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Erzählverse: Der Blankvers (97)

Gewöhnung ist tödlich. 150 Jahre, nachdem der Blankvers den Alexandriner, dessen die Menschen überdrüssig gewesen waren, als Dramenvers abgelöst hatte, begannen die Menschen, auch seiner überdrüssig zu werden. Gegen diesen Überdruss wandte sich um 1900 Conrad Beyer in seiner „Deutschen Poetik“:

Einzuräumen ist wohl, dass es ermüdend wirkt, immer denselben Vers zu hören. Aber dies sollte eben zur freieren Behandlung dieses Verses auffordern, nicht zur Beseitigung desselben! Man sollte zur Vermeidung der Einförmigkeit mit den Zäsuren wechseln; man sollte sich ferner nicht scheuen, iambische Spondeen einzuflechten; man sollte kein Bedenken tragen, zuweilen den Quinar (= den Blankvers – F.)   um einen oder mehrere Füße zu verkürzen, sofern der Satz schließt und die rhythmischen Pausen den Restteil zu füllen vermögen; man sollte namentlich die zur Beschaffung der üblichen fünf Furchen selbst von besseren Dichtern angewandten Flickwörter möglichst vermeiden, ja, hie und da mit dem Rhythmus wechseln, um auf diese Weise der bedenklich stumpf gewordenen fünffüßigen Pflugschar neue Schärfe zu verleihen. Es gibt nichts widerwärtigeres als einerlei Musik; sie wird zum Geleier. Der iambische Grundcharakter muss selbstredend bei jedem Verse vorhanden bleiben, wenn dieser nicht der künstlerischen Basis entbehren soll. Allein auf diesem Boden kann doch manche Abweichung von der Schablone gepflanzt werden.

Und so ist das auch heute noch – der Blankvers lebt! Wenn man ihn richtig angeht, was meint: wenn man für Abwechslung sorgt, zum Beispiel auch durch das Einfügen eines „gut wirkenden“ (Beyer) Anapästs.

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Bild & Wort (225)

„Selbstatari“: Ein Zug, der dazu führt, dass die eigenen Steine geschlagen werden können. Also eher nichts geistreiches …

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Erzählverse: Der iambische Dreiheber (7)

Gebrauchs-, Anlass- und Gelegenheitsgedichte sind heutzutage ein arg unterschätze Gattung. Elisa von der Recke schrieb 1782 angesichts eines Sturms, der viele Bäume umgestürzt hatte, diese Verse (ein Ausschnitt):

 

Da wird ein Schiff zerschmettert,
Dort reißt des Landmanns Hütte
Der wilde Sturmwind nieder,
Und ach! – in meinem Wäldchen,
In dem die Nachtigallen
So liebetönend flöten,
Wo blaue Veilchen duften,
Wo Birk‘ und Espe säuseln,
Und wo mit teuren Freunden
Ich oft so froh gewesen,
In diesem schönen Wäldchen
Hat auch der Sturm gewütet,
Gestürzt die hohen Stämme,
Die meinen Kinderjahren
So milden Schatten liehen.
Schont doch, o schont! ihr Stürme,
Den kleinen Rest der Bäume,
Die schon als Kind ich liebte
Und deren sanftes Rauschen
Mir manchen Gram verscheuchte.
Macht euch an große Wälder,
Dort wütet nach Gefallen!

 

– Und wem wollten bei aller Schlichheit der Darstellung und Formelhaftigkeit der Bausteine diese Zeilen nicht gefallen? Erst recht, wenn dem Leser selbst schon einige derartige Bäume umgerissen worden sind …

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Erzählformen: Das Distichon (77)

Nah an des Tags und der Nacht lichtbringender Gleiche des Frühlings
Riss dich der neidische Tod jäh in das nächtliche Grab.

