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Erzählformen: Das Distichon (82)

Österreichs Zentrum ist Wien, Wiens Zentrum ist mein Bureau hier,
Dessen Zentrum bin ich, meines die Akten vor mir.

 

Anastasius Grün (eigentlich Anton Alexander Graf von Auersperg) war Politiker und Lyriker gleichermaßen; sein Distichon handelt aber nicht von ihm selbst, sondern stammt aus einem Epigramm auf (Thaddäus Peithner von?!) „Lichtenfels“.

Die metrische Form:

Österreichs / Zentrum ist / Wien, || Wiens / Zentrum / ist mein Bu- / reau hier,
Dessen / Zentrum bin / ich, || meines die / Akten vor / mir.

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Nun haben sich die deutschen Verskünstler viele Gedanken gemacht, wie sich denn ein antiker Spondäus, also ein Versfuß aus zwei langen Silben, im Deutschen nachbilden ließe; und sind zu den unterschiedlichsten Antworten gekommen. Grün gibt hier eine davon im Gedicht selbst: „Wien, Wiens“, mit zwei vollkommen gleichwertigen schweren Silben, muss einfach ein vollwertiger Spondäus sein! Dass die Zäsur die beiden Silben darüber hinaus auf Abstand hält, so dass keine der anderen in die Quere kommt, passt gleichfalls wunderbar. Nicht ganz so toll ist der Gleichklang am Versende, aber ein beabsichtiger Reim ist es eher nicht …

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Erzählformen: Das Reimpaar (32)

Im gestrigen Eintrag hat sich das Reimpaar mit einem Kehrreim verbunden, der als weiblich schließender iambischer Dreiheber daherkam. Das ist eine naheliegende und gute, aber keinesfalls die einige Wahl! Martin Greif nutzt in „Ganz so wie du“ zum Beispiel einen männlich schließenden iambischen Zweiheber als Kehrreim:

 

Ich kannt‘ ein Kind von holder Art,
Wie eine Frühlingsblume zart,
Ganz so wie du.

Was nur der Seele Blick gewahrt,
Sie hatte mir’s geoffenbart,
Ganz so wie du.

Zu leuchten meiner Lebensfahrt
Schien sie vom Glück mir aufgespart,
Ganz so wie du.

 

Kein großes Gedicht, aber immerhin eines con beachtlicher Geschlossenheit dank der gleichgereimten drei Reimpaare; und der gegenüber den Reimpaaren kürzere Kehrreim schließt  dreimal nachdrücklich, ohne dabei die Reimpaare zu übertönen. Eine runde Form!

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Erzählformen: Das Reimpaar (31)

Wie ergänzt man ein Reimpaar, und erhält im entstehenden Versgebilde doch den Eindruck und die Wirkung dieses Reimpaars?! Die einfachste Antwort auf diese Frage lautet: Mit einem Kehrreim! Ein klassisches Beispiel ist Adelbert von Chamissos „Tragische Geschichte“:

 

’s war Einer, dem’s zu Herzen ging,
Dass ihm der Zopf so hinten hing,
Er wollt‘ es anders haben.

So denkt er denn: wie fang ich’s an?
Ich dreh‘ mich um, so ist’s getan –
Der Zopf, der hängt ihm hinten.

Da hat er flink sich umgedreht,
Und wie es stund, es annoch steht –
Der Zopf, der hängt ihm hinten.

Da dreht er schnell sich anders rum,
’s wird aber noch nicht besser drum –
Der Zopf, der hängt ihm hinten.

Er dreht sich links, er dreht sich rechts,
Es tut nichts Gut’s, es tut nichts Schlecht’s –
Der Zopf, der hängt ihm hinten.

Und seht, er dreht sich immer noch,
Und denkt: es hilft am Ende doch –
Der Zopf, der hängt ihm hinten.

Er dreht sich wie ein Kreisel fort,
Es hilft zu nichts, in einem Wort –
Der Zopf, der hängt ihm hinten.

 

Man kann den dritten Vers auch ganz ungereimt lassen, dann ist es eine feine, kleine Strophe, die für vieles nutzbar ist; aber wie Chamissos Gedicht zeigt, kommt der Kehhreim zu ganz eigenen Wirkungen, er schafft Geschlossenheit und stegert dabei doch den Inhalt immer weiter, und das unabhängig davon, ob es sich wie hier um ein humoristisches Gedicht handelt oder ein erzählendes oder ein lyrisches.

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Erzählformen: Das Distichon (81)

Hier gibt es viele Zettel, viele herausgeschriebene Verse und Verspaare; manchmal ist gar nicht mehr klar, aus welchem Grund … Im folgenden Fall aber doch:

 

Klage geziemt nicht dem Starken; im Kampf mit dem eisernen Schicksal
Siegt nur die rüstige Tat; Worte sind Beute des Sturms.

 

So und so und so – wenn reines, unverfälschtes Behaupten überhaupt Aussicht auf Erfolg hat; dann vielleicht auf die karge, trockene, unmittelbare Art, die Friedrich von Matthisson in seinem Distichon vorführt?!

Die metrische Form:

Klage ge- / ziemt nicht dem / Starken; || im / Kampf mit dem / eisernen / Schicksal
Siegt nur die / rüstige / Tat; || Worte sind / Beute des / Sturms.

