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Erzählverse: Der iambische Trimeter (25)

Der Trimeter ist, seinem Wesen nach, ein eher getragener und würdevoller Vers. Das heißt aber nicht, es ließe sich mit ihm kein Unsinn treiben! Robert Prutz etwa lässt in seiner dramatischen Satire „Die politische Wochenstube“ einen gewissen Kilian sagen:

 

Schon aber mir im Herzen etwas reget sich
Und brodelt und kocht, wie Butter in der Pfanne tut,
Und durch die Glieder, leise krappelnd, rieselt es,
Nun hier, nun dort: und meinen Magen wärmt es mir.

 

Und das, keine Frage, klingt nicht sehr ernsthaft. Schon zwei Verse später wird es allerdings noch unernsthafter, als Kilian den Gegenstand „Magen“ noch weiter ausführt:

 

Wohl alles entstammt des Magens finsterm Grund: doch nicht
Das Böse bloß: auch jedes Gute stammt daher
Und jede Tugend, jede schöne Leidenschaft;
Ja selbst die große Götter- und Menschenkönigin,
Die Liebe selbst ist unsers Magens Tochter nur!
Darum auf Griechisch Appetite heißt sie auch.

 

Aha. An vielen Stellen teilt Prutz Stück‘ aber auch scharf und heftig aus gegen alles, was in Staat und Literatur schief lief nach Meinung des Verfassers; und das brachte diesem promt eine Klage wegen Mäjestätsbeleidigung ein. Viele der damaligen Ereignisse sind heute nicht nur nicht mehr wichtig, sondern sogar gar nicht mehr verständlich; aber eine solche Klagen, die soll es heute ja auch noch zu bestaunen geben …

Schaut man auf den Versbau, fallen die vergleichsweise zahlreichen doppelt besetzten Senkungen auf!

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Erzählformen: Das Distichon (84)

Isola Madre

Hier, wo zarte Natur in überschwänglicher Schöne
Himmel zum göttlichen Bild, Pflanzen und Wasser vereint.

 

Wilhelm Waiblinger beginnt so ein längeres Gedicht. Bemerkenswert ist, wie sich der Satzbau auflöst, die Wörter im Pentameter eher der Führung des Verses als der des Satzes folgen.

Die metrische Form:

Hier, wo / zarte Na- / tur || in / über- / schwänglicher / Schöne
Himmel zum / göttlichen / Bild, || Pflanzen und / Wasser ver- / eint.

— ◡ / — ◡ ◡ / — || ◡ / — ◡ / — ◡ ◡ / — ◡
— ◡ ◡ / — ◡ ◡ / — || — ◡ ◡ / — ◡ ◡ / —

Der Hexameter zeigt alle drei gefahrlosen Möglichkeiten einer zweisilbigen Einheit: Am Versbeginn, unter Einbeziehung des Einschnitts, als Bestandteil zusammengesetzter Wörter.

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Die Wogenpferde

Wieder ein Gedicht zum „Rheinfall von Schaffhausen“ – er fand schon Erwähnung in Der Hexameter (53), Das Sonett (13), Ganz frei und Das Distichon (73) (und nicht zu vergessen Das Distichon (41) zum Zackenfall). Diesmal besingt ihn Christian Wagner:

 

Welch Donnersausen
Und Wogenbrausen,
Sich überstürzen,
Mit Schaum sich schürzen!

Sind’s Fohlen mit ihren Müttern,
Die, bange vor Sturmgewittern,
Bei rollenden Donnerstimmen
Den Strom durchschwimmen?

Die Mähnen, die weißen Mähnen
So sturmwild flattern;
Dort übereinander sich lehnen
Die Müdern, die Altersmattern.

Die Hengste mit starken Hufen
Sich breite Stufen
Ins Wasser schlagen
Und weiter jagen.

Noch kündet donnerd‘ Gewieher
Viel tausend der gleichen Flieher,
Und tausend der grauen Stuten
Tief unten stromabwärts fluten.

 

Und er braucht dafür, wie könnte es anders sein! das „Donnern“.  Sogar dreimal, was sicher ein wenig übertrieben ist und ein wenig geistlos wirkt?! Dafür ist aber die Ausgestaltung des alten und gutbekannten „Wasserpferde-Bilds“ gar nicht so schlecht gemacht, und die Reime sind auch vergleichsweise frisch; insgesamt also durchaus lesbar!

Hier noch, als Erinnerung und zum Vergleich, Eduard Mörikes distichische Wogenrösser:

 

Rosse der Götter, im Schwung, eins über dem Rücken des andern,
Stürmen herunter und streun silberne Mähnen umher;
Herrliche Leiber, unzählbare, folgen sich, nimmer dieselben,
Ewig dieselbigen – wer wartet das Ende wohl aus?

 

Da liegt der Nachdruck, wie bei dieser Form zu erwarten, viel stärker auf der Wortbewegung als auf dem Klang, und Mörike macht das wirklich sehr beeindruckend!