 

Karl Geisheim findet einen Weg, ganz zu Beginn seiner „Elegie zum Andenken des Professors Dr. Kephalides“, nicht „am 10. März (1820)“ sagen zu müssen; was in einem Hexameter auch sehr fremd und leblos gewirkt hätte. Im letzten Distichon der Elegie, um einiges später, hat sich dann die Bildlichkeit gewandelt und ist in antiken Gefilden angelangt, angeregt, wie zu vermuten ist, durch den Namen des Verstorbenen:

 

Reif für das ewige Licht schon dünkte der Eos dein Leben,
Und, – wie den Kephalos einst, – raubte dich liebend ihr Kuss.

 

Wogegen nichts spricht, nur, hm: In dieser Form und Zeichensetzung scheint mir der Pentameter vom Satzbau her „geschummelt“ zu sein?! Nun soll man ja nicht an den Versen anderer herumdoktern, aber so etwas wie …

Und dich raubte – wie einst Kephalos – liebend ihr Kuss.

… leuchtete mir eher ein. Oder kann man da durch das fehlende „den“ „Kephalos“ als Subjekt missverstehen? Und der erste Fuß ist schwach … Ach, es ist gut so, wie es ist!

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Die Zeilenfüße in der dichten Rede

So heißt eine Auflistung in der „Wortlehre der deutschen Sprache, wissenschaftlich begründet von Dr. Wilhelm Harnisch“, die ein gutes Beispiel dafür ist, wohin es führt, wenn jemand unbedingt seine ganz eigenen Begriffe benutzen möchte. Weiter geht es so:

Die Füße der Zeilen sind folgende:

A) Einspellige

1) Voss (—)

B) Zweispellige

2) Klopstock (— —)
3) Vonkleist (◡ —)
4) Schiller (— ◡)

C) Dreispellige

5) Ossian (— ◡ ◡)
6) Derhomer (◡ ◡ —)
7) Sonnenberg (— ◡ —)
8) Vonhaller (◡ — ◡)
9) Blumauer (— — ◡)
10) Vonkleist-Voss (◡ — —)
11) Klopstock-Voss (— — —)

D) Vierspellige

12) Klopstock-Klopstock (— — — —)
13) Schiller-Vonkleist (Ossian-Voss, Voss-Derhomer ) (— ◡ ◡ —)
14) Vonkleist-Schiller (◡ — — ◡)
15) Vonkleist-Vonkleist (◡ — ◡ —)
16) Schiller-Schiller (— ◡ — ◡)
17) Voss-Ossian (— — ◡ ◡)
18) Derhomer-Voss (◡ ◡ — —)
19) Vonkleist-Klopstock (◡ — — —)
20) Schiller-Klopstock (— ◡ — —)
21) Klopstock-Vonkleist (Voss-Sonnenberg) ( — — ◡ —)
22) Klopstock-Schiller (Voss-Blumauer) (— — — ◡)
23) Eilenderer (— ◡ ◡ ◡)
24) Ertönender ( ◡ — ◡ ◡)
25) Der Besinger (◡ ◡ — ◡ )

Also: „-spellig“ meint „-silbig“, ein „Zeilenfuß“ ist das, was gemeinhin „Versfuß“ heißt (und ein „Gedankenfuß“ meint den handelsüblichen „Wortfuß“), die „dichte Rede“ ist die „gebundene“. Der Gedanke, die einzelnen Füße durch die Namen von Dichtern darzustellen, ist allerliebst, auch wenn manche davon längst vergessen sind (beziehungsweise – Ossian – reine Erfindung waren). Wenn diese Bezeichnungen dann allerdings in den Fließtext finden, liest sich das ganze … gewöhnungsbedürftig. Ein schlichter „iambischer Vers“ wird da zu einer „Vonkleist-Zeile“:

Statt eines Vonkleistfußes kann in den Vonkleistzeilen auch ein Klopstock stehen. Freilich nicht jeder Klopstock ist recht passend. Der Klopstock „lobsing“ ist hier sehr gut, weil der Nachdruck auf „-sing“ liegt. Der Klopstock „hellgrün“ würde hier schlecht sein, weil der Druck auf „hell-“ liegt, und „hellgrün“ daher mehr zu — ◡  als zu ◡ — neigt. Manche wollen die Klopstockfüße in den Vonkleistzeilen nur in den ungeraden Füßen (1, 3, 5, …) dulden, das ist aber wohl eine zu große Einschränkung, die auch keinen wesentlichen Grund hat.

