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Erzählformen: Die Brunnenstrophe (17)

Eine einfache Abwandlung der Brunnenstrophe entsteht, wenn der dritte Vers in Metrum und Reim verdoppelt wird. Den so entstandenen Fünfzeiler hat zum Beispiel Theodor Storm in „Verirrt“ verwendet:

 

Ein Vöglein singt so süße
Vor mir von Ort zu Ort;
Weh, meine wunden Füße!
Das Vöglein singt so süße,
Ich wandre immerfort.

Wo ist nun hin das Singen?
Schon sank das Abendrot;
Die Nacht hat es verstecket,
Hat alles zugedecket –
Wem klag ich meine Not?

Kein Sternlein blinkt im Walde,
Weiß weder Weg noch Ort;
Die Blumen an der Halde,
Die Blumen in dem Walde,
Die blühn im Dunkeln fort.

 

Wobei Storm verschiedene Dinge vorführt, die man mit dieser Form anstellen kann: Die Wiederholung des Reimworts aus V1 in V4 zum Beispiel ( „süße“ in S1, „Walde“ in S3); in S2 ist V1 ungereimt, was sich ergibt, wenn die ursprüngliche vierzeilige Strophe nur halbgereimt war (aus xaxa wird xabba). Das kann auch durch ein ganzes Gedicht hindurch tragen, die Beispiele dafür sind zahlreich! Friedrich Hebbels „Der junge Schiffer“ beginnt so:

 

Dort bläht ein Schiff die Segel,
frisch saust hinein der Wind!
Der Anker wird gelichtet,
das Steuer flugs gerichtet,
nun fliegts hinaus geschwind.

Ein kühner Wasservogel
kreist grüßend um den Mast,
die Sonne brennt herunter,
manch Fischlein, blank und munter,
umgaukelt keck den Gast.

 

Eine angenehm zu lesende Strophe, die sich auch ohne große Mühe schreibt und daher sicher einen Versuch wert ist!

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Erzählverse: Der Hexameter (156)

Gustav Pfizer hat ein seltsames Mischwesen erschaffen, das er „Ghasel“ überschrieben hat:

 

Hatte ich Wein getrunken am Morgen, um schnöd‘ zu vergessen,
Dass zu verzeih’n des Propheten Gebot ist?
Schmerz hat den Spiegel der Seele betrübt, nicht bedacht ich, dass Zürnen
Nicht zum Leben der Weg, nur zum Tod ist.
Treffen wollt‘ ich dein Herz, doch mein Pfeil jetzt vom eigenen Blute
Und vom Weinen das Auge mir rot ist.
Zürne, Geliebter, mir nicht! Schon duld‘ ich jegliche Strafe,
Die dem Verräter der Liebe gedroht ist.
Trotzig zog ich zum Kampf, doch die blaue Kling‘ ist gebrochen
Und besudelt die Fahne von Kot ist.
Wisse, dass Jammer mein Ross, und träumende Sorge mein Lager,
Tränen mein Wein und Kummer mein Brot ist.
Einst war ich reich an Zimmet und Weihrauch; aber dem Armen
Kaum noch vom Pfunde übrig ein Lot ist.
Kehre, o Holder, zurück! Du weißt, dass Hafis zum Leben
Liebe und Liebe genießen so not ist.

 

Das ist, denke ich, aus vielerlei Gründen ein schlechtes Gedicht; formal gesehen hält es die Vorgaben des Ghasels nicht ein, das ja ein Reimschema der Form aa xa xa xa … verlangt; dann benutzt es Hexameter in einem Reimgedicht, und ein „Bewegungsvers“ im Rahmen einer „Klangform“ ist nie ein guter Gedanke. Immerhin reimt sich nie der Hexameter, sondern die Reime auf „-ot“ (samt dem Überreim „ist“) stehen in den kürzeren Vierhebern; aber trotzdem.

Wieder einmal ein Beispiel, dass die Vermischung von Formen, die gegensätzliche Ansprüche an die Sprache stellen, zu einem unverträglichen Gemisch führt, in dem das eine Prinzip so wenig wie das andere wirken kann.

