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Erzählverse: Der trochäische Fünfheber (20)

Ferdinand Avenarius‘ „Der Getreue“ ist kein wirklich gutes, aber dafür ein unerschrockenes Stück Dichtung:

 

Kommt nach Wanderjahren heim der Jüngling,
Halten ihn zurück betrübte Freunde:
„Nah‘ ihr nicht, es würgt die Pest dein Liebstes,
Keiner kann sie retten, und dich selber
Würgt mit ihr die Würgerin, wenn du nahst!“

Aber lächelnd hört der Heimgekehrte,
Wie sie sprechen: nur sein Auge schaut sie,
Seine Seele blickt auf unsichtbare,
Liebe, stille Bilder. Wo verlassen
Stöhnt, die jüngst noch schön und froh gewesen,
Dahin schreitet er, kniet ruhig nieder,
Nimmt ihr Haupt wie einst in beide Hände,
Küsst sie auf den Mund mit langem Kusse.

Und ein Schweigen zieht mit weiten Wellen
Über sie und wird zu blauen Tiefen.
Darein stäubt’s von Silbersonnenschimmer,
Flüstert es von leichtem Flügelwehen,
Singt es hell aus reichem Wipfelrauschen,
Jubelt’s auf aus vollen Lenzgesängen . . .

Und die beiden sehen sich . . .

Aber von den Häusern, hier und drüben,
Dort und rings, was springen auf die Tore?
Sich umarmend, grüßen sich die Menschen:
Jäh erloschen ist die Pest.

 

Im ersten und zweiten Abschnitt holpert es etwas, die Bezüge erschließen sich nicht immer überzeugend. Aber dann: „Und ein Schweigen zieht mit weiten Wellen / Über sie und wird zu blauen Tiefen“. Das, und den Rest, muss man sich trauen – heute ganz bestimmt, aber ich denke auch zu Avenarius‘ Zeiten schon; frei von der Furcht, ausgelacht zu werden …

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Getäuschte Erwartung

Tage wechseln mit Nächten, es wechseln Sonn‘ und Mond:
Doch immer gleich mir im Herzen die große Sehnsucht wohnt.

 

Ein Verspaar von Therese Dahn, bei dem die erste Hälfte des ersten Verses wie ein Hexameter klingt – da erwartet man ein Distichon; und wird ausgebremst und gerät ins Stolpern in der zweiten Vershälfte, und erst recht im zweiten Vers, an dessen Ende klar wird, dass hier ein Reimverspaar vorliegt!

Allerdings klingt dieser zweite Vers doch sehr umständlich; da ist die Versuchung groß, ein wirkliches Distichon zu versuchen?!

 

Tage wechseln mit Nächten, es wechseln der Mond und die Sonne,
Aber die Sehnsucht wohnt, immer sich gleich, mir im Herz.

 

Der Hexameter drängt sich geradezu auf, die Augenblicksversion des Pentameters hat noch Schwächen – das „sich“ verschiebt den Sinn, „Herz“ statt „Herzen“ ist böse umgangssprachlich, das „große“ fehlt; da wäre noch Arbeit zu tun. Wäre! Es gehört sich aber nicht wirklich, in den Texten anderer Verfasser herumzufuhrwerken, seien es lebende oder tote; von daher bleibt es bei dem Eindruck „Ein Distichon wäre die bessere Wahl gewesen“ …

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Was für ein Theater

Der Vorhang hebt sich

Jemand zwingt einen Schleifstein auf die Bühne.

JEMAND
Hab‘ ihr, die mich geboren,
Der Zeit! den Tod geschworen.

Jemand stutzt, betastet seine Hüfte, seufzt, verlässt die Bühne.

Stille.

EINE STIMME
Früher, eben, jetzt,
Jetzt, gleich, später.

Stille.