Herrlich schräg! Ich zweifle zwar, dass das bei Lesern, die ohnehin erst anfangen, sich über metrische Fragen Gedanken zu machen, zur Klarheit beiträgt – aber wo sonst hört man mit den Worten …

Hieraus ergibt sich auch, dass die Schillerfüße, als verwandt mit den hier vorkommenden Klopstockfüßen, in den Sechsmaßen werden vorkommen können.

… die ewig junge Frage entschieden werden, ob Trochäen im Hexameter zulässig sind?!

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Erzählverse: Der trochäische Vierheber (64)

Theobald Wilhelm Broxtermann hat sein „Röschen“ mit „Eine Romanze“ untertitelt. Der Anfang:

 

Wohlversorgt und wohlgerüstet
Und geneigte Wind‘ erwartend
Lag ein neu gebautes Kriegsschiff
In dem Hafen. Helle Sterne
Blinkten zahllos (denn die Sonne
War noch unter dem Gewässer),
Blinkten wie zur Vorbedeutung
Über ihm; doch alle Winde
Ruhten, und die Meereswogen
Wälzten aus der duft’gen Ferne
Schläfrig murmelnd sich herüber.
Aber sieh! Die duf’ge Ferne
Tagt indes. Der heil’ge Morgen
Rötet hoch und plötzlich höher
Die zerstreuten Wölkchen, rötet
Übers weite Meer die Segel
Und die Wimpel. Günst’ge Winde
Wehten. Und die Segel schwollen
Ungeduldig, und es dehnten
Sich die langgestreiften Wimpel
Flatternd nach der Glut hinüber.
So der unverdienten Ruhe
Längst schon müde, strebet endlich
Aus des grauen Vaters Arm,
Strebt ein junger Abenteurer
Stolz hervor, der Morgenröte
Seiner Hoffnungen entgegen.

 

– Und los geht die eigentliche Geschichte. Aber diese Morgenschilderung reicht eigentlich schon, um Broxtermann eine eigene Stimme zuzugestehen und ihre Eigenheiten zumindest einigermaßen zu erfassen. Wie stehen Satz und Vers zueinander, wie hält es der Verfasser mit den Wiederholungen, wie gestaltet er die Versenden?! Das sind einige der Fragen, mit deren Hilfe sich der „Fingerabdruck“ eines Verfassers ermitteln lässt; und, selbstverständlich: Der Vortrag der Verse, der auch hier die Lebendigkeit des ungereimten trochäischen Vierhebers bezuegt.

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Erzählformen: Das Distichon (76)

Gotthard Ludwig Kosegarten hat den „hymnischen Ton“ gepflegt in seiner Hexameter-Dichtung, wie hier schon vorgestellt – Der Hexameter (22), Der Hexameter (91). Das folgende Distichon scheint erst daran anzuschließen, dann aber …

 

Dichtkunst, sei uns gegrüßt, Hochheilige, Himmelgebor’ne!
Ewig doch bleibet Barbar, wer nicht der Göttlichen lauscht.

 

Der Hexameter hat diesen ganz eigenen, hymnischen Klang; ihm folgen aber keine weiteren Hexameter, die ihn weiterführen, sondern ein Pentameter, und der ist, wie das Pentameter so oft sind, schlicht Kommentar, Einschätzung, Wertung; Ernüchterung folgt der eben erst ausgerufenen Hochstimmung. Insgesamt ein eigenartiger Gegensatz!