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Prosa. Poesie. Rhythmus.

Ich lese dieser Tage wieder viel in Schulbüchern, heute: in Karl Wilhelm Ludwig Heyses „Kurzgefasste Verslehre der deutschen Sprache, zum Schul- und Hausgebrauch“ (erschienen 1825).

Heyse fängt in deutscher Gründlichkeit bei den Anfängen an und arbeitet sich dann vor; unter dem schon für sich & und in seiner Nachdrücklichkeit anziehenden Titel dieses Eintrags – „Prosa. Poesie. Rhythmus.“ – liest man:

Die Sprache des Bedürfnisses und der Wissenschaften nennen wir Prosa. In ihr tritt die materielle Seite der Sprache mehr in den Hintergrund, und der Gedanke überwiegt. Sie hat die Mitteilung von Zwecken und Interessen des gemeinen Lebens oder die Darlegung bestimmter Erkenntnisse zu ihrem Gegenstand und muss, um ihren Zweck der Mitteilung oder Belehrung desto sicherer und vollkommener zu erreichen, vor allem nach möglichster Richtigkeit und Deutlichkeit in Ausdruck, Anordnung und Verbindung der Worte nach den Gesetzen des Denkens streben.

Die Poesie hingegen hat, wie jede Kunst, die Schönheit zum Hauptgesetz. Schönheit aber wird nur erreicht durch Harmonie des Inhalts mit der Form. Die Form muss daher auch schön, das heißt kunstmäßig geregelt sein, um der Idee, deren Ausdruck sie dient, angemessen zu sein. Diese kunstmäßige Gestaltung der Sprache, als der Form für die poetische Idee, wird am vollständigsten bewirkt durch das, was die Griechen Rhythmus, die Römer Numerus nennen (ein ganz entsprechendes deutsches Wort fehlt uns). Das Wesen des Rhythmus aber besteht in einem ebenmäßigen (symmetrischen) Verhältnis der Sprachelemente nach ihrem extensiven und intensiven Wert, das ist nach ihrer quantitativen Ausdehnung in der Zeit und dem qualitativen Grad ihres Tones, wodurch die Sprache nach ihrer körperlichen Seite geregelt und ihr Wohllaut erhöht wird.

Uff. Da wird kein Schulbuch geschrieben – da werden die innersten Gesetze der Welt verkündet … So klingt es jedenfalls; in Wirklichkeit ist das ein an manchen Stellen wackliges Gebäude. Und trotzdem eines, das in Augenschein zu nehmen lohnt, denn irgendeine Bestimmung dieser Begriffe muss sein, sonst könnte man auch gleich auf sie verzichten! Und bedenkenswert sind Heyses Ansichten allemal.

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Erzählformen: Das Distichon (80)

Heinrich Viehoff veröffentlichte 1860 seine „Vorschule der Dichtkunst. Theoretisch-praktische Anleitung zum deutschen Vers- und Stophenbau, mit vielen Aufgaben und beigegebenen Lösungen“. Wobei der „praktische Anteil“, also die Aufgaben und Lösungen, einen sehr ernstgemeinten und umfangreichen Teil des Buches bildet – alleine für das epigrammtisch verwendete Distichon sind 67 Übungen aufgeführt! Ein Beispiel, erst die Aufgabe, dann die Lösung:

 

23. Die schlimmsten Diebe

Ihr verschließt euer Haus vor jeder Art von Dieben, nur nicht vor den schlimmsten, die euch um die Zeit bestehlen.

23. Die schlimmsten Diebe

Sorglich verschließt ihr das Haus jedweder Gattung von Dieben,
Nur nicht der schlimmsten Art, die um die Zeit euch bestiehlt.