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Erzählformen: Das Distichon (59)

Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe; das gilt auch beim Schreiben von Distichen.

 

Madame Heunisch

Schwach ist dein Stimmchen, mein Schatz, so reich uns die stattliche Nase:
Dich zu hören bequem, sitzen gefällig wir drauf!

 

E.T.A. Hoffmann hat einige „Distichen auf Mitglieder des Bamberger Theaters“ geschrieben. Zum Privatvergnügen, veröffentlicht worden ist davon zu seinen Lebzeiten nichts! Vielleicht auch darum ist der gutmütige Spott über die durchaus fähige Sängerin Cäcilie Heunisch keine wirklich große Verskunst (der Pentameter klingt arg ungelenk)?!

Über die Größe von Nasen haben sich auch andere Dichter ausgelassen – Adelbert von Chamisso etwa in den Distichen des „Angebindes an Selmars Nase“:

 

Rettung

Längst schon wärst du ertrunken in Fluten der eigenen Dichtung,
Doch ist kein Wasser so tief, dass es die Nase bedeckt.

 

Aber abgesehen von der verbindenen Nase – dass sind einmal bessere Verse; zweitens sind sie veröffentlicht worden; und drittens sind sie kein „gutmütiger Spott“, sondern ein ernstgemeinter Rempler, denn „Selmar“ war das Pseudonym des Dichter-Kollegen Karl Gustav von Brinckmann, den Chamisso einmal in einem Brief als „unaustehlichen Wicht“ bezeichnet hat …

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Bild & Wort (211)

– Wiedergefunden, nach vielen Jahren. Die wandelnde Kanone heißt „Justitia“, ihr Herrchen „Erasmus“; das ganze ist eigentlich ein Strip, der sich hier aber etwas mehr Platz gönnt. Was man doch alles gemacht hat, früher …

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Erzählverse: Der Blankvers (92)

Rudolf Borchardt hat einmal in Bezug auf die Übersetzungsarbeit angemerkt, Wielands Horaz sei ein Kunstwerk Wielands, und erst in einem sekundären und tertiären Sinne das, was man eine Übersetzung nennt. Da hat er recht:

 

Geh, Muse, wenn ich bitten darf, und bring
dem Celsus, Nerons Freund und Schreiber, meinen Gruß,
und meine besten Wünsche. Fragt er dich,
wie mirs ergeh, so sag ihm, dass ich, bei den schönsten
Entschließungen, doch weder für die Weisheit
noch fürs Vergnügen lebe – nicht, weil etwa
der Hagel meinen Wein zerschlagen, oder
die Hitze meinen Ölbaum ausgedorrt,
und unter meinen Herden, die den Klee
entlegner Fluren mäh’n, die Seuche wütet –
bloß, weil ich schwach am ganzen Leib‘, und leider
noch schwächer am Gemüt, nichts hören will,
was etwa meine Krankheit lindern könnte,
mich von der Ärzte gutem Rat gar sehr
beleidigt find‘, und meinen Freunden zürne,
die mir den schlimmen Dienst erweisen und
aus meiner Schlafsucht mich zu rütteln suchen:
kurz, alles haben will, was mir schon oft
geschadet hat, und alles fliehe, was
mir, wie ich glaube, heilsam ist; zu Rom
mich stets nach Tibur sehne, und zu Tibur
nach Rom. Dann, Muse, frag ihn, wie er sich
befinde, wie er seine Sachen treibe,
und wie er mit dem edeln Jüngling, wie
mit seinen Kameraden stehe? Spricht er: wohl!
so sag ihm, dass michs freue; doch, vergiss
mir ja nicht, diese kleine Lehre ihm
ins Ohr zu flüstern: So, wie du das Glück,
so werden wir, Freund Celsus, dich ertragen.

 

– Denn die Art, wie Christoph Martin Wieland hier die Hexameter Horaz‘ aus dessen Brief an besagten Celsus in iambische Verse umformt, Blankverse zumeist, aber ohne Scheu vor dem gelegentlichen Vier- oder Sechsheber: das ist wirklich eine ganz eigene Kunst. Und eine große.

