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Erzählverse: Der Hexameter (185)

Das Beiwort im Hexameter (III)

Das Beiwort von vorneherein „besonders“ zu bilden und klingen zu lassen, ist eine Möglichkeit, es im Hexameter wirkungsstark zu verwenden; eine zweite ist, es beweglich zu machen, meint, es von seiner in der Prosa fast ausschließlich verwendeten Stellung vor dem Hauptwort zu lösen und hinter das Hauptwort zu bringen! Hölderlin, „Der Archipelagus“:

Bis, erwacht vom ängstigen Traum, die Seele den Menschen
Aufgeht, jugendlich froh, und der Liebe segnender Odem
Wieder, wie vormals oft, bei Hellas blühenden Kindern,
Wehet in neuer Zeit und über freierer Stirne
Uns der Geist der Natur, der fernherwandelnde, wieder
Stilleweilend der Gott in goldnen Wolken erscheinet.

Einmal ein besonderes Beiwort, das dieses Auszeichnung auch verdient, und dann die Nachstellung! Dass Hölderlin hier auch im Satzbau recht anspruchsvoll ist, hat mit der Nachstellung aber nichts zu tun; die kommt auch in viel einfacher gebauten Versabschnitten vor!

Denn es ruhn die Himmlischen gern am fühlenden Herzen;
Immer, wie sonst, geleiten sie noch, die begeisternden Kräfte,
Gerne den strebenden Mann und über Bergen der Heimat
Ruht und waltet und lebt allgegenwärtig der Äther,
Dass ein liebendes Volk in des Vaters Armen gesammelt,
Menschlich freudig, wie sonst, und e i n Geist allen gemein sei.

Man kann, das nur zur Ergänzung, aber auch vorne Bei- und Hauptwort durch ein Fürwort vertreten lassen und sie dann hinten zusammen nachreichen; auch das wird ganz gerne gemacht, hier von Hölderlin wieder in einem … sprachlos machenden Satzgebäude.

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Erzählverse: Der Hexameter (184)

Das Beiwort im Hexameter (II)

Es ist schon eine eigenartige Sache mit der Wortbildung. „Oma pellt Kartoffeln“, „Peter spielt Trompete“, „Napoleon besiegt die Preußen“ – da liegt ein Satzmuster zugrunde, das jeder kennt und bei dem keiner irgendwelche Bedenken hat, es für eigene, nie zuvor verwendete Sätze nutzbar zu machen – „Der Frosch stapelt Farbpatronen“ (bestimmt hat genau den, nur um mich zu ärgern, dann doch schon wer benutzt!). Nun ist „Wortbildung“ sicher nicht das gleiche wie „Satzbildung“, aber: Im wesentlichen geht es genauso! Es gibt ein Muster, zum Beispiel: „handverlesen“, „mundgeblasen“, „naturbelassen“, „angstgetrieben“, „schweißgebadet“ – und nach diesem Muster kann sich jeder seine eigenen Worte bauen. Das Gute am Hexameter ist, dass er durch  seine rhythmischen Anforderungen an den Schreibenden diesen, solche Möglichkeiten auch in Anspruch zu nehmen; über die allgemein bekannten, in der Prosa immer wieder zu lesenden Beiwörter hinaus eigene zu suchen und zu finden. Ich schaue noch einmal bei Baggesen rein (II,171):

Wandte sich schnell zu den Holden der herzerbitterte Nordfrank,

„Nordfrank“ ist hier Eigenname; und das „herzerbittert“ ist das Beiwort, das nach dem gut bekannten, eben vorgestellten Muster gebaut ist. Es wirkt erst einmal ungewohnt, ist aber gut verständlich und erreicht den Leser gerade durch seine Frische!

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Dem Rhapsoden

Wer jammert, wenn die Stabreimkunst
Man schilt, und jauchzt, wenn man voll Gunst
Ihm lauscht? Klar: Wilhelm Jordan!