 

Wobei diese „Lösung“ keineswegs als eine bestmögliche zu verstehen ist! Viehoff, ganz Pädagoge, schreibt dazu im Vorwort in Bezug auf die Frage, warum denn nicht Beispiele „unserer ersten Dichter“ gewählt wurden:

Wenn es auf praktische Übungen ankommt, so ist es nicht pädagogisch, nicht methodisch, den Anfänger in einer Kunst auf Schritt und Tritt durch die Höhe des vorgehaltenen Ideals zu demütigen und zu entmutigen. Nur das Ziel, das uns erreichbar dünkt, lockt uns vorwärts, und um so stärker, je näher es winkt, wär’s auch mitunter nur optische Täuschung. Die angehängten Lösungen sollen dem Lehrling zeigen, was vorläufig, auf der Stufe, wo er eben steht, von ihm erwartet und verlangt wird. Größtenteils aus meinen Übungen, unter Bei- und Nachhilfe des Lehrers hervorgegangen, tragen sie mehr als Gedichte, die man unseren Klassikern entnommen hätte, die Bürgschaft in sich, dass die Aufgaben nicht zu hoch gegriffen sind, nichts auf dem jedesmaligen Standpunkt des Lehrlings Unlösliches verlangen.

Und das ist, auch jenseits der Schule und des 19. Jahrhunderts, eine sehr vernünftige Ansicht, der man sich, schreibt man sich heute in die Distichen ein, nicht verschließen sollte: der Weg ist lang, man gehe einen Schritt nach dem anderen.

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Erzählverse: Der Hexameter (159)

Ich habe mir heute, zum ersten Mal seit Jahren, ein Buch gekauft; für einen Euro gab es aus den Magazinbeständen einer Stadtbibliothek „Sämtliche poetische Werke“ von Johann Peter Uz zu erwerben, einen Nachdruck der entsprechenden Ausgabe von 1890. Schon erstaunlich, was die früheren Leser dieser Stadtbibliothek so alles angeboten bekommen haben …

Im Band selbst findet sich neben den Gedichten von Uz (der, auch wenn er heute vergessen ist, ein guter Dichter war!) viel anderes Wissenswertes, so der Hinweis auf ein Ode von Johann Jacob Bodmer, der gegen die anakreontischen Anwandlungen Uz‘ anschreibt, hier: gegen das Weintrinken das Wassertrinken als überlegen beschreibt.

 

Sieh mich an, ich trinke die Flut des sprudelnden Baches,
Was ich für fröhliche Stunden da trinke!
Süße, nicht brausende Lust, und der ich mir selber bewusst bin,
Die mir nicht unterm Genusse verschwindet.

 

Inhaltlich sage ich da nichts zu … Die Verse sind nicht schlecht gemacht, sowohl die Hexameter als auch die ihnen beigesellten daktylischen Vierheber (eine andere Art von „Zweivers“ als das elegische Distichon aus Hexa- und Pentameter). Was auch meint: Wenn man sie laut liest, haben sie Schwung und eine klar geformte Bewegungslinie!

Eigentlich verträgt sich der Hexameter mit so gut wie allen „Zweitversen“ … Einfach selbst versuchen und ein eigenes so gestaltetes Verspaar ins Leben rufen – es lohnt sich!

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Erzählverse: Das Distichon (79)

Friedrich Gundolf hat in Bezug auf Goethes „Römische Elegien“ und „Venetianische Epigramme“ einmal das hier zur „verschiedenen Behandlung des Distichons in den Elegien und in den Epigrammen“ geschrieben:

Hexameter und Pentameter bilden bei den Elegien eine ineinandergreifende Einheit, mit mehreren EInheiten ihresgleichen zu einem Ganzen verknüpft. Der Pentameter führt weiter, unterstreich, betont oder verdeutlich, was im Hexameter angelegt ist, er läuft in derselben gedanklichen Richtung weiter, in derselben Welle, und wie Pentameter auf Hexameter, so folgt Distichon auf Distichon. In den Epigrammen ist dagegen entweder der Hexameter dem Pentameter antithetisch gegenübergestellt, wie den zweizeiligen, oder eine Gruppe von Distichen einer anderen, wie bei den mehrzeiligen, oder der pointierte Schlussvers dem ganzen Gedicht.

