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Erzählverse: Der Blankvers (93)

Ludwig Gotthard Kosegartens „Das Schattenreich“ ist ein eigenartiges Wechselgespräch zwischen einem seiner Bewohner, Elwill, und Telynhard, der diesen befragt. Die Fragen sind dabei in vier trochäischen Dreihebern gestellt, die Antworten werden in Blankversen gegeben! Ein Auszug:

 

Elwill, ist dir helle,
Wo uns Dunkel hüllt?
Ist dir Wahrheit, Elwill,
Was uns Wahrheit däucht?

„Wohl Manches, was dem eingekerkerten,
Durch enge Gitter mühsam spähenden,
Durch weite Fernen ängstlich horchenden,
Verwiesnen Geiste Blitz der Wahrheit däuchte,
Was Denker mit der Schlüsse Kettenringen,
Was Priesterwut mit Bann und Beil und Holzstoß,
Was Märtyrer mit hingebognem Nacken
Erwiesen, oder zu erweisen wähnten,
Ist dennoch Traum.
Wohl Manches, was der selbstzufriedne Grübler
Als Dichtertraum verlacht, der eitle Spötter
Als Priestermärchen höhnt, der kalte Grübler
Gar in der Unding‘ öde Nacht verbannt,
Ist dennoch Wahrheit.
Eins ist mir helle, was mir dunkel war.
Das Andre dämmert mir nur noch. Das Dritte
Ist rabenschwarze Mitternacht noch immer.
Viel sind der langen Ewigkeit Äonen.
Viel Zeit ist hier zu lernen. Vieles ist
Dem ersten Seraph noch zu lernen übrig.“

 

Man hört: Diese Antworten klingen nach einem Rätselwort, an manchen Stellen stärker, an anderen schwächer. Was aber immer auffällt, ist der Gegensatz zwischen den gewählten Versarten; allemal eine wirkungsreiche Möglichkeit, eine solche Wechselrede zu gestalten!

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Wider das Reimen

Wehe, wenn sie losgelassen!
Wehe, wenn der Reime Massen
In verträumte Zeilenherden
Dichterseits getrieben werden,
Wahllos sich auf Verse werfen:
Freunde! Diese Töne nerven.

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Erzählformen: Das Distichon (62)

Das Distichon ist eine Form, die an rhythmischen Möglichkeiten überreich ist. Allerdings treten nicht alle diese Möglichkeiten gleich häufig in Erscheinung! Eine der seltensten ist sicher der „Antispast“, also die Silbenfolge ◡ — — ◡, bei der zwei „schwere“ Silben von zwei „leichten“ Silben eingerahmt werden. Dafür müssen in der Mitte des Pentameters der Vers- und der Satzeinschnitt auseinandertreten, und der Satz muss dabei zwei Einschnitte aufweisen, jeweils zwei Silben vor- und zwei Silben nach dem Verseinschnitt. Nur dann wird eine antispastische Sinneinheit hörbar!

Ein Beispiel findet sich bei Gustav Schwab:

 

Prognostikon

Wer, zu fallen bestimmt, mit Ehren zu fallen versäumt hat,
Fällt mit Schanden, ein Spott Feinden, und Freunden ein Graun.

 

„Ein Spott Feinden“, ◡ — — ◡!

Wer darauf achtet, findet solche Antispaste nicht oft, aber doch gelegentlich. Ein anderes Beispiel, diesmal von Wilhelm Ernst Weber:

 

Faust

Königlich trägt auf der Stirn er das prometheische Siegel
Sinnender Tiefe, ein Gott stehend, und fallend noch Mensch.

 

„Ein Gott stehend“; ziemlich ähnlich dem Pentameter Schwabs?! Noch ein anderer Fall sind die Pentameter-Einschnitte, die durch ein „über ihnen“ liegendes Wort verwirklicht werden. Das kann gleichfalls antispastisch klingen wie in diesem Distichon eines unbekannten Verfassers:

 

Mehr als einer

Immer sagt ihr, der eine, der Feilschuft, saget doch lieber
Von der Familie der Feil – Schufte, sie ist ja so groß.

 

„Der Feilschufte“. Der Bindestrich ist so vom Verfasser gewollt! (Und nein, was genau ein „Feilschuft“ ist, weiß ich auch nicht …)

Der Antispast hat jedenfalls eine sehr eigene Bewegung. Wer ein wenig mehr wissen möchte, kann im „Hinterzimmer“ des Verserzählers vorbeischauen, wo einige Stimmen zu diesem Versfuß versammelt sind: Der Antispast.

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Erzählverse: Der trochäische Vierheber (60)

Johann Georg Fischer hat einige lange Texte im trochäischen Vierheber geschrieben, die Freunde und Gefährten zum Inhalt hatten, und damit auch immer: Die Erinnerung an die gute, alte Zeit. So heißt es zum Beispiel in „Tuch und Leder“:

 

Alte Zeit und Augenweide,
Stolzer Fuhrknecht mit den sechs und
Acht und zwölf und zwanzig Rossen,
Zwanzig Knöpfen an dem Brusttuch,
Gold’ne Zeit, wer bringt dich wieder,
Deine Fuhren, deine Einkehr
Bei den schweren Metzelsuppen?
Nur des Schwarzwalds Tannenflößer
Haben deiner Herrlichkeit noch
Einen treuen Rest gerettet.
Aber auf dem Vorsprung ihrer
Wagen steh’n der Eisenbahnen
Uniforme Kondukteure,
Und dem Kellner aus der Hand noch
Reißt der eine Wurst und Bierglas,
Eh sie zischt, die Dampfmaschine,
Doch der and’re pfeift – und vorwärts
Schlenkerts vierundsechzig Wagen,
Dann ein Rauch noch, und dann nichts mehr!

