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Die Uz-Strophe (16)

Auch prosimetrisch, also in Mischformen aus Prosa und Vers, ist die Uz-Strophe benutzt worden. Es gibt zum Beispiel einen Ostern 1748 geschriebenen Brief von Johann Jakob Bodmer an Samuel Gotthold Lange, in dem Bodmer immer wieder aus der Prosa in den Vers wechselt und wieder zurück – und „Vers“ meint da: Verspaare aus großem und kleinem Uz! Ein Ausschnitt („Scribent“ = „Verfasser“):

Mir gibt die Schrift auch des jüngsten Scribenten zu viel Freude, als dass ich ihn, statt ihm zu danken, beneiden könnte. Ich halte vielmehr den für meinen Freund, der so geschickt für mein Vergnügen sorgt. Daher habe ich Jünglinge von zwanzig Jahren zu Freunden. Die Muse ist ein Mädchen von unsterblicher Jugend, und schickt sich für Jünglinge!

Mir ist das fünfzigste Jahr schon auf den Nacken gesessen,
Und hat mir den Frost in die Adern gejagt.
Schon seh‘ ich am Ende der Bahn mein Ziel im Nähern sich größern,
Ich seh’s und eile mit eifrigerm Schritt;
Denn jenseits öffnet sich mir ein Land voll himmlischen Segens,
Ein Paradies von Geruch und von Licht.
In Hochzeitlauben ruhn dort, ach dort! ruhn meine Geliebten,
Und der, um den ich so lange geweint!
Sie warten sehnlich auf mich; denn in dem Schoße der Wonne
Scheint ohne mich ihre Wonne nicht ganz!

Was den Reim anlanget, so schreibt mir der Herr von Hagedorn, er glaube nicht, dass ein guter Vers ohne Reim einen wesentlichen Vorzug vor einem guten gereimten habe. Er sagt auch, nicht mehr zu reimen sei eben keine Pflicht.

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Die Uz-Strophe (15)

Der Reiz der Uz-Strophe ist auch, gerade und besonders, die Vielfalt in der Anwendung. Johann Adolph Schlegel, um wieder ein Beispiel zu geben, benutzt in seiner Nachdichtung des 136. Psalms Zehnzeiler aus vierhebigen Jamben, zwischen die jeweils eine strenge, gereimte Uz-Strophe tritt, einem Chor (!) zugeordnet, in der immer der gleiche Inhalt leicht abgeändert wiederholt wird. Ein kurzer Ausschnitt:

Du schufst, dem Tage vorzustehen,
Die Sonne, deren Licht erquickt,
Das sie aus ungeheuren Höhen
Zu uns in Augenblicken schickt.
Wer freut sich nicht, wenn ihre Strahlen
Die Welt mit Farben übermalen,
Bis der Regent der Nacht erscheint;
Bis sich ihr Licht im Monde spiegelt,
Durch den es wieder neubeflügelt
Mit unsern Schatten sich vereint?

Chor
Du schenkst der Erde das Licht. Nur dich, dich wollen wir lieben.
Ist nicht dich lieben die seligste Pflicht?
Auch wenn die Sonne verlischt und Mond und Sterne zerstieben,
Wankt doch die Liebe des Gütigen nicht.

Du hilfst. Ägypten hat’s erfahren,
Da du die Erstgeburten schlugst,
Und selber, mitten durch Gefahren,
Dein Volk auf deinen Händen trugst.
Dein Engel kömmt. Die Stolzen zagen.
Er kömmt. Mit Leichen und mit Klagen
Füllt er Ägyptens Häuser an.
Der, der dein Volk nicht lassen wollte,
Bat itzt, dass es doch eilen sollte.
Es eilt, und du ziehst selbst voran.

Chor
Dich, Gott, der Seufzenden Schutz, nur dich, dich wollen wir lieben.
Ist nicht dich lieben die seligste Pflicht?
Wenn schon zur Zeit der Gefahr kein Trost uns übrig geblieben,
So wankt die Güte des Retters doch nicht.

Ein Aufbau, an den ich mein Leben nicht gedacht hätte; und der, sobald man ihn gesehen hat, trotzdem sofort einleuchtet und vollkommen überzeugend wirkt.