Soweit verständlich und eigentlich nicht nur bei Goethe anzutreffen, sondern allgemein. Gundolf weiter:

Diese Gegenüberstellung beruht entweder auf einer einfachen Antithese zweier Anschauungen oder Begriffe oder auf der Antithese einer Lehre und einer Anschauung, einer Nutzanwendung und einer Erfahrung; oder eine Pointe wird herausgearbeitet in Gestalt einer Überraschung, welche durch Frage oder Erwartung vorbereitet wird. Allen drei Typen der Gegenüberstellung gemeinsam ist die Spannung zwischen der Vorstellung und dem Begriff, denn selbst wo zwei Vorstellungen oder Namen konfrontiert werden, kommt es auf die Spannung zwischen Geschehenem und Gedachtem, Erfahrung und Lehre an: Dies ist Goethes Tribut an die Gattung Epigramm.

Und dann, Goethes Vorgehen noch einmal knapp und klar zusammenfassend:

Aber Goethe gewinnt im Gegensatz zu anderen Epigrammatikern diese Spannung nicht durch Zusammenzwängen zweier heterogener Dinge, sondern durch Spaltung und Entfaltung eines Zusammengehörigen in verschiedene seiner Elemente.

Darüber lässt sich nachdenken, am besten über die Venetianischen Epigramme gebeugt!  Über deren Inhalt Gundolf in Bezug auf Goethe noch einen überraschenden Satz zu sagen weiß:

Nicht sein Ich, sondern sein Selbst wird ausgesprochen.

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Die Klage um das, was verloren ist

… ist keine Erfindung der heutigen Zeit.

 

Sie schirren tote Rosse auf
Aus wildem Elementsgespann,
Ihr Leib ist Erz und Dampf der Schnauf,
Und Feu’r der Sporn und Sturm der Lauf;
Das Leben hängt als Schweif sich an
Mit Ketten, Riegeln und Verschluss,
Dass es dem Tode folgen muss.

 

So Christian Friedrich Scherenberg, der von 1798 bis 1881 lebte, in seinem Gedicht „Eisenbahn und immer Eisenbahn“, einer längeren Klage. Schon eher in Richtung Schluss finden sich diese vier Verse:

 

Die Stunde pfeift, in Massen schiebt man sich hinein,
Die Stunde pfeift, in Massen schiebt man sich hinaus,
Humor, der alte Reis’kumpan, steigt nicht mehr ein
Und nicht als Lieb‘ und Freundschaft wieder aus.

 

Nett; Vergleichsgröße ist die althergebrachte Reise mit der Postkutsche. Das Gedicht schließt so:

 

Um ihre Ferne kamen Stadt und Lande,
Um ihre stille Hoheit Wüste, Meer,
Die ganze Erde unterm Eisenbande
Um die Unendlichkeit von grauen Tagen her.
Zusammen eng geschmiedet wird der Raum,
gebrochen seine Rechte an die Zeit;
Die Wirklichkeit, sie wird zum Traum,
Und unser Traum stirbt an der Wirklichkeit.

 

Auch das: Eindrücklich. Den Schluss bildet ein Verspaar, wie es ähnlich schon einige Male im Text vorkam:

 

O Eisenbahn, was bist du kommen,
Hast unsre Erde uns genommen!

 

Als es 1835 losging mit der Eisenbahnerei in Deutschland, war das „Schienennetz“ sechs Kilometer lang; in Scherenbergs Todesjahr waren es über 35000 Kilometer Schienen. „O Eisenbahn, …!“

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Erzählverse: Der trochäische Vierheber (65)

„Ewald Christian von Kleists sämtliche Werke, nebst des Dichters Leben aus seinen Briefen an Gleim“ heißt ein 1803 von Wilhelm Körte herausgegebener Band, der gleichsam im Vorübergehen auch manch eigenartige Geschichte aus dem Leben des Berufssoldaten Kleist erzählt, darunter diese:

Sein Umgang war auf seine Kameraden eingeschränkt, denen aber meist seine Bildung, so wie ihm ihre Rohheit, sehr lästig fiel. Es konnte dabei an tausend Streitigkeiten und Neckereien nicht fehlen. So hatte Kleist 1743 mit einem anderen Offizier, wegen ungünstiger Äußerungen über einige Potsdamer Damen, einen Zweikampf, in welchem er schwer am Arme verwundet wurde. Im Hause des Obristen von Schulze, dessen Tochter Gleim unterrichtete, wurde von dem jungen verwundeten Offizier mit ganz besonderer Teilnahme gesprochen. Gleim suchte sogleich den Helden auf und fand ihn äußerst entkräftet auf dem Bette, vor welchem Caesars „De Bello Gallico“ aufgeschlagen lag. Der Kranke führte bittre Klage darüber, dass er nicht lesen dürfe, und nahm das Anerbieten Gleims, ihm vorzulesen, auf das freundlichste an. Zufällig las dieser ihm einst sein scherzhaftes Gedicht „An den Tod“ vor:

Tod, kannst du dich auch verlieben?
Warum holst du denn mein Mädchen?
Hole lieber ihre Mutter!
Ihre Mutter sieht dir ähnlich.
Frische rosenrote Wangen,
Schöngefärbt von meinem Kusse,
Blühen nicht für blasse Knochen!
Tod, was willst du mit dem Mädchen?
Mit den Zähnen ohne Lippen
Kannst du es ja doch nicht küssen!

Der Schluss des kleinen Lieds überraschte den Kranken, in der Laune, worin er gerade war, bis zum lauten Lachen, dessen Erschütterung die Wunde aufriss und ein heftiges Erbluten veranlasste. Der eilig herbeigeholte Wundarzt versicherte: Das gewaltsame Erbluten der Wunde sei für das Genesen des Kranken äußerst wohltätig und erspare ihm viel Schmerzen. Die Wunde heilte wirklich sehr schnell nach diesem Vorfall. „Der Dichtkunst und Ihnen“, sagte der Genesene dankbar seinem Gleim, „verdank‘ ich also meine Genesung!“

Dichter leben ihr Leben wie alle anderen Menschen auch; an manchen Stellen ist ein solches Leben dann aber auf eine Weise einzigartig, wie es eben nur ein Dichterleben sein kann … Johann Wilhelm Ludwig Gleims Verse treten über die Geschichte ein wenig in den Hintergrund; es sind aber doch gut gemachte, wirkungsstarke trochäische Vierheber, denen man, laut vorgelesen, einen Eindruck auf die Zuhörerschaft durchaus zutrauen darf!

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Stoff für Geschichten

Ein Märzwind, mies gelaunt und schroff,
Sieht vor sich etwas bunten Stoff
Und geht, ihn durchzuschütteln,
Und kommt von allen Seiten her,
Ihn kräftig durchzurütteln,

Und reißt und zerrt ihn längs und quer
– Und findet kein Vergnügen mehr
An solchem Tun, und loszulassen
Beschließt er, um am Anderort
Ein Anderding zu hassen;

Hat’s kaum gedacht und ist schon fort
Und hört nicht mehr das Dankeswort
Der just gehissten Fahne
War’s Schütt-, war’s Rütteln einer Hoff-
Nung Eintritt, nicht Schikane!

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Erzählformen: Das Distichon (78)

Das Distichon ist, seinen allerersten Vertretern vor über 2500 Jahren nach, eine Auf- oder Inschrift. Später hat es sich dann von den Gegenständen gelöst und ist ganz in die Bücher gewandert, „literarisch“ geworden; und findet nur gelegentlich zu seiner ursprünglichen Bestimmung zurück.

In Johann Heinrich Kaufmanns Gedichtsammlung findet sich ein „Fliegendes Blatt. Angebunden am Nachtigallenbrünnchen, auf Herrn Baron von Recums Landgut“, dessen erstes (und eigentlich einziges halbwegs reines) Distichon so lautet:

 

Fördert auch hier mit geschäftiger Hand ein sinnender Genius?
Fügt er zum Wunderbar-Herrlichen geistigen Sinn?

 

„Gen-jus“, offenbar. Auch die Überbrückung der Pentameter-Zäsur fällt ins Auge?! Doch vor allem: Ist etwas „Angebundenes“ wirklich eine „Aufschrift“, etwas untrennbar zum Gegenstand gehörendes?! Aber gut, das habe ich ins Spiel gebracht, nicht Kaufmann. Trotzdem – alles, was an diesen „eigentlichen“ Zweck des Distichons erinnert, in welcher Form auch immer: hat seinen ganz eigenen Reiz.