Der Vorhang senkt sich

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Erzählverse: Der iambische Dreiheber (5)

Wie nahe man der Grenze zur Bedeutungslosigkeit kommen kann, ohne sie zu überschreiten, zeigt Johann Michael Hamanns „Entschluss“, ein Text, der eben so auf der richtigen Seite der Grenze zu stehen kommt und darum wertig ist:

 

Wie schauerlich der Regen,
Der um mein Fenster rasselt!
Wie dunkel die Gedanken!
Wie matt der Schlag des Herzens!
Was soll ich bei den finstern
Und toten Büchern machen?
Hinaus, hinaus zum Mädchen!
In ihrem Aug‘ ist Frühling
Und milde Sommerwärme.
Ein Blick – und es erfreuet
Die halberstorbne Seele
Sich wie ein mattes Pflänzchen,
Das schon der Nord verletzet,
Beim Liebesstrahl der Sonne.
Gib mir den Mantel, Knabe!
Ich muss, ich muss zur Janthe.

 

„Janthe“ ist dem „Ich“ die Dame des Herzens … Das hier gerade so alles gut endet, ist sicher auch dem Versmaß zu verdanken; ein gewichtigerer Vers hätte Bedeutung eingefordert, wo keine sein kann, und den Text aus dem Gleichgewicht geworfen?!

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Erzählformen: Das Distichon (57)

Der Allwisser und Demonax

Allwisser
Ruft Aristoteles mich, so lausch‘ ich in seinem Lyceum,
Ruft in die Akademie Plato mich, folg ich ihm nach;
Ruft mich Zeno herbei, so weil‘ ich in seinem Pöcile,
Ruft Pythagoras, gilt Schweigen!

Demonax
Pythagoras ruft.

 

So nervtötend Friedrich Haug den „Allwisser“ dieses Doppeldistichon vollmüllen lässt, so spannend sind die Verse gebaut, vor allem die beiden Pentameter; im zweiten kommt Demonax‘ Einsatz nicht etwa zur Hälfte des Verses, wie es zu erwarten wäre, sondern erst zwei Silben später. Aber die verbleibenden fünf Silben reichen, um den auch so gesehen kein Maß kennenden „Allwisser“ aus dem Sattel zu schießen …

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Apolog

Hast du jemals den Schwank vom Fuchs und vom Kranich gelesen?
Etwas ähnliches, Freund, hab ich vor kurzem erlebt.
Hab‘ ich, ich las und vergaß über ihm Speise und Trank.

 

Das Ursprungsdistichon findet in den Xenien Goethes und Schillers.

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Erzählformen: Der Zweiheber (28)

Das reine Erzählen ist Zweiheber-Texten eher fremd. Adelbert von Chamisso wagt es in „Untergang“ trotzdem:

 

Zu des Meeres
Dunklem Schoße
Senkte trauernd,
Blut’gen Scheines,
Sturmverkündend
Sich die Sonne.

Nächtlich hebet
Dumpf herbrausend
Sich des Sturmes
Wilder Fittich.

In dem Streifen
Roher Winde
Ziehn die Wolken,
Oft des Mondes
Silberstrahlen
Nächtlich hemmend.

An des Ufers
Felsenriffe
Brechen schäumend
Sich die Wogen;
Ihr Ertosen
Scheint die Stimme
Von der Erden,
Die den Donnern
In den Höhen
Klagend ruft.

Und es nahen
Ferne Donner,
Dumpf verhallend.

 

– Man merkt: Da ist eine Spannung zwischen den kurzen Versen und ihrem Wunsch, als Einheit erfahrbar zu werden, und dem Wunsch der Handlung (oder, hier erst einmal: Der Beschreibung), stetig und ungestört fortzuschreiten. Aber es verträgt sich doch, irgendwie, auch im weiteren Verlauf; der Text umfasst noch viele, wenn auch kurze Verse!

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Das Wie wechselt, das Was bleibt

Grabschrift des Nitulus

Hier modert Nitulus, jungfräuliches Gesichts,
Der durch den Tod gewann: er wurde Staub aus Nichts.

 

„Grabschriften“ waren zu allen Zeiten ein beliebter Gegenstand des Epigramms; geändert hat sich nur die Form, in der sie erscheinen: Von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an wurden sie eher in Distichen verfasst, davor häufig in sogenannten „Alexandriner-Couplets“, das sind durch den Reim gebundene Paare von Alexandrinern, die gleichfalls ein hohes Maß an Geschlossenheit aufweisen.

Hier ist es Gotthold Ephraim Lessing, der das in sehr überzeugender, wenn auch wenig netter Weise bestätigt! („jungfräuliches“ ist eine inzwischen aufgegebene Art der Deklination; damals ging das.)