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Erzählverse: Der iambische Siebenheber (10)

Siebenheber genügen sich selbst, können aber auch ohne weiteres mit anderen Versen zusammenstehen. Eine ungewöhnlich zusammengestellte Strophe benutzt August Schnezler im dritten Gedicht seiner Reihe „Vom Mummelsee im Schwarzwald“, „Mummelsees Rache“ –  zwei Beispielstrophen:

 

„Wer schleicht dort aus dem Tannenwald mit scheuem Tritte her?
Was schleppt er in dem Sacke nach so mühsam und so schwer?“
„Das ist der rote Dieter, der Wilderer benannt,
Dem Förster eine Kugel hat er ins Herz gebrannt,
Jetzt kommt er, ins Gewässer den Leichnam zu versenken,
Doch unser alter Mummler lässt sich sowas nicht schenken.

Der Alte hat gar leisen Schlaf, ihn stört sogar ein Stein,
Den man vielleicht aus Unbedacht ins Wasser wirft hinein;
Dann kocht es in der Tiefe, Gewitter steigen auf,
Und flieht nicht gleich der Wandrer mit blitzgeschwindem Lauf,
So muss er in den Fluten als Opfer untergehen,
Kein Auge wird ihn jemals auf Erden wiedersehen!“

 

Drei Reimpaare; das erste besteht aus iambischen Siebenhebern, das zweite aber aus „neuen Nibelungenversen“:

x X x X x X x | x X x X x X

Das war im 19. Jahrhundert ein beliebter Erzählvers! Das dritte Reimpaar verlängert diesen Vers dann noch um eine unbetonte Silbe, was einen ziemlich unüblichen Vers ergibt, beziehungsweise zerfällt der Langvers dann ein wenig in zwei gleichgebaute dreihebige Verse?!

Aber die Strophe insgesamt – die hat schon ihre Wirkung und zeigt schön, dass sich auch im Bereich des Strophenbaues viel Nachdenkenswertes entdecken lässt!

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Erzählverse: Der Hexameter (166)

Mich treibt immer noch die „Ausführliche teutsche Sprachlehre“ von Friedrich Schmitthenner um – siehe (165)! Da findet sich auch folgende Regel:

Gleiche Wortfüße nacheinander müssen möglichst vermieden werden, weil sonst leicht neben dem durch das Metrum gebotenen Rhythmus noch ein anderer sich gestaltet, der jenen übertönt, zum Beispiel

Schroffe Gestade des Meeres, die Wogen gewaltig erbrausten.

Einer der unschönen, durch fünf amphybrachische Wortfüße, sprich: Sinneinheiten „gelähmten“ Hexameter! Woher er stammt, wird nicht angegeben, und sucht man im Netz, findet er sich auch nicht; oder besser, er findet sich, aber in einem anderen Werk Schmitthenners, und auch da ohne Quelle …

Ursprachlehre. Entwurf zu einem System der Grammatik mit besonderer Rücksicht auf die Sprache des indisch-teutschen Stammes: das Sanskrit, das Persische, die peasgischen, slavischen und teutschen Sprachen.

So heißt dieses Werk, und in ihm liest man:

Die Wortfüße dürfen nicht so gewählt und geordnet werden, dass neben dem durch das Metrum gebotenen Rhythmus noch ein anderer her läuft, weil sonst die Einheit der Form unkenntlich wird, wie zum Beispiel folgender Vers …

Schroffe Gestade des Meeres, die Wogen gewaltig erbrausten,

amphybrachisch aus seinem Metrum heraushüpft.

Hm. Ich bin mit der Begründung nicht ganz einverstanden, kann aber noch nicht den Finger darauf legen … Aber auch andere Metriker geben die Empfehlung, im Hexameter keinen Wortfuß mehr als zweimal hintereinander zu gebrauchen, und der Blick in die Texte zeigt, da ist wirklich etwas dran. Es lohnt sich also, beim eigenen Schreiben ein wenig darauf zu achten!

Zum Schluss noch ein anderer Vers, der die ziemlich häufig „schroffen“ „Gestade“ enthält, nur so zum Vergleich – aus dem fünften Gesang der Odyssee, in der Übersetzung von Voß:

 

Graunvoll donnerte dort an dem schroffen Gestade die hohe,
Fürchterlich strudelnde Brandung, und weithin spritzte der Meerschaum.

