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Erzählformen: Das Distichon (56)

Felix Dahn setzt die Bedingungen in Deutschland gegen die des (antiken) Mittelmeerraums ab:

 

Nicht ragt glänzend und rund mir von thrakischem Steine die Villa
Und die Charitinnen nicht stehen im Atrium mir,
Nicht, von Platanen bedacht, dehnt weit sich die sand’ge Palästra:
Nicht aus staubigem Schlauch wird mir Falerner geschenkt:
Nicht umspület das Haus mit der sanften ausonischen Welle,
Bis in das dienende Meer waglich gemauert, das Bad:
Hart ist unser Geschlecht und die alabasterne Glätte
Edelster Formengewalt weigert sich unserer Kunst:
Horch, der Hexameter selbst, wie er seufzt in der Fessel des Deutschen!
Ach, der Verwöhnte verlangt reichere Tonmelodie.

 

Spannend ist dabei einmal die wiederholte Voranstellung des „nicht“, die der Versrahmen ermöglicht, innerhalb dessen der Satz sich freier ordnen kann (wobei diese vorangestellten „nicht“ schon Johann Heinrich Voß in seinen Homer-Übersetzungen mit guter Wirkung gebraucht hat); und sicherlich der Verweis auf den Hexameter, ausgestaltet im Hexameter; einem ziemlich gelungenen, wie ich finde, dernicht wirklich „seufzt“!

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Erzählformen: Die Chevy-Chase-Strophe (6)

Wie die meisten vierzeiligen Strophen kann auch die Chevy-Chase-Strophe durch angefügte Verse erweitert werden. Fügt man ein Reimpaar aus iambischen Vierhebern an, entsteht diese sechszeilige Strophe:

x X / x X / x X / x X a
x X / x X / x X b
x X / x X / x X / x X a
x X / x X / x X b
x X / x X / x X / x X c
x X / x X / x X / x X c

Wie immer bei der Reimanordnung ababcc kann das schließende Reimpaar epigrammatisch-nachdrücklich genutzt werden; wird die Strophe erzählend gebraucht, ist das weniger der Fall, wie zum Beispiel in Nikolaus Lenaus „Der Raubschütz“, an dessen Beginn dem Leser der Müller Jacob zu mitternächtlicher Stunde gezeigt wird; es stürmt, als plötzlich:

 

Die Tür geht auf, er fährt empor:
Wer kommt zu solcher Stund?
Ein Weidmann mit dem Feuerrohr,
Mit seinem Stöberhund,
Hahnfeder, Gemsbart auf dem Hut,
Das grüne Wams befleckt mit Blut.

Der Müller starrt, zurückgebeugt,
Dem Jäger ins Gesicht,
Sein Haar entsetzt zu Berge fleugt,
Sein Blut zum Herzen kriecht:
Der Raubschütz ists, der wilde Kurd,
Der jüngst im Wald erschossen wurd.

 

Die Zweiteilung der Strophe ist zwar da, wird aber nicht wirklich betont! Die zweite Strophe von „Der Freundschaftsbund“ von Johann Heinrich Voß trennt etwas deutlicher:

 

Erbarmend sah des Lebens Müh
Der Menschen Vater, schwieg,
Erschuf die Freundschaft, wog, und sieh,
Des Elends Schale stieg.
Da sprach der Vater: „Es ist gut!“
Und alles Leben hauchte Mut.

 

Da wird vielleicht auch schon ein gewisser Grundton, eine Grundstimmung der Strophe hörbar? Das Volks- und Küchenlied klingt nicht viel anders („Der Räuber Willibald“, zweite Strophe) …

 

Einst raubt er eine Jungfrau fein
Und führt sie in den Wald
Und sprach: Mein Kind, jetzt bist du mein!
Ich heiße Willibald.
Jetzt will ich kühlen meine Lust
An deiner zarten weißen Brust.

 

… und das Liebeslied auch nicht („Winterlied“ von Gottfried August Bürger, erste Strophe):

 

Der Winter hat mit kalter Hand
Die Pappel abgelaubt,
Und hat das grüne Maigewand
Der armen Flur geraubt;
Hat Blümchen, blau und rot und weiß,
Begraben unter Schnee und Eis.

 

Insgesamt eine schöne, runde Strophe, die auszuprobieren sich lohnt!

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Umkehrung

Friede mit der Welt

Lebe von der Welt geschieden,
Und du lebst mit ihr in Frieden.
Willst du dich mit ihr befassen,
Höre, was dir widerfährt!
Du musst lieben oder hassen;
Keines ist der Mühe wert.