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Schachprobleme (2)

Wie es am Anfang immer geht: Es ist alles noch nichts besonderes, aber man findet freundliche Menschen, die die eigenen Interessen teilen und sich bemühen, den zu ihnen stoßenden Anfänger zu fördern. Godehard Murkisch, der die Schachspalte der „Landeszeitung“ aus Lüneburg betreute, war so freundlich, dort am 29. Juni 1985 folgende Aufgabe zu veröffentlichen:

[fen]1n5K/3R4/r1B3R1/7p/8/5N1k/6rB/4N3 w KQkq – 0 6[/fen]

Matt in zwei Zügen – Circe

„Circe“ ist eine etwas eigenartige „Märchenschach“-Bedingung: geschlagene Figuren tauchen auf dem Feld wieder auf, auf dem sie am Anfang der Partie gestanden haben! Wenig überraschend wird in der Lösung viel geschlagen:

1.Txg2 (Ta8) – die Klammer zeigt an, dass der geschlagene Turm auf a8 wieder erscheint. Nun droht 2.Tg3#; Schwarz kann zwecks Abwehr dieser Drohung den erschienenen Turm zwar für ein Abzugsschach nutzen, allein, es hilft nichts, weil die dabei geschlagenen weißen Figuren ihrerseits einen Abzug ermöglichen: 1. … Sxc6+ (Lf1) 2.Tg8#, oder 1. … Sxd7+ (Th1) 2.Lb8#.

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Dem

Dem das Welt-Sein ins Gehirn wirrt und erstarrt,
Denn zum Wort formt’s der Verstand gleich; der es denkt
Und gedichtfroh in die Nacht schreibt,
Aus der Nacht auch – ihm entgeht’s.

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Erzählformen: Das Distichon (122)

Distichen sind seit jeher die Form für Grabinschriften und Grabaufschriften; kein Wunder also, dass seit der Antike die verschiedensten Verfasser auch das Dahinscheiden ihrer (Haus-)Tiere in Distichen besungen haben! Ein Beispiel von Friedrich Rückert:

Zierlich wedelndes Hündchen! So musste des finsteren Gottes
Herrischer Ruf auch dich ziehen hinab in die Nacht!
Oftmals hast du im Schatten die grasenden Herden bewachet,
Ruhig im Busche dabei lauscheten Hirtin und Hirt.
Aber nahete sich mit störenden Tritten ein Fremdling,
Weckte dein warnender Laut leise die Träumenden auf.
Treuer Wächter der Liebe! So fahr‘ in Frieden hinunter.
Und das Scheusal der Nacht, Cerberus, schrecke dich nicht!
In Elysiums Hainen, von frommen Hirten bewohnet,
Sei dir ein Schattenvolk weidender Lämmer beschert.
Und wann mich und das Mädchen hinab ein freundlicher Gott einst
Führt, aus Myrthengebüsch belle du wedelnd uns an!

Eine Rolle wird eingenommen, sicherlich; aber wirksam ist das Gedicht trotzdem!

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Eingeordnet

Klag nicht, siehst du zu Staub die Rollen sich wandeln und Bücher –
„Alles Geschriebene stirbt“? Wohl! Denn dann hat es gelebt.

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Erzählverse: Der Hexameter (183)

Das Beiwort im Hexameter (I)

Verse formen Sprache, und wer es ernst meint mit dem Schreiben metrisch geregelter Texte, ist sich dessen bewusst; er arbeitet daran, sich die sprachlichen Möglichkeiten, die dem Vers im Vergleich zur Prosa eigen sind, verfügbar zu machen und sie, nötigenfalls, gegen den Vorherrschaftsanspruch der Prosa durchzusetzen.

Beispiel Hexameter: Ein Vers, der viel mehr ist als eine Abfolge von Hebungen und Senkungen. Wer sich bei seiner Gestaltung auf die in der Prosa üblichen Mittel beschränkt, verlangweilt ihn! Das lässt sich gut an den Beiwörtern zeigen, die im Hexameter ganz anders eingesetzt werden können – und sollten! – als in der Prosa. Das schließt ihre Neubildung ein!

Es gibt zum Beispiel das Bildungsmuster „Sinn“, „sinnig“, „feinsinnig“; „Maul“, „mäulig“, „großmäulig“; „Fuß“, „füßig“, „beidfüßig“. Das ist, wie gleicht gezeigt wird, eine Wortstruktur, die dem Bau des Hexameters gelegen kommt; warum also nicht neue Wörter nach diesem Bildungsmuster schaffen?!

