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Erzählformen: Das Reimpaar (24)

Der folgende, aus vier Reimpaaren bestehende und dabei recht hemdsärmlige Text stammt aus der Feder Wilhelm Buschs:

 

Ich saß vergnüglich bei dem Wein
Und schenkte eben wieder ein.
Auf einmal fuhr mir in die Zeh
Ein sonderbar pikantes Weh.
Ich schob mein Glas sogleich beiseit
Und hinkte in die Einsamkeit
Und wusste, was ich nicht gewusst:
Der Schmerz ist Herr und Sklavin ist die Lust.

 

Bemerkenswert ist er vor allem wegen der höchst eigenartigen Wirkung, die von dem Schlussvers ausgeht, der nicht wie die sieben Verse davor vierhebig ist, sondern fünfhebig! Jedenfalls, solange man keine dreisilbige Senkung lesen möchte:

Der Schmerz/  ist Herr / und Skla– / vin ist die Lust.

Auch das ginge?! Die drei Silben sind sehr leicht, man kann sie schnell lesen. Oder man lässt den Vers durch eine sehr deutlichen Sprechpause nach „Herr“ in einen Zwei- und einen Dreiheber zerfallen:

Der Schmerz / ist Herr, || und Skla– / vin ist / die Lust.

Wieder ein anderer Gedanke: Eine Sprechpause innerhalb der dreisilbigen Senkung!

Der Schmerz / ist Herr / und Skla– / vin – || ist die Lust.

Warum nicht – aber irgendwie verhalten muss man sich zu diesem Abweichler, und das macht aus einem nicht besonders beeindruckenden Gedicht immerhin noch eine echte Aufgabe in Bezug auf das Versverständnis und den Vortrag …

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Das Königreich von Sede (75)

Sommer ist es, Mittag ist es,
Und zum Tintenfässchen kommen
Viele Menschen, auszuruhen
Von der Arbeit auf den Feldern
Und zu essen und zu trinken.
Vor der Kneipe, in der Sonne
Sitzen sie und sitzt auch Schemel,
Sitzt der alte Narr des Königs,
Rülpst und nimmt zufrieden lächelnd
Seines Eintopfs letzte Reste
Auf den Löffel, isst sie, legt dann
Fort die Schüssel wie den Löffel,
Greift zur Laute, räuspert sich;
Und zu spielen und zu singen
Hebt er an, singt König Bodens
Sieben Nächte bei den Fröschen
,
Sich zur Freude und den andern.

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Erzählverse: Der Hexameter (112)

Wenn man immer mal wieder in Bücher schaut, die sich mit Versfragen beschäftigen, stößt man unweigerlich auch auf weniger gelungenes; vor allem, wenn solche Versfragen gar nicht der eigentliche Gegenstand des Buches sind.

So erging es mir eben mit Ignaz Jeitteles‘ „Ästhetischem Lexikon“, erschienen 1839 bei Mösle & Braumüller; den dortigen Eintrag zum Hexameter kann man in weiten Teilen getrost als Unsinn bezeichnen.

Aber einige sinnvolle Aussagen sind selbstverständlich trotzdem enthalten. Zwei Beispiele:

– Je verschiedener die Teile des Hexameters durch die Einschnitte werden, desto schöner ist die Gliederung.

– Mehr Feile verdient immer die zweite Hälfte des Verses, weil die Schlussbewegungen am meisten auf das Ohr wirken.

Das ist so, dagegen lässt sich rein gar nichts sagen. Als Beispielverse dienen die berühmten, den Hexameter erklärenden Hexameter von Johann Heinrich Voß, die in ihrem Bau die jeweils verhandelten guten und schlechten Eigenschaften getreulich abbilden:

 

Dass wir geregelten Klang mit dem Ohr abmessen und Fingern,
Gnüget nicht; sondern damit auch keinerlei Tugend ihm mangle,
Sei der Gesang vieltönig im wechselnden Tanz der Empfindung.
Wenig behagen dem Ohre die Verse mit gleichem Getrippel;

 

Wobei der vierte Vers fünf amphibrachische Wortfüße, also Sinneinheiten der Form „x X x“ enthält, was der Forderung nach „Vieltönigkeit“ gerade entgegengesetzt ist!

Wenig / behagen / dem Ohre / die Verse / mit gleichem / Getrippel;

– Wirklich  ein in seiner Bewegung sehr eintöniger und damit langweiliger Vers! Was im Vergleich mit den ersten drei Versen erst richtig deutlich wird, die auf Amphibrachen fast vollständig verzichten.