 

Da hüpft dann nichts aus dem Metrum, schon gar nicht amphybrachisch, ein Wortfuß, gegen den Voß bekanntlich eine tiefe Abneigung besaß …

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Erzählformen: Die alkäische Strophe (23)

In seiner sehr empfehlenswerten „Einführung in den neueren deutschen Vers“ (Metzler 1989) schreibt Alfred Behrmann auf Seite 79:

Wer die Sorgfalt für die einzelne Silbe, die das Dichten in strengen gräko-lateinischen Versen erzwingt, als subaltern empfindet, mag auf Bürger hören, der erklärte: „Ich verkündige allen denen, die es noch nicht wissen, ein großes und wahres Wort: Ohne die Silbenstecherei darf kein ästhetisches Werk auf Leben und Unsterblichkeit hoffen.“

Nun ist Bürgers Aussage eine sehr einseitige, damit angreifbare und auch oft angegriffene; aber das Beispiel, das Behrmann dann für die alkäische Ode angibt – Friedrich Hölderlins zweistrophige Ode „An unsre großen Dichter“ -, lässt doch sehr stark vermuten: Es ist etwas dran …

 

Des Ganges Ufer hörten des Freudengotts
Triumph, als allerobernd vom Indus her
Der junge Bacchus kam, mit heilgem
Weine vom Schlafe die Völker weckend.

O weckt, ihr Dichter! weckt sie vom Schlummer auch,
Die jetzt noch schlafen, gebt die Gesetze, gebt
Uns Leben, siegt, Heroën! ihr nur
Habt der Eroberung Recht, wie Bacchus.

 

Um eine Strophe so selbstverständlich, so überzeugend füllen zu können, muss man schon einiges an Arbeit aufwenden; und Erfahrung schadet ganz bestimmt auch nicht. Und selbst einer der großen Dichter sein, wahrscheinlich; Hölderlin eben.

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Erzählverse: Der Hexameter (165)

Metrische Lehrbücher des 19. Jahrhunderts zeichnen sich auch aus durch, na, ich sage einmal: Meinungsfreudigkeit. Oft sind sie viel stärker vorschreibend als beschreibend, und was der Vorschrift dann nicht entspricht, hat halt Pech gehabt …

Ein Beispiel ist da Friedrich Schmitthenners „Ausführliche teutsche Sprachlehre“ aus dem Jahre 1828. Darin findet man Sätze wie diesen:

Die Geschichte des Hexameters unter den Teutschen ist zugleich eine der Verirrungen des Geschmackes; die hässlichsten Verse sind unter seinem Namen gebildet worden.

Dieses Urteil veranschaulichen sollen auch Verse von Wieland. „Die Güte des Herren“ schließt der einen Vers, um dann fortzufahren:

 

Ist die Mutter der Freude, des ruhigen Lächelns der Unschuld
Und der erhab’nen Entzückung, die bis zum Throne hinaufflammt.

 

Was hier Schmitthenners Zorn herbeiruft, wird nicht gesagt; ich denke, es sind vor allem die beiden zweisilbigen Versfüße „Ist die“ und „bis zum“ – schließlich schreibt Schmitthenner:

An den daktylischen Sechsfüßler ergehen die unnachlässlichen Forderungen:

1. Dass der Daktylus nirgends durch einen Trochäus vertreten werde, weil er verständigerweise nur den Spondeus, als einen Fuß von gleicher Dauer, zum Stellvertreter haben kann.

Das kann man so sehen – schade nur, dass man damit allen Hexametern Klopstocks, Goethes, Schillers und Hölderlins jeglichen Wert abspricht … Erfordert etwas Mut, sicherlich?! Vorsichtige Naturen beschränkten sich wahrscheinlich darauf, im zweisilbigen Fuß eine ausreichend starke Hebungssilbe anzumahnen; „Ist“ und „bis“ leisten das kaum, aber auch das ist nichts, was ein achtsamer Vortrag nicht ausgleichen könnte …

Die zweite dieser „unnachlässlichen Forderungen“ aber beindruckt zum einen durch ihre Gewissheit, die durch die Kargheit des Ausdrucks wunderbar deutlich wird; zum anderen dadurch, dass sie tatsächlich wahr ist:

2. Dass die Mittelruhe stattfinde.

Meint: Ein Hexameter ohne Zäsur ist keiner. Und das stimmt, ohne jedes Wenn und Aber.

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Das versbewegte Ohr

In Wilhelm August Schlegels „Urteile, Gedanken und Einfälle über Literatur und Kunst“ aus dem Jahre 1798 findet sich ganz unterschiedliches; alles aber lesbar und oft eher anekdotisch und mit Sinn für die kleine Spitze nebenher als übermäßig tiefgründig. So schreibt Schlegel in Bezug auf die Kunsträubereien, die Napoleon 1796/1797 während seines italienischen Feldzugs betrieben hatte:

105. Gegen den Vorwurf, dass die eroberten italienischen Gemälde übel behandelt würden, hat sich der Säuberer derselben erboten, ein Bild von Carracci halb gereinigt und halb in seinem ursprünglichen Zustande aufzustellen. Ein artiger Einfall! So sieht man bei plötzlichen Lärm auf der Gasse manchmal ein halb rasiertes Gesicht zum Fenster herausgucken; und mit französischer Lebhaftigkeit und Ungeduld betrieben mag das Säuberungsgeschäft überhaupt viel von der Barbierkunst an sich haben.