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Erzählformen: Das Distichon (83)

Ein Autor an einen anderen

Lieber, ich weiß (nicht von dir; denn schweigend erträgst du dein Schicksal),
Dass es schlecht um den Ruhm deiner Erzeugnisse steht.

 

Dieses Distichon von Hermann Kurz ist nur das erste eines längeren Textes, der auch nur ein Text unter mehreren ist, die Kurz unter der Überschrift „Autorenklagen“ versammelt hat. Nun ja: auch derlei will geäußert sein und gehört werden!

Die metrische Form:

Lieber, ich / weiß (nicht von / dir; || denn / schweigend er- / trägst du dein / Schicksal),
Dass es / schlecht um den / Ruhm || deiner Er- / zeugnisse / steht.

— ◡ ◡ / — ◡ ◡ / — || ◡ / — ◡ ◡ / — ◡ ◡ / — —
— ◡ / — ◡ ◡ / — || — ◡ ◡ / — ◡ ◡ / —

Die Klammer ist etwas, das man in Distichen nicht oft sieht; und sie macht aus dem richtigen Vortrag des Hexameters eine spannende Aufgabe!

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Erzählverse: Der iambische Vierheber (11)

Ich stecke im Augenblick in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts fest, also in den Zeiten vor Klopstock, in denen ein Gedicht grundsätzlich gereimt war; und im Fall, dass es das ausnahmsweise doch nicht war, dieses im Titel angemerkt wurde wie zum Beispiel bei Karl Friedrich Drollinger. „Unschuldige Frühlingslust, in reimenlosen Versen“ heißt das Gedicht, dessen zweite Hälfte ich vorstellen möchte; in der ersten Hälfte sammelt die „kleine Phyllis“ schon Blumen, als:

 

Doch, wenn ihr ein gewürzter Duft,
Den ein verborgner Veilchenbusch
Bis in die Ferne von sich haucht,
Geruch und Herze plötzlich rührt,
Dann fühlt sie einen neuen Trieb,
Dann wallt ihr Blut, dann eilt ihr Fuß.
Sie sucht, sie findt, sie jauchzt vor Lust.
Schau, wie sie lebt! Schau, wie sie lacht!
Schau, wie sie sich geschäftig bückt
Und pflückt und unersättlich pflückt,
Ihr Kleidchen füllt, das Haar bekränzt,
Und hüpft und singt; und dann zuletzt,
Beladen mit der süßen Last,
Nach ihrer Hütte wiederkehrt!
Da schüttet sie mit tausend Lust
Den Raub, den wunderschönen Raub,
Der himmelblauen Blüten Schatz
Der werten Mutter in den Schoß.

 

„Unschuldig“ fürwahr; im höchsten Grade. Und auch „reimenlos“ – die eine Ausnahme, das „bückt / pflückt“, kann man Drollinger durchgehen lassen …

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Eine vergessene Strophe

In „Silenius“ von Johann Peter Uz singt der im Titel genannte Silen in der ersten Strophe; die zweite beginnt so:

 

Der Muse sei vergönnt, dir, Vater! nachzulallen!
Ich hör ihr Saitenspiel, ich hör es schon erschallen;
Sie wiederholt dein göttlich Lied.

 

Und nun erwartet man, wenn man denn überhaupt etwas erwartet, am ehesten die Vervollständigung der Strophe durch ein weiteres Alexandriner-Reimpaar und einen sechsten, vierhebigen Vers, der mit dem vierhebigen dritten Vers reimt, sprich: eine Schweifreim-Strophe, gereimt aabccb. Aber es kommt ganz anders:

 

Der Muse sei vergönnt, dir, Vater! nachzulallen!
Ich hör ihr Saitenspiel, ich hör es schon erschallen;
Sie wiederholt dein göttlich Lied.
Du sangst, wie ungestüm das finstre Chaos brüllte,
Bis Erd‘ und blaue Flut und Luft und Feuer schied,
Und sich die alte Zwietracht stillte.

 

Es folgen also tatsächlich zwei Alexandriner und ein Vierheber, aber die Reimform ist aabcbc! Das gibt, zusammen mit dem tiefen Sinneinschnitt nach dem dritten Vers, einen ganz eigenartigen Höreindruck, so als würden Versgestaltung und Reimgestaltung einander widersprechen, oder doch, zumindest: Nichts voneinander wissen wollen.

Ein anderes Beispiel für diese Form, wieder von Uz – eine Strophe aus seiner „Fröhlichen Dichtkunst“. Die ersten drei Verse:

 

Einst lag ich sorgenvoll im Schatten finstrer Buchen,
Wo sich ein träger Bach, den Faunen bloß besuchen,
Durch eimsames Gefilde wand.

 

Wieder das Alexandriner-Reimpaar, dem der Vierheber folgt, und der tiefe Sinneinschnitt. Und dann? Wieder keine Schweifreimstrophe, sondern das Reimschema aabcbc; aber diesmal mit noch anderen Versen!