Mählig erhöht, weichgrasig, gemach dem müdesten Wandrer.

Das ist ein Vers aus Jens Baggesens Parthenais (II,213); er beschreibt einen Hügel. „Mählig“, „mählich“ ist das noch unverstärkte „allmählich“, also „nach und nach“; „gemach“ meint hier „bequem“. Aber das eigentlich interessante Wort ist, natürlich! das „weichgrasig“, gebildet nach dem angeführten Muster: „Gras“, „grasig“, „weichgrasig“! Einige Verse weiter (II,228) findet man es wieder:

Rechts, wo mählig hinauf weichgrasige Matten emporblühn,

Aber dabei bleibt es nicht. II,292/293:

Endlich bestiegen sie alle nunmehr den helvetischen Wagen,
Wägli genannt, kleinrädrig, mit zween Sitzbrettern gerüstet;

Wenn „Geist“, „geistig“, kleingeistig“, warum dann nicht „Rad“, „rädrig“, „kleinrädrig“?! „Mit kleinen Rädern“ alterniert, „der kleine Räder hatte“ auch; das gewählte, geschaffene Wort dagegen fügt sich dem rhythmischen Anforderungen des Hexameters aufs Schönste:

Wägli genannt, kleinrädrig, mit zween Sitzbrettern gerüstet;

— ◡ ◡, — —, — ◡ ◡ , — — , — ◡ ◡ , — ◡

Das neue Wort hilft also, die zweisilbige Einheit möglichst „spondeusähnlich“ zu füllen!

Und das meine ich, wenn ich sage, jeder (und das meint wirklich: jeder!)Vers hat Anforderungen und Möglichkeiten. Da muss man schon ein wenig Arbeit hineinstecken, manchmal weniger, manchmal, wie beim Hexameter, mehr; und der Prosa gelegentlich auf die Finger hauen. Aber: die Mühe lohnt sich! Versucht es einfach einmal und schaut, nein

Baut euch ein Wort schrägsinniger Art, das den Leser verwundert!

Wer sich nämlich verwundert, wer staunt: der langweilt sich nicht – und ist zumindest einen Augenblick lang frei von der Herrschaft der Prosa.

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Erzählverse: Der iambische Trimeter (26)

August von Platens „Philemons Tod“ ist ein kurzer, in Bezug auf die Versbehandlung aber interessanter Text:

Als einst Athen Antigonus belagerte,
Da saß der alte, neun und neunzigjährige
Poet Philemon, mächtiger Dichter Überrest,
In dürftiger Wohnung saß er da gedankenvoll:
Er, der Athens glorreichsten Tagen beigewohnt,
Der deine Philippiken angehört, Demosthenes,
Und oft den Preis errungen durch anmutige
Weisheitserfüllte, die er schrieb, Komödien.
Da schien es ihm, als schritten neun jungfräuliche
Gestalten leis an ihm vorbei, zur Tür hinaus.
Der Greis jedoch sprach dieses: Sagt, o sagt, warum
Verlasst ihr mich, Holde, Musenähnliche?
Und jene Mädchen, scheidend schon, erwiderten:
Wir wollen nicht den Untergang Athens beschaun!
Da rief Philemon seinem Knaben und foderte
Den Griffel, dieser wird sofort ihm dargereicht.
Den letzten Vers dann einer unvollendeten
Komödie schreibt der Alte, legt das Täfelchen
Hinweg, und ruhig sinkt er auf die Lagerstatt,
Und schläft den Schlaf, von dem der Mensch niemals erwacht.
Bald ward Athen zur Beute Makedonien.

Was fällt auf? Die recht hohe Zahl an doppelt besetzten Senkungen, sicher, und die dem antiken Trimeter nachempfundenen Längen in der Senkung, auch die vielen schwachen Endsilben; vor allem aber der etwas freiere Satzbau, besonders das

Weisheitserfüllte, die er schrieb, Komödien.

Ein solches Auseinanderstellen von Bei- und Hauptwort sieht man nicht alle Tage …