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Die Uz-Strophe (14)

Wieder auf andere Art abgewandelt hat die Form Johann Ludwig Huber in „Noch ein grämliches Festungslied“ (Huber hatte seinen Herzog an einem Rechtsbruch gehindert und musste dafür ein halbes Jahr lang in „Festungshaft“). Sechs Verse:

Entreißen will ich mein Unglück und Leid dem sarkastischen Lächeln
Der Bosheit, die mit Tränen spielt.
Die Welt soll durch mein Herz und nicht durch mimische Künste
Mein Angesicht erheitert sehn!
Kein Schicksal wird leichter durch Tränen: sie wären sonst reichlich zu weinen,
Und schätzbarer als alles Gold.

Was fällt auf?

– Der Text baut sich nicht strophisch auf, sondern reiht Verspaare aus Sechs- und Vierhebern.

– Der „große Uz“ ist sehr frei gebaut: Die weibliche Zäsur ist häufig (V1, V5), mancher Halbvers hat gar keine doppelt besetzte Senkung (V3), mancher hat zwei (V1, V5).

– Der Vierheber ist durchgängig iambisch: ◡ —, ◡ —, ◡ —, ◡ —.

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Die Uz-Strophe (13)

Die im letzten Eintrag erwähnte „weibliche“ Zäsur gehört eigentlich nicht zur Uz-Strophe, sie ist da einen Ausnahme; andere Formen haben sie als feste zweite Möglichkeit neben der männlichen Zäsur (klar: beide hinter der dritten betonten Silbe!). Der erste, der das so gemacht hat, war Ewald von Kleist in seinem „Frühling“. Ein Ausschnitt:

Auf rosenfarb’nem Gewölk, bekränzt mit Tulpen und Lilien,
Sank jüngst der Frühling vom Himmel. Aus seinen Busen ergoss sich
Die Milch der Erden in Strömen. Schnell glitt von murmelnden Klippen
Der Schnee in Bergen herab; des Winters Gräber, die Flüsse,
Worin Felshügel von Eis mit hohlem Getöse sich stießen,
Empfingen ihn, blähten sich auf voll ungeduldiger Hoffnung,
Durchrissen nagend die Dämme, verschlangen fräßig das Ufer;
Wald, Feld und Wiese ward Meer. Kaum sahn die Wipfel der Weiden
Im Tal draus wankend herfür. Gefleckte Täucher und Enten
Verschwanden, schossen herauf, und irrten zwischen den Zweigen,
Wo sonst für Schmerzen der Liebe im Laub die Nachtigall seufzte.

Sieben „männliche“, vier „weibliche“ Einschnitte (V2, V3, V7, V11); insgesamt ist das Verhältnis eher 50:50. Nicht missverstehen: Das liest sich gut, aber was bei einem gereihten, auf Abwechslung angewiesenen Vers sinnvoll ist, muss in einer Strophe, die die Abwechslung ja auch, wenn nicht: vor allem über den Wechsel der längeren und kürzeren Verse erzeugt, nicht ebenso passend sein!

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Die Uz-Strophe (12)

Das folgende Beispiel zeigt wieder eine Abwandlung – der „große Uz“ wird in „An Themiren“ von Joachim Christian Blum nicht mit dem „kleinen
Uz“ verbunden, sondern mit einem Dreiheber dieser Form:

◡ —, ◡ ◡ —, ◡ ◡ —

Das ist, wenn man so will, der um den ersten Fuß verkürzte kleine Uz! Die ersten drei Strophen:

Auf irdischem Boden wird nicht, erhabne Themire! die reine,
Seraphische Liebe gepflegt:
Für höhere Geister allein reift in des Himmels Gefilden
Die süße nektarische Frucht.

Was also, was streben wir hier, zu diesem Staube der Schöpfung
Auf wenige Tage gesellt,
Mehr Masse, mehr Sinn als unabhängiges Denken, als Seele;
Was streben wir Götter zu sein?

So mancher vermessene Träumer aus Platons staubichten Hallen
Versuchte den luftigen Flug;
Vergebens! er stürzte, gerührt von e i n e m schmelzenden Strahle,
Noch tiefer als Ikar herab.

Eine andere, weniger augenfällige und doch wichtige Änderung ist hier die Zäsur im Langvers! Die lag in allen bisherigen Beispielversen unmittelbar hinter der dritten betonten Silbe; „An Themiren“ weicht in zwei Fällen davon ab.