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Die harten Behauptungen, die durch schroffe Pausen abgesetzt werden, verwirklichen sich über dem „schnellen“ Grundmetrum des Distichons, was meint: Kein einziger dreisilbiger Fuß ist durch einen zweisilbigen ersetzt worden! Matthisson konnte aber selbstverständlich auch anders:

 

Nichts auf der Erde kann feiner, ätherischer, lieblicher duften,
Blüte des Weinstocks, als du, die noch kein Dichter besang.

 

– Ein einziger, wohlgeformter, durch das gesamte Distichon schwingender Satz.

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Der Waldmärchengeist

Um noch einmal auf das „dunkle Rauschen der Sehnsucht“ zurückzukommen, mit dem das im gestrigen Eintrag vorgestellte Gedicht schloss: „Dunkel“ ist ein „Rauschen“ häufiger. Man kann diesen Eindruck im Bedarfsfall auch steigern, wie es zum Beispiel in Peter Hilles „Waldesstimme“ geschieht – wieder im Schlussvers:

 

Wie deine grüngoldnen Augen funkeln,
Wald, du moosiger Träumer!
Wie deine Gedanken dunkeln,
Saftseufzender Tagesversäumer!
Über der Wipfel Hin- und Wiederschweben
Wie’s Atem holt und stärker wird und näher braust
Und weiter wächst und stiller wird und saust.
– Über der Wipfel Hin- und Wiederschweben
Hoch oben steht ein ernster Ton,
Dem lauschen tausend Jahre schon
Und werden tausend Jahre lauschen.
Und immer dieses starke, donnerdunkle Rauschen.

 

Verse von eigener Art. Karl Henckell hat über Peter Hille  einmal geschrieben, er sei „im Grunde seines Wesens ein tiefer Waldmärchengeist und ins Moderne verschlagener Merlin, ein unendlich feinspüriger, dichter-, kinder- und vogelsprachekundiger Mensch, der das an die Dinge ganz nah heranzitternde Wort, leider oft bis zur verschwimmenden Unklarheit, über alles liebte und eher Hunger und Frost litt als seiner Seele besonderen Ausdruck plattschlug.“

Auch das ein eigener Ton … Weit von der Wahrheit muss das so Gesagte aber nicht liegen, seine Glaubwürdigkeit belegt ein Ausdruck wie „saftseufzender Tagesversäumer“. Und, selbstverständlich: ein Beiwort wie „donnerdunkel“, das eigenartigerweise neben einem halben Leerwort wie „stark“ steht.

 

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Erzählverse: Der Blankvers (98)

Blankverse werden eher selten für kurze oder gar epigrammatische Gedichte genutzt; aber leisten können sie auch das. Ein Beispiel liefert Paul Wertheimer mit „Seelen“:

 

Du weißt, wir bleiben einsam: du und ich,
Wie Stämme, tief in Gold und Blau getaucht,
Mit freien Kronen, die der Seewind küsst …
So nah, doch ganz gesondert, ewig zwei.
Und zwischen beiden webt ein feines Licht
Und Silberduft, der in den Zweigen spielt,
Und dunkel rauscht die Sehnsucht her und hin …

 

Vielleicht ein „großes Wort“ zu viel, und vielleicht auch nicht und das Bild fängt sie alle auf; in jedem Fall aber durch die ausschließlich männlichen Versschlüsse und die ruhige Versbewegung ein Gedicht, dass trotz des gereihten Blankverses den Eindruck von Geschlossenheit vermittelt; das sich rundet?!

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Das Königreich von Sede (101)

Als Schemel nachts zum Graben geht,
Zum Graben kommt, am Graben steht:
Erwarten ihn drei Frösche.

Als Schemel seine Laute stimmt,
Mit Sorgfalt stimmt und Zeit sich nimmt:
Gedulden sich drei Frösche.

Als Schemel singt, das alte Lied
Vom Tag, da König Boden schied:
Erkennen ihn die Frösche.

Als Schemel heim zum Schlosse geht,
Das still und nachtgeborgen steht:
Begleiten ihn drei Frösche.

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Hagedorns Wunsch

Epigramme sagen selten etwas völlig neues; meistens sind es nur neue Fassungen längst bekannter Einsichten, und hat man eines gelesen, kommen einem sofort ähnliche Texte in den Sinn. Das ist nichts schlechtes!

Zum Gegenstand des Übungsdistichons aus dem vorgestrigen Eintrag etwa fiel mir ein Verspaar Friedrich von Hagedorns ein – kein Distichon, sondern ein den damaligen Sitten entsprechendes Alexandriner-Couplet (Siehe dazu auch: Das Alexandriner-Couplet)!

 

Wunsch

Langweiliger Besuch macht Zeit und Zimmer enger;
O Himmel, schütze mich vor jedem Müßiggänger!

 

Das ist, einmal, farbiger und bildreicher als die sehr blasse Aussage des Distichons Heinrich Viehoffs; es ist aber auch, andererseits, ein wenig aufgeblasen, denn eigentlich ist doch im ersten Vers schon alles gesagt?! Der zweite muss sein, weil die Form ihn verlangt, aber er fügt dem Inhalt kaum noch etwas hinzu. Abgesehen davon natürlich, dass er das „Rätsel des Reims“ auflöst – wie löst der Verfasser das Gleichklang-Versprechen ein, das er mit „enger“ gegeben hat? Aha! „Müßiggänger“, und das ist dann eben doch ein schöner, milde überraschender und sehr gut passender Begriff …