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Bücher zum Vers (109)

Verena Doebele-Flügel: Die Lerche

Alles war schon einmal da, und es ist allemal besser, sich schreibend zum schon Dagewesenen bewusst zu verhalten statt so zu tun, als träte der entsprechende Inhalt mit den eigenen Versen frisch wie der neue Tag in die Welt.

Dieser 1977 bei de Gruyter erschienene Band, eine „Motivgeschichtliche Untersuchung“,  schafft die Voraussetzungen dafür in Bezug auf die Lerche, zumindestens von der Spätantike bis hin zu den Romantikern Tieck, Brentano und Eichendorff.  Viele Erklärungen und Einordnungen samt einem ausführlichen Stellenverzeichnis („Wenn das Blau voll Lerchen hängt“ – Eichendorff) lassen nur wenige Wünsche offen und geben sehr viel Futter zum Nachdenken.

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Erzählverse: Der trochäische Vierheber (68)

Ignatz Heinrich von Wessenberg beginnt sein „Die Wolken“ so:

 

Eine Wolke sprach zur andern,
Auf dem Wege ihr begegnend:
„Wohin ziehst du? Was beginnst du?“
Ernst versetzt darauf die andre:
„Weiß ich’s selber denn? Zum Spiele
Dienen ja wir armen Wolken
Allen Launen der verborg’nen,
Schnellen, wandelreichen Winde.“

 

„Also ist es“, bestätigt darauf die erste, und man wundert sich nicht nur, warum sie dann überhaupt gefragt hat, sondern auch, welche Geschichte sich aus diesem Beginn spinnen lässt?! Gar keine, wie sich zeigt – nach einer längeren Ausführung des Bildes offenbart sich, es war nur Verdeutlichung eines anderen Zusammenhangs! Die letzten beiden Vers lauten nämlich:

 

Was die Wolken sind den Winden,
Sind die Herrscher den Gesetzen.

 

Das mag stimmen oder auch nicht; den Versen merkt man ihre „Uneigentlichkeit“ jedenfalls an, in Inhalt und Aufbau – die trochäischen Vierheber klingen hier doch arg hölzern und geschäftsmäßig!

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Das Lächeln

„Das Lächeln“, im Untertitel „Eine Frühlingsballade“ genannt, ist ein Gedicht des im gestrigen Beitrag erwähnten Anton Wildgans. Es hat sieben Strophen; die vierte, fünfte und sechste lesen sich so:

 

In meinem Leben weiß ich einen Kranken,
Gelähmt an Gliedern, Willen und Gedanken,
Nur seine Seele war dem Wunder heil –
Der konnte lächeln, wenn der erste Schimmer
Der Frühlingssonne in sein traurig Zimmer
Sich leise schob, ein goldner, zarter Keil.

Der konnte lächeln über jede Blüte,
Dass dieses Lächelns wundervolle Güte
Dem toten Auge flüchtig Leben gab:
Der konnte weinen über Kinderlieder
Und tiefer atmen, wenn der Duft vom Flieder
Ihn grüßen kam in seiner Kissen Grab.

Und dieses Lächeln, diese Tränen waren
So überreich an jenem Wunderbaren,
Des alle darben, die so dumpf-gesund.
Und ich hielt dieses Mannes Hand im Sterben,
Und ward zu seines Lächelns Erben,
Das wie ein Blühen lag um seinen blassen Mund.

 

– Und das sind fraglos sichere Verse. Die sechste Strophe weicht allerdings etwas ab vom gewöhnlichen Aufbau der verwendeten Schweifreim-Strophe: Der fünfte Vers hat nur vier Hebungen statt der vorgesehenen fünf, dafür ist dann aber der sechste Vers um eine Hebung zu lang, er hat deren sechs!

An der Wirkung der Strophe ändert das nichts, die Silbenzahl bleibt ja gleich, es wird nur leicht „umverteilt“. Schaut man in die anderen Strophen, fällt allerdings noch eine weitaus größere Abweichung auf – die zweite Strophe:

 

Dass über Nacht ein Wunder neu geboren,
Dass aus der alten Häuser tiefen Toren
Nun wieder Kinderlaut und Kühle weht –
Und dass sich Wölkchen bilden in den Lüften
Von Zigaretten- und Orangendüften
Oder Parfum, wenn eine schöne Frau vorübergeht –

 

Was ist da vom letzten Vers zu halten? Sind das nicht sogar sieben Hebungen?! Zum Glück kann man Verfasser selbst befragen – es gibt eine historische Lesung des „Lächelns“ von ihm, aus dem Jahre 1931:

Anton Wildgans liest „Das Lächeln“

Wie man damals eben so vortrug, sehr weihevoll-getragen … Den „Parfum-Vers“ liest sein Schöpfer, wie mir scheint, aber mit nur fünf Hebungen, also zwei dreisilbig besetzten Senkungen?! Oder, wenn man will, fünfeinhalb Hebungen; das „oder“ vorn ist nicht ganz schwach.

