsucht“. Das ist selbstverständlich von Platen so gewollt, der durch das Besetzen der Hebung mit der leichteren Silbe, während die schwerere Silbe in die Senkung rutscht, die dem antiken Spondäus eigene Gleichheit beider Silben so gut wie möglich im Deutschen nachbilden wollte; was nicht von allen Metrikern geschätzt wurde. Aber wie auch immer man dazu steht – erst eine Regel aufzustellen und dann ein Beispiel zu geben, das dieser Regel zuwiderläuft, ist doch ein wenig eigenartig …

0

Bücher zum Vers (112)

Dr. Ernst Kleinpaul: Poetik. Die Lehre von der deutschen Dichtkunst.

Ein erfolgreiches Buch aus dem 19. Jahrhundert, erschienen noch 1892 in neunter Auflage bei Heinsius. Wenn man sich nicht an der  etwas altertümliche Erklärungsweise stört, lässt sich vieles erfahren; und wenn auch nicht alles heutigem Kenntnisstand entspricht, kann man über dieses Viele doch allemal lohnend nachdenken!

Ein Beispiel aus dem Hexameter-Abschnitt:

„Dass der nach der Betonung gut gebaute Hexameter keineswegs der deutschen Sprache widerstrebt, erhellt am klarsten aus der Tatsache, dass nicht ganz selten in der Prosa, selbst schon in Luthers Bibelübersetzung, einzelne Hexameter völlig unbeabsichtigt sich bilden, zum Beispiel: Wunder im Lande Hams und schreckliche Werke am Schilfmeer (Psalm 106, 22).“

Mein liebster Satz ist aber der allerletzte, das Buch schließende:

„So ist nunmehr der Kreislauf unserer Poetik beendigt, und wir drücken unseren Lesern, die uns mit Aufmerksamkeit und Verständnis gefolgt sind, im Geiste die Hand.“

Ein schöner Gedanke …

0

Das Königreich von Sede (106)

◡ —, ◡ ◡ —, ◡ ◡ — —,
— ◡ ◡ —, ◡ ◡ — —,
— ◡ ◡ —, ◡ ◡ — —,
— ◡ ◡ —, ◡ ◡ —, ◡ ◡ — ◡.

Als Strunk mit der Faust auf den Tisch schlägt,
Wackelt das Glas, und es schwappt Wein
Selig heraus; „Ich bin frei! Frei!“,
Ruft der, und laut – und verpfützt auf der Platte …

0

Erzählverse: Der Hexameter (164)

Ludwig Gotthard Kosegartens „Hymne an die Tugend“ lässt einen heutigen Leser fassungslos zurück. Nicht, weil sie wirklich schlecht wäre (obwohl sie, andererseits, auch nicht besonders gut ist); mehr, weil die sinnfreie Begeisterung, zu der sich ihre Hexameter aufschwingen im Lobpreis völlig abstrakter Konzepte, heute so gar nicht mehr als Mittel dichterischer Darstellung verstanden wird. Ein ganz knapper Ausschnitt:

 

Der du ernsten Blicks, gehorsamheischenden Anstands,
Hader schlichtend, und Frieden gebietend, und Brüder versöhnend,
Jene Scharen durchwallst: wer bist du, Himmelgeborner?
Rede, wer bist du! Wer trittst du einher so ruhigen Schrittes?
Sei mir gegrüßt in deinem Vermögen! Dich grüßen die Völker,
Grader gerechter Sinn! Des Rechtes ewiger Ecksein!
Goldner Pfeiler der himmlischen Ordnung! Schrecken des Drängers!
Aber der Leidenden Hort, ein Schild der flüchtenden Unschuld.

 

– Aber wer weiß: Vielleicht sollte das einmal wieder jemand versuchen; ganz ohne Wirkung bleibt es doch nicht, und das meint die Wirkung über die Erheiterung hinaus, denn unfreiwillig komisch wirkt dieser Text wohl unvermeidlich!