So mancher vermessene Träumer aus Platons staubichten Hallen

◡ —, ◡ ◡ —, ◡ ◡ —, ◡ | ◡ —, ◡ —, ◡ ◡ —, ◡

Blum nutzt stark die Möglichkeit, noch andere als die dritte und sechste Senkung zweisilbig zu besetzen; ungewöhnlich ist es aber, die vierte Senkung so zu gestalten und dabei die Zäsur hinter die erste der beiden unbetonten Silben zu schieben! Das ist gelegentlich gemacht worden und greift die grundlegende Versmechanik nicht übermäßig an.

Mehr Masse, mehr Sinn als unabhängiges Denken, als Seele;

◡ —, ◡ ◡ — | ◡ —, ◡ —, ◡ ◡ —, ◡ ◡ —, ◡

In diesem Vers gibt es nur eine schwache Zäsur nach dem zweiten Fuß, das Gelenk des Verses, der Übergang vom dritten in den vierten Fuß, wird durch ein mehrsilbiges Wort „zugekleistert“! Das passt sicherlich wunderbar zum geschilderten „unabhängigen Denken“; aber es bringt den Vers auch fürchterlich aus dem Gleichgewicht. Ich denke also, das kann man machen, solange es nur selten geschieht; als Ausnahme.

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Die Uz-Strophe (11)

Bevor die nächsten Möglichkeiten des „Baukastens“ folgen, hier, zwecks Ver- und Absicherung, wieder eine streng gebaute „Grundstrophe“ – so wie von Uz erdacht und im Silbenbild im ersten Eintrag vorgeführt. Es ist die dritte Strophe von Karl Wilhelm Ramlers „Sehnsucht nach dem Winter“, die über eben diesen Winter sagt:

Er deckt den donnernden Strom mit diamantenem Schilde,
Der alle Pfeile der Sonne verhöhnt,
Und füllt mit Blüte den Wald, dass alle Tiere sich wundern,
Und säet Lilien über das Tal.

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Die Uz-Strophe (10)

Ganz am Anfang schrieb ich vom „Baukasten“, den die Uz-Strophe darstellt – man kann die einzelnen Verse auf viele Arten abwandeln und neu zusammenstellen. Hier ein weiteres Beispiel, die zweite Strophe aus Johann Friedrich Cronegks „Der Friede“:

Es kömmt des Himmels Geschenk, es kömmt der Friede vom Himmel;
Und lächelnd kommt mit ihm der Ceres fruchtbarer Sohn;
Die Freude flattert herab, die sonst vor dem wilden Getümmel
Der Waffen entflohn.

V1 ist ein strenggebauter großer Uz; V2 ist seine männlich-betont schließende Variante, die schon bei Zachariä und Kleist vorkam, wobei der erste Halbvers ganz ohne doppelt besetzte Senkung auskommt. V3 ist wieder ein großer Uz, diesmal hat allerdings die zweite Vershälfte statt einer zwei doppelt besetzte Senkungen. V4 schließlich ist derselbe Kurzvers, den Lange in seiner Strophe aus dem letzten Eintrag verwendet hat, sogar mit demselben Schlusswort („entfloh“ / „entflohn“)! Und zuletzt ist die Uz-Strophe hier einmal wieder gereimt worden.

Alles bekannte Bauteile also; aber wieder ein ganz eigener Ausdruck!

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Die Uz-Strophe (9)

Eigentlich ist der „große Uz“ der Grundvers der Strophe, die ihn bestimmende Größe; der „kleine Uz“ ist die Ergänzung. Aber selbstredend kann auch der kürzere Vers für sich bestehen, beziehungsweise Grundgröße einer Strophe sein! Die erste Strophe aus Samuel Gotthold Langes „Auf den König“ zeigt, was man aus dem Grundvers …

◡ —, ◡ —, ◡ ◡ —, ◡ ◡ —

… machen kann:

Mars führte neulich die tapfern Geschwader,
Ihm folgte Mordlust, Verwirrung und Lärm;
Pan wich, es wichen die flüchtigen Nymphen,
Und Ceres entfloh.

In V1 und V3 ist der kleine Uz um eine unbetonte Silbe verlängert, V3 ist der reine Grundvers, V4 seine Hälfte: statt zwei Jamben, gefolgt von zwei Anapästen hat er einen Jambus, dem ein Anapäst folgt!

Die Strophe kann, epigrammatisch verwendet, auch gut alleine stehen.