Insgesamt haben vier von sieben Strophen verlängerte Schlussverse; das ist also sicher kein Zufall, sondern gestalterische Absicht!

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Von den Anfängen

Wo beginnt ein Dichter-Sein?! Im Falle Anton Wildgans‘ in allerfrühester Jugend, wie er in „Mein Leben“ berichtet.  Als ihm 1885 vierjährig die Mutter starb, zog er wenig später mit Vater und Tante um, und:

Untertags war ich hier auch hier meistens allein. Des Abends aber legte sich mein Vater früh zu Bett, und zwar war mein Gitterbett an das seine angeschoben. Da pflegte er nun bei dem Lichte eines kleinen Petroleumlämpchens zu lesen und mir einzelne Gedichte Schillers laut vorzusagen. Da ich ein empfängliches Gedächtnis hatte, redete ich ihm bald einzelne Verse nach, und es dauerte nicht lange, so konnte ich „Hektors Abschied“ und den „Handschuh“ auswendig. Nun brachte mir mein Vater eine Art Vortrag bei, indem er mich anleitete, die Worte Hektors mit anderer Betonung und Stimme zu sprechen als die der Andromache. Er war dabei sehr liebevoll und ohne Strenge. Auch belohnte er jedes Gedicht, das ich neu auswendig konnte, mit einem Geschenk in Form farbiger Bleistifte und vieler Bilderbogen. Wenn wir nicht gerade Gedichte auswendig lernten, so hatte mein Vater eine andere Beschäftigung mit mir. Er gab mir Wörter auf, zu denen ich ihm die Reimwörter sagen musste. Dieses Spiel liebte ich bald besonders.

Schiller also, und in so jungen Jahren. Nun ja, warum nicht. Obwohl man sich sicher fragen kann, was der kleine Anton denn zum Beispiel von der Schlussstrophe des „Abschieds“ verstanden hat:

 

 Hektor

All mein Sehnen will ich, all mein Denken
In des Lethe stillen Strom versenken,
Aber meine Liebe nicht.
Horch! der Wilde tobt schon an den Mauern,
Gürte mir das Schwert um, lass das Trauern,
Hektors Liebe stirbt im Lethe nicht.

 

Also abgesehen davon, dass er danach wusste, wie dieser ganz eigene Schiller-Ton klingt …

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Erzählverse: Der Blankvers (106)

Im ersten Band von Karl Wolfkehls gesammelten Werken (Claassen 1960) findet sich ab Seite 366 der „Maskenzug 1904“, der mit „Dionysos“ beginnt:

 

Blickt her blickt her! ich selber herr des ringes
Der sich verschlingt und sich gebärt, blickt her!
Mit allen meinen wunden steig ich auf.
Geheimsten ort erschließt das goldne Dunkel
Das zeugende das allumfassende.
Ihr alle meine wahl ihr meine Herde
Blickt her! schart euch und wallet, wirkt und wogt!
Wo ihr auch schweifet folgend meiner macht –
Denn euer keinen miss ich aus dem kreis:
Nicht der auf eigner glutbahn wähnt zu fahren
Um finstre sterne, nicht der im gewölb
Brünstigen gärens um gesichte ringt:
Nicht der da welkt, nicht der da prangt: mein reich
Des schwingens und schwärmens grenzenlose zonen …
Befruchtend graun göttliche trunkenheit
Brich ein! brich aus! schmück borden und gebälk!
Gerüst und schranke saug in deine lampen!
Mit weingewinden höhe alle pforten!
Es ist die nacht, die tag ist, aufgegangen.

 

Da ist, allemal, eine eigene Stimme zu vernehmen, und das auch jenseits der wunderlichen Zeichensetzung und des „Kleinschreibung-bis-auf-den-Versanfang-Spaßes“.  Wobei, auch das will erwähnt werden, manches doch etwas behauptet wirkt … aber gut, trotzdem: sehr lesbar!

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Bücher zum Vers (108)

Derek Attridge: Moving Words. Forms of English Poetry.