 

Ein kurzer, knapper, einprägsamer Text von Friedrich Rückert, der zumindest bezüglich seiner Gedichte und zumindest in seinen späten Jahren ganz zufrieden damit war, „von der Welt geschieden“ zu sein …

Die Form ist dabei einen zweiten Blick wert – es gibt eine sechszeilige Strophe, die in den alten Zeiten ziemlich beliebt war, und wie Rückerts Text aus gereimten trochäischen Vierhebern besteht; nur lautet das Reimschema da ababcc, ein auch in anderen Strophen geläufiger Aubau, in dem auf einen Kreuzreim ein Paarreim folgt, der die Form nachdrücklich-einprägsam schließt.

Diesen Paarreim stellt Rückert an den Anfang, und auch hier liefert er eine griffige Erkenntnis; die vier kreuzgereimten Verse folgen erklärend nach, verlaufen dann aber nicht haltlos ins Nichts, sondern schaffen mir der trocken dahingesagten Behauptung des letzten Verses ihrerseits einen schönen Schluss- und Ruhepunkt.

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Erzählformen: Das Distichon (56)

6. Psalm (Anfang)

Strafe mich nicht, o Herr! in deinem erschrecklichen Zorne,
Züchtige mich doch nicht! Vater, aus Eifer und Grimm:
Sei mir gnädig, o Herr! denn ich bin schwach und erschrocken:
Heile mich, himmlischer Arzt! meine Gebeine sind schwach.

 

Nun sind die Psalmen ja nicht in Distichen geschrieben – was geht also hier vor? Nun: Johann Christoph Gottsched gebührt der Verdienst, sich als einer der ersten um praktikable deutsche Hexameter und Distichen bemüht zu haben. Dafür hat er in seinem „Versuch einer critischen Dichtkunst“ 1730 unter anderem auch den sechsten Psalm in Distichen übertragen. Bleibt natürlich die Frage, welches Maß an Eigenständigkeit ein solcher Text durch die Versifikation gewinnt … In einer hier gerade herumliegenden (Luther-)Bibel geht der Anfang des Psalms so:

Ach Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn, und züchtige mich nicht in deinem Grimm! Herr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach; heile mich Herr, denn meine Gebeine sind erschrocken.

– Jeder mache sich sein eigenes Bild … Gottsched selbst schrieb zu seinem Versuch:

Meines Erachtens fehlt nichts mehr, als dass einmal ein glücklicher Kopf, dem es weder an Gelehrsamkeit, noch an Witz, noch an Stärke in seiner Sprache fehlet, auf die Gedanken gerät, eine solche Art von Gedichten zu schreiben; und sie mit allen Schönheiten auszuschmücken, deren sonst eine poetische Schrift, außer den Reimen, fähig ist.

Uns so kam es – keine zwanzig Jahre später schrieb Klopstock seinen „Messias“, und danach waren die nachgebildeten antiken Versmaße nicht mehr wegzudenken aus der deutschen Dichtung. Was Gottsched dann auch wieder nicht recht war; aber das ist eine andere Geschichte.

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Erzählformen: Das Distichon (55)

Wenn man ein Distichon spricht, wie lange dauert das?

Im Fall des 73. Venetianischen Epigramms von Johann Wolfgang Goethe, gelesen von Thomas Huber im Rahmen der Frankfurter Anthologie, sind es weniger als zehn Sekunden, wie auf www.faz.net nachzuhören ist im Rahmen eines auch sonst lesenswerten Artikels, der auch noch die gesprochene Fassung eines auf Goethes Zweizeiler bezogenen Epigramms von Arthur Schopenhauer enthält. Im Falle des Goethischen Distichons …

 

Wundern kann es mich nicht, dass Menschen die Hunde so lieben;
Denn ein erbärmlicher Schuft ist, wie der Mensch, so der Hund.

 

… hätte ich es schön gefunden, wenn Thomas Huber das „ist“ des Pentameters etwas stärker herausgehoben hätte – einmal wäre so die Versstruktur gegenüber der Satzstuktur gleichwertiger vernehmbar gewesen („ist“ steht auf einer Hebung), und zum anderen passt ein betonteres „ist“ ja auch zum Inhalt – es bekräftigt, sagt: „Doch! Wirklich!“

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Das Ein-Vers-Gedicht (23)

Johann Caspar Lavater versammelt in seinem gnadenlos christlichen Buch „Wege des Herzens“ auch „Denkzeilen“ – ein hübscher Ausdruck für Einzelverse, und das meint hier: Hexameter oft christlichen, immer aber auf die Belehrung und Besserung des Lesers abzielenden Inhalts.

 

Jeder Tag ist ein Lehrer, der lehrt, was kein anderer Tag lehrt!

 

– Als ein Beispiel. Derlei Verse blieben anscheinend nicht unbemerkt, in Jens Baggesens Werken finden sich jedenfalls einige „Lavatariaden“ und einige „Caspariaden“, und auch hier sind einige davon: Einzelne Hexameter!

 

Selbst im Gähnen der Frommen ist unverkennbar die Andacht.

 

Hübsch. Und wieder einmal ein schönes Beispiel dafür, was ein einzelner Hexameter zu leisten in der Lage ist!