Bei den kürzeren Einträgen, die schon ins Aphoristische gehen, regt sich aber auch der „Verssinn“, der gestaltete Sprache wittert und ein mögliches Epigramm ahnt!

50. Die Poesie ist Musik für das innere Ohr, und Malerei für das innere Auge: aber gedämpfte Musik, aber verschwebende Malerei.

Das Deutsche hat nicht viele anapästische Wörter, aber „Poesie“ und „Malerei“ gehören dazu; und „Musik“ ist auch ein „steigendes“ Wort! Kein Wunder also, dass die Suche in Richtung anapästischer Versmaße geht, und tatsächlich – unter Weglassung zweier (entbehrlicher) leichter Silben ergibt sich ein anapästischer Tetrameter!

Poesie / ist Musik / für das in– / nere Ohr, || Malerei / für das in– / nere Au– / ge.

◡ ◡ — / ◡ ◡ — / ◡ ◡ — / ◡ ◡ — || ◡ ◡ — / ◡ ◡ — / ◡ ◡ — / ◡

Etwas eintönig vielleicht in der ausschließlichen Verwendung von Anapästen (ein hier und da eingestreuter „steigender Spondeus“ tut dem Vers ganz gut), aber metrisch überhaupt nicht zu beanstanden!

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Go: Die alten Meister (70)

Die alten Meister sagen:
Wer kein Atari gibt,
Kann keine Steine schlagen.

 

(Atari: Ein Zug, nach dem gegnerische Steine nur noch einen Zug davon entfernt sind, geschlagen zu werden.)

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Der Rheinfall im Vergleich

Wieder ein Gedicht zum „Rheinfall von Schaffhausen“ – er fand schon Erwähnung in Der Hexameter (53), Das Sonett (13), Ganz frei , Das Distichon (73) und Die Wogenpferde (und nicht zu vergessen Das Distichon (41) zum Zackenfall).

– Ich weiß, die Überschrift klingt leicht missverständlich … Es geht um die Beschreibung des Rheinfalls am Anfang von Friedrich Gottlieb Klopstocks Ode „Aganippe und Phiala“, bei der es aber gar nicht wirklich um den Rheinfall geht, sondern er als Vergleichsgegenstand herhalten muss, hier: des Gesangs! Womit Klopstock dann auch schon seinen eigenen meinte … Die ersten fünf Strophen:

 

Wie der Rhein im höheren Tal fern herkommt,
Rauschend, als käm Wald und Felsen mit ihm,
Hochwogig erhebt sich sein Strom,
Wie das Weltmeer die Gestade

Mit gehobner Woge bestürmt! Als donnr‘ er,
Rauschet der Strom, schäumt, fliegt, stürzt sich herab
Ins Blumengefild‘, und im Fall
Wird er Silber, das emporstäubt.

So ertönt, so strömt der Gesang; Thuiskon,
Deines Geschlechts. Tief lags, Vater, und lang
In säumendem Schlaf, unerweckt
Von dem Aufschwung und dem Tonfall

Des Apollo, wenn, der Hellenen Dichter,
Phöbus Apoll Lorbeern, und dem Eurot
Gesänge des höheren Flugs
In dem Lautmaß der Natur sang,

Und den Hain sie lehrt‘, und den Strom. Weitrauschend
Halltest du’s ihm, Strom, nach, Lorbeer, und du
Gelinde mit lispelndem Wehn,
Wie der Nachhall des Eurotas.

 

Dazu ließe sich jetzt manches sagen, aber ich denke, für die heutige Zeit ist das doch deutlich zu verschwurbelt und inhaltlich ohnehin nicht mehr verständlich?! Aber immerhin, die zweite Strophe, die mit dem Rheinfall: die ist gut! (Auch wenn Klopstock, wie alle anderen, die den Rheinfall besungen haben, nicht ohne das „donnern“ auskommt.)

Wer metrische Tüftelarbeit liebt, kann ja einmal versuchen, der Strophe auf die Schliche zu kommen, die Klopstock hier verwendet hat; aber Vorsicht! Es ist eine seiner Eigenentwicklungen, und daher ziemlich ungewöhnlich. Aber darum geht es ja der ganzen Ode – um genau diese Art von „Gesang“ …