Und wer das damals aus diesem merkwürdigen Eintrag mitgenommen hat: der hat etwas Wichtiges gelernt. Immerhin!

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Die Bewegungsschule (45)

Schaut man sich Pentameter an in Hinblick auf die dritte Hebung, dann stellt man fest, sie ist in der weit überwiegenden Zahl der Fälle von einem einsilbigen Wort besetzt, meist einem Dingwort oder einem Zeitwort; je nach Verfasser und Text sind es zwischen 70% und 80% (und manche Texte liegen sogar noch darüber – Goethes „Alexis und Dora“ bringt es auf 84%!). Das verwundert nicht – neben dem „TAM“ sind alle anderen in Frage kommenden Wörter im Deutschen vergleichsweise selten: „ta TAM“ (ist die Hebung nicht einsilbig besetzt, dann so gut wie immer von der betonten Silbe eines so gebauten Worts) / „ta ta TAM“ / „TAM ta ta TAM“ …

Einen näheren Blick sind dabei die Wörter der Form „TAM ta TAM“ wert. So jedenfalls kommen sie bei den Verfassern vor, die die Senkungen entweder mit einer oder zwei unbetonten Silben besetzen – die eher am antiken Vers sich ausrichtenden Verfasser ersetzten dagegen die zwei leichten Silben durch eine schwere Silbe, wodurch man beim „TAM TAM TAM“ landet. Und das ist, verglichen mit dem üblichen Einsilber an dieser Stelle, der besagten dritten Hebung: ein himmelweiter Unterschied in der Wirkung, sowohl bezogen auf die Bewegung als auch bezogen auf den Klang!

 

Dreh in der Mondscheinsnacht ihren gesonderten Tanz!

 

– Ein Pentameter von August von Platen, der auf die erwähnte Weise gebaut ist:

Dreh in der / Mondscheins- / nacht || ihren ge- / sonderten / Tanz!

TAM ta ta / TAM TAM / TAM || TAM ta ta / TAM ta ta / TAM

Noch stärker tritt die Wirkung eines solchen „TAM TAM TAM“ hervor, wenn der Satzeinschnitt nicht mit dem Verseinschnitt zusammenfällt. Wieder Platen:

 

Starbst du, des Unglücksstamms letzter, ein Dichter und Held!

 

Der Verseinschnitt liegt hinter „-stamms“, die Satzeinschnitte aber nach „du“ und nach „letzter“:

Starbst du, des / Unglücks- stamms || letzter, ein / Dichter und / Held!

– Und das klingt dann ganz anders als der durchschnittliche Pentameter! Für diese Wirkung genügt schon ein einzelner Satzeinschnitt:

 

Welcher an Gastfreundschaft glaubte, zu töten gewagt!

 

– Auch dieser Vers stammt von Platen. Aus den drei Beispielen mitnehmen für das eigene Schaffen kann man sicher dieses: Soll ein Pentameter anders klingen als sonst üblich, ungewöhnlich; dann empfiehlt es sich, die dritte Hebung mit einer Silbe zu besetzen, die zu einem drei- oder viersilbigen Wort gehört. Besonders stark ist die Wirkung, wenn es sich um ein Wort der Form „TAM TAM TAM“ handelt; und treten dann noch Satz- und Verseinschnitt auseinander, ist von der üblichen Pentameterbewegung kaum noch etwas vernehmbar!

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Pfadfinder (7)

6 – Knochenschwund

Dringlichkeitssitzung

In Sotzens Werkstatt sitzen an dem Klapptisch
Sich gegenüber: Sotz und Heinrich, stumm,
Und zwischen ihnen liegt der Wabbelfrosch,
Den sehen sie mit müden Augen an
Und wissen doch, was immer sie versuchen!
Nicht im geringsten, was geschehen ist.
Da öffnet sich die Tür. Herein kommt Liese,
Ein Radio in der Hand, das leise brabbelt.
„Die Herren sind zurück – und fragen sich,
Was mit den Knochen meines Froschs geschah!“
„Woher …“, beginnt der Doktor, aber Liese
Hebt nur das Radio; und stellt es lauter.

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Die Bewegungsschule (44)

In der Wiege und im Sarg ist niemand ein großer Mann.

