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Bücher zum Vers (98)

Jean-Jacques Kariger: Blitzröhren und Kultur des feingeistigen als poetisches Argument. Neue Epigrammatik.

Ein „Buch zum Vers“ ist dieser Band in Wahrheit nur zum kleinen Teil, den zwanzig Seiten am Anfang nämlich, die „Kultur des Feigeistigen als poetisches Argument. Untersuchungen zu den heutigen Möglichkeiten des Epigramms“ überschrieben sind („heutig“: meint dabei: 1982, in diesem Jahr ist das Buch bei The World of Books erschienen). Der restliche, weit umfangreichere Teil ist ein Epigrammsammlung des Titels „Blitzröhren“, darin Epigramme in allen Formen und Versen enthalten sind. Ich gebe als Beispiel, meinen Vorlieben entsprechend, einen auf Seite 22 im Kapitel „Sittenglossen“ zu findenden Hexameter, also ein „Ein-Vers-Gedicht“:

 

Hockermoral

Frag noch nach Haltung unsrer Modernen! Sie sitzen ja immer –

 

Insgesamt nicht ganz 200 Seiten, die man durchaus mit Gewinn und Vergnügen lesen kann; beide Teile, die Theorie wie die Praxis.

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Erzählformen: Das Distichon (54)

Eduard Mörikes „Johann Kepler“ ist ein aus vielen Gründen reizvoller Text!

 

Gestern, als ich vom nächtlichen Lager den Stern mir in Osten
Lang betrachtete, den dort mit dem rötlichen Licht,
Und des Mannes gedachte, der seine Bahnen zu messen,
Von dem Gotte gereizt, himmlischer Pflicht sich ergab,
Durch beharrlichen Fleiß der Armut grimmigen Stachel
Zu versöhnen, umsonst, und zu verachten bemüht:
Mir entbrannte mein Herz von Wehmut bitter; ach! dacht ich,
Wussten die Himmlischen dir, Meister, kein besseres Los?
Wie ein Dichter den Helden sich wählt, wie Homer, von Achilles‘
Göttlichem Adel gerührt, schön im Gesang ihn erhob,
Also wandtest du ganz nach jenem Gestirne die Kräfte,
Sein gewaltiger Gang war dir ein ewiges Lied.
Doch so bewegt sich kein Gott von seinem goldenen Sitze,
Holdem Gesange geneigt, den zu erretten, herab,
Dem die höhere Macht die dunkeln Tage bestimmt hat,
Und euch Sterne berührt nimmer ein Menschengeschick;
Ihr geht über dem Haupte des Weisen oder des Toren
Euren seligen Weg ewig gelassen dahin!

 

Reizvoll sind sicher auch die Freiheiten, die sich Mörike im Versbau nimmt, zum Beispiel das „den dort“ des ersten Pentameters, das die beiden mittleren Hebungssilben belegt – nicht ohne Wirkung! Vor allem aber fallen die Freiheiten im Satzbau auf, die Unbefangenheit, mit der Mörike Satzteile dahin stellt, wo es ihm eben sinnvoll erscheint; zum Beispiel das „herab“, das den drittletzten Pentameter schließt!

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Die weiteren Verwandlungen der Rose

Freundlich bitten die Künstler, du tanzt vor ihnen und tanzend
Stirbst du, du wirst, ein Poet sieht es und zeugt: ein Gedicht.

 

 

Ludwig August Frankl (1810-1894) schrieb drei Sonette auf „Rosa, die tanzend in der Künstlergesellschaft Hesperus starb“; zu finden hier.

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Erzählverse: Der iambische Siebenheber (8)

Gottfried Keller verwendete den iambischen Siebenheber einmal für ein Ghasel:

Den Dichter seht, der immerdar erzählt von Lerchensang,
Wie er nun bald ein Dutzend schon gebratner Lerchen schlang!
Bei Sonnenaufgang, als der Tag in Blau und Gold erglüht,
Da war es, dass sein Morgenlied vom Lob der Lerchen klang;
Und nun bei Sonnenuntergang mit seinem Gabelspieß
Er sehnend in die Liederbrust gebratner Lerchen drang!
Das heiß‘ ich die Natur verstehn, allseitig tief und kühn,
Wenn also auf und nieder sich sein Tag mit Lerchen schwang!

Der Überreim (das, was vor dem eigentlichen Reim in jedem Reimvers wiederholt wird) „Lerchen“ lässt aufhorchen und gleich zu Beginn vermuten, dass das Gedicht nicht ganz ernst klingen wird, und auch nicht sehr lang sein kann; und so kommt es auch, obwohl die Schluss-Erkenntnis gar nicht so unernst ist …

Der Siebenheber ist dabei eine starke Grundlage und wird in seinen Eigenarten unbeirrt umgesetzt; nur im zweiten Vers ist die Zäsur hinter der vierten Hebung nicht recht vernehmbar! Die Reimsilbe „-gang“, die erst als Senkungssilbe, dann als Hebungssilbe vernehmbar wird, ist ein nettes Extra im Versinnern.