 

Früher war, wie alle wissen, nicht alles besser. Aber darauf kommt es hier auch nicht an, sondern auf die Versbewusstheit des Textes, die trotz der manchmal harten Zeilensprünge immer für Schwung sorgt, für Bewegtheit und Spannung; in einer Art, in der es ein Prosatext nicht vermöchte. Den Beweis dafür liefert, wie immer, der eigene Vortrag; das laute Lesen.

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Vom Seltenen

Es gibt Strophen, die Gemeingut sind und von den Dichtern zu allen Zeiten gebraucht wurden; und es gibt Gebilde, in denen Metrum und Reim sich auf seltene Art zusammenfinden!

 

Winterleben

Was ich tue,
Seit der Bäume
Welkes Laub die Winde wehten?

Ach, ich ruhe,
Schlafe, träume
An der Dichtung Frühlingsbeeten.

 

Die fragenden ersten drei Verse dieses Textes von Karl Rudolf Tanner lassen keinen Reim vermuten, die antwortenden drei Verse vervollständigen sie aber, und das nicht nur inhaltlich: sie machen sie auch in Bezug auf die Form zu der „Dichtung“, die im letzten Vers genannt wird, und die, nach zwei arg abgegriffenen Reimen, mit „wehten / -beeten“ dem Leser doch noch einen hörenswerteren Gleichklang schenkt!

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Erzählformen: Das Distichon (61)

Feuerwerk

Sterne, wie blinkt ihr so bleich! Wir werfen die schönern gen Himmel
Zischend in feurigem Strahl, purpurn und golden und grün!
Puff! Die Rakete zerplatzt, und sinkend verlöschen die Funken,
Ruhig zum kindischen Spiel lächelt das himmlische Heer.

 

Das sind nun keine besonders guten Verse, aber sie passen zum heutigen Tag so gut wie kaum andere … Geschrieben hat sie Karl Gerok.

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Erzählformen: Das Distichon (60)

Das Distichon ist eine im Wesen gegensätzliche Form, bedingt durch die Verschiedenheit der beiden Verse, aus denen es besteht; was der Hexameter beginnt, in Bewegung setzt und in die Welt entlässt, sammelt der Pentameter wieder in sich, bringt es zur Ruhe und schließt es. Kein Wunder, dass auch inhaltlich oft eine Gegensätzlichkeit verhandelt wird; und dass der Pentameter gar nicht so selten mit einem „Aber“ beginnt!

 

Reden können die Sterne, die Lüfte, die Blumen, der Stein selbst,
Aber zu schwatzen, verlieh einzig dem Menschen der Gott.

 

– So Karl Heinrich Gotthilf von Köstlin, der eigentlich Mediziner war, unter dem Pseudonym „Chrysalethes“ aber auch Epigramme in Distichonform veröffentlicht hat. (Als junger Arzt hat er bei der Behandlung des größten Distichenschreibers überhaupt mitgewirkt: Der Friedrich Hölderlins!)

Dieses Entgegensetzen kann sich aber auch wunderbar in einem Paar von Distichen ausbilden – das erste davon stellt einen Inhalt vor, schließend mit dem Ruhepunkt am Ende des Pentameters; das zweite führt ihn näher aus und bringt im zweiten Pentameter den gesamten Text zum Stehen. Das „aber“ wandert dabei naturgemäß an den Beginn des zweiten Hexameters!

 

Die Geschwister

Schlummer und Schlaf, zwei Brüder, zum Dienste der Götter berufen,
Bat sich Prometheus herab, seinem Geschlechte zum Trost;
Aber, den Göttern so leicht, doch schwer zu ertragen den Menschen,
Ward nun ihr Schlummer uns Schlaf, ward nun ihr Schlaf uns zum Tod.

 

– Ein vergleichsweise bekanntes Epigramm von Johann Wolfgang Goethe. Spannend auch, wie das erste Distichon eher ruhig erzählt, während das zweite sowohl die Vershälften des Hexameters („doch“) als auch die Vershälften des Pentameters („ward“ … „ward“) als Größen eigenen Werts erfahrbar macht, das Distichon dadurch noch stärker als ohnehin schon gestaltet und damit der Aussage zusätzlichen Nachdruck verleiht!

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Das Königreich von Sede (96)

Als Schemel spät, mit müdem Schritt
Und müdem Geist, zum Graben tritt,
Sind Frösche um ihn sonder Zahl
Und frohen Muts, die keine Wahl
Ihm lassen, als zu singen,

Weil sich die Frösche, alt wie jung,
Laut quakend und mit hohem Sprung
Ins Wasser werfen, dass es spritzt
Und Schemel, der inzwischen sitzt,
Durchnässt bis auf die Knochen,

Der klaglos seine Laute stimmt
Und Töne aus dem Quaken nimmt
Und aus der Wellen Wirbeltanz
Sich Töne nimmt und wird so ganz
Zu Frosch und Nacht und Wasser;

Und weiß von keiner Müdigkeit
Und spielt und singt noch lange Zeit
Den Fröschen, und es bricht ihr Blick
Zufrieden auf und geht zurück,
Die alte Welt zu schauen.