 

Einst lag ich sorgenvoll im Schatten finstrer Buchen,
Wo sich ein träger Bach, den Faunen bloß besuchen,
Durch eimsames Gefilde wand.
Mein Saitenspiel vergaß der Schönen,
Und meine scherzgewohnte Hand
Verirrte sich zu trauervollen Tönen.

 

Die zweite Strophenhälfte bilden ein weiblich schließender Vierheber, ein zweiter männlich schließender Vierheber – und ein weiblich schließender Fünfheber!

Schaut man nach diesen Beispielen noch einmal auf Kästners gestern vorgestellten Text …

 

Den Sternturm musst ein Jüngling oft besteigen,
Sein Lehrer wollt ihm da die Venus zeigen,
Und das bei hellem Sonnenschein.
Als beide manchen Weg sich nun umsonst gemacht,
Fand, ohne Lehrer, ganz allein,
Der Jüngling sie bei Nacht.

 

… wird auch dort dieses Muster sichtbar. Also vielleicht gar kein so „madrigalischer“ Text; aber weil er keine zweite Strophe hat, kann man nur aus ihm selbst heraus nichts anderes erkennen.

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Erzählformen: Das Madrigal (29)

J. Minckwitz stellt die Jugend Abraham Gotthelf Kästners so dar:

Sein Vater, Professor an der Leipziger Universität und Doktor der Rechte, beschleunigte die frühe Ausbildung der trefflichen Anlagen des Knaben dergestalt, dass derselbe, nachdem er schon im zehnten Jahre den väterlichen Vorlesungen beigewohnt, 1731 als zwölfjähriger Student der Rechtswissenschaft aufgenommen werden konnte. Neben juristischen Vorträgen aber hörte er nicht allein philosophische, mathematische und historische, sondern lernte auch unter Anleitung seines Oheims Rudolph Pommer, jenes berühmten Rechtsgelehrten, eine Reihe von Sprachen, Französisch, Englisch, Italienisch, Spanisch, Schwedisch und Holländisch. Vierzehnjährig wurde er Notar, siebzehnjährig Baccalaureus, achtzehnjährig Magister der sieben freien Künste und zwanzigjährig Dozent in der Philosophie und Mathematik an der Universität.

Das klingt einigermaßen beeindruckend und nach einem wirklichen Wunderkind! Es kommt aber auch immer darauf an, wen man fragt – M. Cantor und J. Minor merken zum Beispiel an, Kästner habe neben den von Minckwitz genannten „Vorträgen“ auch noch „Botanik, Chemie, Feldmessen, Anatomie und gerichtliche Medizin zu verschiedenen Zeiten gehört“; und vielleicht noch spannender, in Bezug auf Kästners Sprachkenntnisse:

Der Vater starb 1747 ohne Vermögen zu hinterlassen, und Kästner fiel die Sorge für die kränkliche Mutter zu, zunächst in Gemeinschaft mit dem Oheim, dann, als auch dieser 1750 starb, allein. Da galt es Geld zu erwerben und Kästner bediente sich dazu seiner Kenntnisse in den modernen Sprachen, welche zu jener Zeit, weil seltener, noch lohnbringend waren. Er fertigte Übersetzungsarbeiten der verschiedensten Art; bald war es Montesquieu’s eben erscheinender „Esprit des lois“, bald waren es die englischen Zeitromane „Grandison“ und „Pamela“, welche er für deutsche Leser bearbeitete, bald die schwedisch geschriebenen Abhandlungen der Stockholmer Akademie, Lulof’s physikalische Erdbeschreibung aus dem Holländischen, bald wieder Hellot, „Art de la teinture des laines“ etc. und Robert Smith, „Complete system of opticks“. Am interessantesten waren für Kästner in dieser Beziehung unzweifelhaft die schwedischen Abhandlungen, an deren Übersetzung er sich 1748 „mit einer mittelmäßigen Grammatik und einem noch weniger als mittelmäßigen Wörterbuche“ machte, ohne eine Ahnung von der Sprache zu besitzen, welche er erst während der Arbeit selbst kennenlernte.

Wieder zumindest bemerkenswert; zu dieser Zeit war Kästner übrigens schon Professor … Später wurde er (unter anderem) der Leiter der Göttinger Sternwarte, und als solchem lag ihm seine kurze „Erzählung“ sicherlich nicht fern:

 

Den Sternturm musst ein Jüngling oft besteigen,
Sein Lehrer wollt ihm da die Venus zeigen,
Und das bei hellem Sonnenschein.
Als beide manchen Weg sich nun umsonst gemacht,
Fand, ohne Lehrer, ganz allein,
Der Jüngling sie bei Nacht.

 

Das ist wesentlich eher ein Epigramm als eine wirkliche Erzählung; so wie Kästner ein guter Epigrammatiker war, aber in längeren Gedichten seine Leser durch zu große Einförmigkeit eher ermüdete …

Trotzdem, ein schönes, kleines Stück, auch im madrigalischen Wechsel der Verslängen und der Reime; wobei die Reimanordnung uns heute fremder vorkommen mag als Kästner und seinen Zeitgenossen. Aber davon ein andermal!