 

Das ist kein Vers; es ist auch kein Aphorismus. Es ist ein ganz gewöhnlicher Satz aus einem Text, den Rudolf Alexander Schröder anlässlich Friedrich Hölderlins 100. Todestag geschrieben hat, also 1943, und der in seinen „Gesammelten Werken in fünf Bänden“ (erschienen 1952 bei Suhrkamp) zu finden ist: im zweiten Band auf Seite 702.

Im Zusammenhang wirkt dieser Satz nicht sonderlich auffällig – der Text beginnt so:

Es ist eine eigentümliche Sitte, die uns den Geburtstag oder den Todestag großer Männer feiern lässt. In der Wiege und im Sarg ist niemand ein großer Mann. Aber da Seelengröße und die aus ihr geborene Leistung inkalkulable Faktoren sind und man in keinem gelebten Leben den Punkt bestimmen kann, auf dem sie am strahlendsten oder am entscheidensten hervortreten, so ist es wenigstens eine leidliche Auskunft, wenn man sich an die Grenzdaten eines für die Nation oder für die Welt wichtigen Lebens hält, um seiner feiernd zu gedenken.

Aber wer sich ein Ohr hat wachsen lassen für die  die Bewegungslinien der Sprache, dem fällt der Satz auch „im Gedränge“ auf:

In der Wiege / und im Sarg / ist niemand / ein großer Mann.

ta ta TAM ta / ta ta TAM / ta TAM ta / ta TAM ta TAM

Nach Sinneinheiten, sprich: Wortfüßen abgeteilt zeigt sich, der Satz bewegt sich recht anziehend! Er hat vier ähnliche, aber nicht gleiche Wortfüße, was den beiden Grundgrößen der gestalteten Sprache entspricht, Wiederholung und Abwandlung. Auch lautlich wirkt der Satz geschlossen. Alles in allem also doch eine Art Vers?!

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Bücher zum Vers (80)

Klaus Weissenberger: Formen der Elegie von Goethe bis Celan

Erschienen 1969 bei Franke ist dieser Band – wie schon Friedrich Beissners Geschichte der Elegie – sehr lesenswert. Ganz gleich, ob es um „die Struktur des Distichons“ geht oder um Goethes „Euphrosyne“, ob abhand von Hölderlins „Archipelagus“ die Hexameter-Elegie verhandelt wird oder am Beispiel von Rilkes „achter Duineser Elegie“ die Blankvers-Elegie vorgestellt: Immer gibt es etwas Nachdenkenswertes zu erfahren, auch wenn die einzelnen Abschnitte oft nur wenige Seiten lang sind. Auch und gerade die zahlreichen Beispiele für „Elegien in freien Rhythmen“ – von Mörike, George, Trakl, Stadler, Werfel, Benn, Rilke, Krolow, Bachmann, Sachs, Celan – lassen den Begriff „Elegie“ in einem sehr umfassenden Sinn verständlich werden! Manchmal behauptet Weissenberger metrisch gesehen eigenartige Dinge, aber nicht oft; und es tut der Wirkung seines Buches auch keinen Abbruch.

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Erzählverse: Der trochäische Vierheber (46)

Wie in (45), so auch diesmal: Ein Beispiel für „Wie man aus nichts etwas macht“. August Kopisch wählt als Gegenstand Amor und als Vorgehensweise einmal den Gegensatz, einmal die Reihung; und schon schnurrt das Gedicht los und auf sein Ende zu, nur kurz abgebremst durch eine Frage, die verhindert, dass ein zu eintönigiger Eindruck entsteht; und unaufdringlich gestaltet und geformt vom reimlosen trochäischen Vierheber.

 

An Amor

Amor, sag, wie bist du Knabe
Anders stets und doch derselbe,
Traurig heut und morgen fröhlich,
Sinnend ernst, dann leicht hinflatternd,
Erst unleidlich, dann behaglich,
Bald vertraut, bald wieder fremde,
Neckend und dann sanft und schmachtend,
Stark und wieder ganz ermattet,
Lautaufjauchzend, tot und düster,
Dumm und klug, und falsch und ehrlich –
Bist du Alles denn und Jedes,
Wunderbarer, lieblicher Knabe?
Ach, du lächelst, Schöner, Holder,
Während aus den Augen Tränen
Süßer Schmerzen niederfallen!

 

Wer mag, versuche derlei selber – aus einem kleinen Gedanken-Keim auf diese Weise ein ganzes Gedicht aufwachsen zu lassen, ist vergnügliches Tun; und wer immer mal wieder Verwendung für ein schnellgemachtes und doch vorzeigbares Gelegenheitsgedicht hat, kann auf diese Weise leicht zu einem solchen kommen.