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Ein eigenartiges Schachbuch

Wer sich in den Vor-Internet-Zeiten für historische Schachbücher interessierte, für den war die „Edition Olms“ ein Segen: Dort erschienen in den 1980ern Nachdrucke wichtiger, aber lange vergriffener Werke, darunter auch der „Alexandre“, eine Problemsammlung aus dem 19. Jahrhundert, der, da sie viele Fehler enthielt bezüglich der Verfasserschaft der Aufgaben, „Der gereinigte Alexander“ von Oskar Korschelt beigebunden war. Darin wiederum findet sich in Bezug auf eine Aufgabe des „Alexandre“ diese Bemerkung:

„Diese Stellung hat Al. Lewis, Oriental Chess 30 entnommen, sie stammt aus Zuylen van Nyevelt, La Supériorité, Campe 1793 S. 49 Fig 102-4. (…) Dies ist übrigens das originellste Schachbuch, das mir bis jetzt vorgekommen ist. Mitten im Schachtext am Ende einer Zeile, ohne den letzten Satz zu beendigen, bricht Graf Zuylen van Nyevelt, Staatsrat der Generalsstaaten, ab und beginnt eine Abhandlung, die im ersten Teile die Heilung der Nervosität durch Langeweile und geistige Konzentration behandelt, im zweiten Teile gibt er theologische Erörterungen und im dritten Teile bespricht er militärische Fragen. Dann hebt der Schachtext bei dem unvollendet gebliebenen Satze wieder an, als wäre nichts gewesen.“

Das sind so die Bücher, die auf immer im Gedächtnis bleiben – obwohl man sie nie gelesen hat …

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Erzählformen: Das Distichon (53)

Das Distichon ist seinen frühesten Anfängen nach (die jetzt auch schon 2700 Jahre her sind) eine Aufschrift, und so gestaltet findet man auch heute noch gelegentlich. Der „Rubensbrunnen“ in Siegen etwa trägt eine Tafel mit dieser Aufschrift:

 

Peter Paul Rubens geb. 1577 in Siegen

Wie um die Wiege Homers nach Jahrhunderten sieben der Städte,
Also stritten um dich, Rubens, der Städte sich drei;
Doch Antwerpen und Köln, den zweiten Maler der Erde
Sich zueignend als Sohn, fügten sich endlich dem Spruch:
„Siegen zeigte zuerst ihm die Welt im Reize der Farben,
Die sein Pinsel, wie Sol, hinter Auroren verteilt.
Raphael sei der Demant, dem Rubin bist du zu vergleichen,
Fürst der batavischen Kunst, Rubens, und Siegener auch!“
Mutter Heimat, die ich als Seliger segne, so nimm denn,
Hier aus Elysium rief’s, freundlich die kindliche Hand!

 

Verfasst hat die Distichen in den 1930ern Ludwig Heinrich Hermann Langensiepen. Mag man über den Wert der Verspaare denken, was man will; die gestalterische Absicht ist zu loben! (Zum Beispiel hier gibt es ein Bild der Aufschrift – zum Vergrößern draufklicken, bitte …)

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Erzählverse: Der Blankvers (90)

Anette von Droste Hülshoffs „Des Arztes Tod“ beginnt mit einer eindringlichen Beschreibung:

 

Im linden Luftzug schwimmt mit irrem Schein
Des Nachtlichts Fieberflamme; und kein Laut
Verbirgt des Röchelns leises Nahn dem Ohr,
Das angstvoll ob dem bleichen Antlitz lauscht.
Still liegt der alte Berthold, tief gesenkt
Die heiße Wimper, und ein wirrer Schlummer
Hält ihm die halberloschnen Sinne fest.

 

Bald danach wendet sich der Sterbende noch einmal an seine beiden Söhne, einer schon erwachsen, einer noch jung:

 

Ihr Kinder, lasst mich reden, und gedenke
Nicht deiner Kunst, mein Sohn! Du weißt es nicht
Und keiner, dem nicht also ist geschehn,
Wie furchtbar in dem schwirrenden Gehirn
Der schwindenden Besinnung letzte Kraft
Sich abquält um des Wortes Erleichterung,
Wie siedend der Gedanken wirrer Schwarm
Bald, nur in dumpfer Ahnung, Namenloses
Der kämpfenden Erinnerung versagend,
Bald sonst Unwicht’ges immer riesenhafter
Und immer schwerer in die Seele senkend
Vergebens die entflohne Stunde sucht.

 

Dass sich die Sprache „abquält“, lässt sich nicht wirklich sagen: Die Sätze sind wohlgefügt und keineswegs schlicht, die Verse sind gut gebaute Blankverse, die sich der erlaubten Freiheiten nur in sehr geringem Maß bedienen.

Und doch: Da ist etwas gequältes, das die Lage des Sprechenden sehr gut verdeutlicht?!

Solche Sterbeszenen überzeugend zu schreiben, ist sicher keine leichte Aufgabe; ein anderes Beispiel in Blankversen bietet das gleichfalls schon beim Verserzähler vorgestellte Geh nicht hinein von Theodor Storm.

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Erzählformen: Das Distichon (52)

Neueste Epigrammertsvögel

Eines verehr’ ich, den Schweiß, die Schwiele, die Schwester des Schweißes
Lieb’ ich und drücke die Hand brüderlich schwitzend mir selbst.

 

Das Schluss-Distichon eines Textes von Ludwig Eichrodt, der die unernsten Möglichkeiten der Form erkundet! Nicht umsonst heißt die Sammlung, in der er sich findet, „Lyrische Karrikaturen“ …

Die „Schw-Häufung“ des Hexameters wird noch durch die drei Amphibrachen ◡ — ◡ der zweiten Vershälfte verstärkt, was hier am Platz ist (sonst aber den Vers ein wenig schwächt).