„Moving Words“, erschienen 2013 bei Oxford University Press, ist auch für jemanden, der eher über deutsche Verse nachdenken möchte, ein lesenswertes Buch. Neben allgemeinen Betrachtungen und Betrachtungen zum Reim fand ich besonders den zweiten Teil gut,“Rhythm and Metre“, und darin das Kapitel „Rhythm in English Poetry: Beat Prosody“. Gegenstand der Untersuchung ist die erste Strophe eines Gedichts von Alan Alexander Milne (das ist der, der Winnie-the-Pooh geschrieben hat), „Disobedience“ (erschienen 1924 in „When We Were Very Young“):

 

James James
Morrison Morrison
Weatherby George Dupree
Took great care of his mother
Though he was only three.
James James said to his mother
Mother he said, said he:
You mustn’t go down to the end of the town if you don’t go down with me.
James James Morrison’s Mother
Put on a golden gown.
James James Morrison’s Mother
Went to the end of the town
James James Morrison’s Mother
Said to herself, said she:
I can go right down to the end of the town and be back in time for tea!

 

– Und da stellt sich dann heraus, dass das, was hier ziemlich durcheinander aussieht, eben doch einem genauen Grundrhythmus folgt!

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Erzählformen: Das Madrigal (30)

Johann Wolfgang Goethes Singspiele sind, wie alles von ihm, einen Blick wert; auch und vor allem in Hinblick auf die Versgestaltung! In „Scherz, Ernst und Rache“ sieht Scapine Charons Nachen sich nähren (oder behauptet das zumindest), und sagt zum Doktor:

 

Doch stille! Dass ich dich nicht nenne,
Dass dich der Alte nicht erkenne.
Du hast ihm so viel Fährlohn zugewendet,
So manches Seelchen ihm gesendet;
Erkennt er dich, so nimmt er dich nicht ein,
Du kannst ihm hüben mehr als drüben nützlich sein.

 

Wieder der hier schon häufiger vorgestellte Wechsel aus iambischen Vier-, Fünf- und Sechshebern, aber diesmal mit einem bemerkenswerten Anschwellen: erst ein Reimpaar aus Vierhebern, dann ein Reimpaar aus einem Fünf- und einem Vierheber, dann eines aus einen Fünf- und einem Sechsheber! Das könnte man einen „organischen Übergang“ nennen hin zu immer größeren Verslängen; der auch durch die Paarreime gehalten und verbunden wird.

Inhaltlich ist es in milder Form der Spott, den sich die Ärzte der damaligen Zeit in Gedichten und Epigrammen häufig anhören mussten; warum nicht auch im Singspiel …

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Erzählverse: Der Hexameter (162)

Hexameter und Reim

Zwei Größen sind für jeden metrisch geregelten Vers von entscheidender Bedeutung, seine Bewegung und sein Klang; eine dieser Größen ist dabei die Grundlage des Verses, während die andere, obwohl sie für das Gelingen des Verses genauso wichtig ist, sich dienend unterordnet.

Ist, wie im Reimvers, der Klang die Grundgröße: dann achtet der Verfasser zwar auf eine anziehende und abwechslungsreiche Versbewegung, wählt sie aber so, dass sie auf den Gleichklang am Versende hinführt.

Ist, wie im Hexameter, die Bewegung die Grundgröße: so achtet der Verfasser auch auf einen vollen und abwechslungsreichen Klang, will aber mit ihm die Linien der Versbewegung erfahrbar machen.

Daher ist dem Hexameter der Endreim fremd, denn der Reim lenkt die Aufmerksamkeit des Hörers auf den Gleichklang am Schluss des Verses und zieht sie ab von der Grundgröße, der Versbewegung, die am Beginn des Verses einsetzt und dann auf die den Hexameter bestimmenden Art den Versraum durchschwingt.

Trotzdem können, wenn schon nicht Endreime, so doch  Gleichklänge im Hexameter gebraucht werden. Gleich einen dreifachen Gleichklang benutzt Anton Wildgans im Kirbisch (7,72-73), um den Augenblick zu beschreiben, in dem ein zuvor heimlich weitergereichtes Gerücht öffentlich wird:

 

Was das Vöglein gewispert, am hellichten Tage gedieh es
Dort zum staunenden, raunenden, endlich posaunenden Chorus!

 

Neben dem Reim fällt auch die falsche Zäsur nach dem dritten Fuß auf; der Vers ist kaum noch als Hexameter erfahrbar. Auch die Verseingänge sind schwach, und einer davon, „Was das“, ist sogar eine Art Gleichklang; und ja, derlei zu vermeiden lohnt sich!

Verse wie diese beiden sind möglich, aber rar, und sie benötigen immer eine starke inhaltliche Begründung. Im Allgemeinen gilt: Hexameter reimen sich nicht!