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Erzählformen: Das Distichon (58)

Die deutsche Sprache ist auf einen so hohen Grad der Ausbildung gelangt, dass einem jeden in die Hand gegeben ist, sowohl in Prosa als in Rhythmen und Reimen sich dem Gegenstande wie der Empfindung gemäß nach seinem Vermögen glücklich auszudrücken.

– Sagt Johann Wolfgang Goethe und kommt damit auf einen Gegenstand, den auch die Epigrammatiker gerne behandelt haben. Friedrich Schiller schrieb zum Beispiel in Bezug auf die „Rhythmen und Reime“, die Verheißung des Freundes einschränkend:

 

Dilettant

Weil ein Vers dir gelingt in einer gebildeten Sprache,
Die für dich dichtet und denkt, glaubst du schon Dichter zu sein?

 

Und auch Friedrich Hebbel schlug später in die gleiche Kerbe:

 

Die Poesie der Formen

Was in den Formen schon liegt, das setze nicht dir auf die Rechnung:
Ist das Klavier erst gebaut, wecken auch Kinder den Ton.

 

Inzwischen liegen annährend 200 Jahre zwischen Goethe und der Jetztzeit, und wenn die deutsche Sprache damals schon „auf einen so hohen Grad der Ausbildung gelangt“ war, wie geht es ihr dann heute? Wer weiß; Schillers und Hebbels Einwürfe scheinen mir aber nach wie vor gültig …

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Erzählformen: Das Sonett (17)

Georg Trakls „Dezembersonett“ passt in die Jahreszeit, ist aber auch sonst ein eigenartiges Stück:

 

Am Abend ziehen Gaukler durch den Wald,
Auf wunderlichen Wägen, kleinen Rossen.
In Wolken scheint ein goldner Hort verschlossen,
Im dunklen Plan sind Dörfer eingemalt.

Der rote Wind bläht Linnen schwarz und kalt.
Ein Hund verfault, ein Strauch raucht blutbegossen.
Von gelben Schrecken ist das Rohr durchflossen
Und sacht ein Leichenzug zum Friedhof wallt.

Des Greisen Hütte schwindet nah im Grau.
Im Weiher gleißt ein Schein von alten Schätzen.
Die Bauern sich im Krug zum Weine setzen.

Ein Knabe gleitet scheu zu einer Frau.
Ein Mönch verblasst im Dunkel sanft und düster.
Ein kahler Baum ist eines Schläfers Küster.

 

– Eine bemerkenswerte Anhäufung von Dingen … Den Sonett-Raum bis unter die Decke vollgestapelt, sozusagen. In der ersten Fassung schloss das Sonett noch mit den beiden Versen „Man sieht noch in der Sakristei den Küster / Und rötliches Geräte, schön und düster“; demgegenüber weiß die gezeigte zweite Fassung noch einen weiteren Schritt auf dem eingeschlagenen Weg zu machen!

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Erzählverse: Der Blankvers (91)

Adelbert von Chamisso lässt in „Herein!“ nach einem Tragiker, einem Komiker, einem Mimiker, einem Übersetzer, einem Lyriker, einem Maler und einem Musiker auch einen  – Leser auftreten:

 

Leser
Ich habe meine Pflichten treu erfüllt,
Genützt, wie ich gesollt; einheimisch dann
Im schönen Dichterlande, hab‘ ich Ohr
Und Herz dem Zauber eurer Schöpfungen
Geliehn, und nicht den oft verschuldeten,
Den schweren Vorwurf über mich geladen,
Dass ich, was besser ungeschrieben wär‘
Geblieben, doch geschrieben hätte, – nein,
Ich trete kühn in diesen Kreis, es sind
Die Hände mir von Tinte rein geblieben.

 

Und wie alle anderen wird auch er vom Chor hereingebeten, mit den nahezu gleichen Worten:

 

Chor
Herein, herein! Du seltenster der Gäste,
Das hast du gut gemacht!

 

Gut gemacht sind aber auch Chamissos Blankverse, durch die ein langer Satz schreitet, ohne an Verständlichkeit und Nachdruck zu verlieren; und neben dem doch immer noch der Vers als eigenständige Größe vernehmbar bleibt. Fein!