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Erzählverse: Der Hexameter (101)

Im Hinterzimmer des Verserzählers hat sich ein weiterer Hexameter-Text eingefunden: Der bezauberte Teufel von Johann Heinrich Voß, eine „orientalische Idylle“. Hat die klassische, antik geprägte Idylle eher Hirten, Faune und Nymphen zum Personal, treten hier zwei Teufel auf, Lurian und Puhx, wobei Lurian Puhx aus einer misslichen Lage rettet und dabei mit Speis‘ und Trank versorgt:

 

Gut! – Da koste das Stück von der Klapperschlange mit Schierling
Und die gebratene Kröte mit einer Tunke aus Asa.
Sieh, wie der Teufel schmackt, und die rauen Ohren beweget!
Und wie die Nas ihm schnaubt, und der Saft aus dem Maule herausläuft!

 

Was man als Teufel eben so zu sich nimmt … (Asa meint Asant, auch Stinkasant oder Teufelsdreck: eine im Irak, in Afghanistan und in Pakistan heimische Pflanze.) Vom Versbau her sind die Verse, wie man sie von Voß erwartet: Antikisierend. Das heißt aber nicht, dass sie ohne Reiz sind – im Gegenteil! Manches klingt heute nicht mehr recht brauchbar, aber andere Verse, wie zum Beispiel die vier angeführten, wirken durch ihre Lebendigkeit und Anschaulichkeit, die sich beide eben auch in der Versbewegung ausdrücken.

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Erzählverse: Der Blankvers (60)

In Gerhart Hauptmanns 1996 bei Propyläen (wieder) erschienenen „gesammelten Werken“  findet sich im vierten Band, „Lyrik und Versepik“, auf Seite 157 der kurze Blankvers-Text „Hylas“:

 

Hylas der Hirte wartet seiner Schafe
im süßen Honigdufte des Hymettos.
Des Hirtenstabes Biegung stützt die Achsel
des schönen Knaben, der in Fernen sinnend
steht, zwischen seinen Fingern eine Wabe,
an der er schlürft. Ist es Apollens Liebling,
einsam verloren in dem Licht des Gottes
und selbst zum Gott erhöht durch seine Liebe?

 

– Keine wirklich ruhigen Verse, auch wenn ein stiller Augenblick gezeigt wird. Zum Ende hin wird die Sprache etwas schlichter, verglichen etwa mit dem Genitiv des ersten Verses; vielleicht liegt es daran, wenn der Text insgesamt einen runden, ausgewogenen Eindruck macht?

Ein schönes Beispiel jedenfalls, wie der Blankvers auch auf eher kleinem Raum wirken kann.

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Das Königreich von Sede (69)

Träumenden Blicks, den Kopf auf die Hände gestützt – vom Nordturm
Schaut zu den letzten Bergen hinüber: Schemel, und seufzt nun.
Viele Jahre ist’s her; wie lange stand er schon nicht mehr
Schweigend, und lächelnd! am Rande der Welt.

Schemel im Schoß: die Laute. Sie harrt geduldig des Narren
Sangeskundigen Sinns und der saitenbewegenden Hände.
Heute vielleicht, dass er aufspielt, einsam, den einsamen Himmeln?
Heute vielleicht; doch er weilt noch beim Nichts.

Schließlich reißt ihn zurück aus erinnerungsschwerer Entfernung
Hin zum Schloss, in den Hof, an den Brunnen: verwundertes Quaken
Und ein verärgerter Schrei – die Magd, die den Eimer gefüllt hat,
Sieht den vom Wasser geborgenen Frosch!

Wütend schwingt sie den Eimer, den Plagegeist zu entfernen,
Wasser wirft sich heraus, und es tritt in den Hof aus dem Westturm:
Pritsche, vom Lärm gelockt, und tritt in des wütenden Wassers
Bahn, das ihn trifft; und zur Gänze durchnässt.

Lautes Gelächter – die Knechte, die Wachen auf Turm und Umgang,
Selbst der König, ans Fenster geholt von dem Lärmen im Hofrund,
Lachen, ins Lachen gemischt die wüsten Verwünschungen Pritsches,
Mägdliches Jammern, der Hunde Gebell:

Schemel ergreift die Laute, zur unbeschreiblichen Tonflut
Fügt er Töne hinzu, und die liedererfahrene Stimme
Schließt dem Getümmel sich an, von der Laute treulich begleitet,
Tritt ins Getümmel hinein; und ist fort.

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Bücher zum Vers (72)

Brigitte und Dietrich Mannsberger: Homer verstehen

Die Ilias und die Odyssee sind nicht nur an sich wichtige Texte; sie sind auch, zum Beispiel! unabdingbar, will man verstehen, warum der deutsche Hexameter sich so darstellt, wie er sich darstellt, denn er hat sich geformt auch an dem Wunsch und dem Versuch, die Epen Homers im ursprünglichen Versmaß ins Deutsche zu bringen.

„Homer verstehen“, 200 Seiten stark und 2006 in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (Darmstadt) erschienen, enthält dementsprechend auch einige Seiten zum Hexameter. Die drei großen Abschnitte sind aber „Das Epos als Ganzes“, „Dichterische Kunst- und Stilmittel“, „Dichtung und Wirklichkeit“. Für den selber Schreibenden ist der mittlere wahrscheinlich der ergiebigste; aber das ganze Buch ist eine gut lesbare, unterhaltsame Hinführung zu Homer, die auf eigentlich knappem Raum eine erstaunliche Menge an Wissen vermittelt. Eine lohnende Lektüre!

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Erzählverse: Der Knittel (15)

Von Theodor Storm stammt „Schneewittchen. Eine Märchen-Szene“. Darin wird die bekannte Geschichte erzählt; ich kann also einfach mittendrin einen kurzen Abschnitt rausnehmen und hier vorstellen:

 

Zwergenältester
Schneeweißchen, Königstöchterlein,
Wo ließest du die Pagen dein,
Wo ließest du die Wagen und Rosse,
Wie kamst du von des Königs Schlosse?

Schneewittchen
Ach, ich bin kommen arm und bloß!
Mütterlein schläft in Grabes Schoß;
Der König freite die zweite Frau,
Die schlug mich oft und schalt mich rau;
Schickte mich dann mit dem Jäger zu Walde,
Sollte mich töten auf Berges Halde,
Und der Königin als Zeichen
Sollt’ er mein blutend Herze reichen;
Doch ich bat ihn so lange, so lang‘ auf den Knien –
Da schoss er den Eber, und ließ mich fliehn.

 

Schneewittchen redet dabei die wesentlich unordentlicheren Vierheber?! Die des Zwegenältesten gingen auch als iambische Reimpaare durch; ihre kann man nicht anders wahrnehmen denn als Knittel. Bis zum Schluss hat sich die „Vierhebigkeit“ auch schon festgesetzt im Hörerohr, und so vernimmt er

Und der nigin als Zeichen

und

Doch ich bat ihn so lange, so lang auf den Knien

jeweils als Vierheber, den acht- und den zwölfsilbigen Vers; obwohl beide in anderer Umgebung auch anders aufgefasst werden könnten?!

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Erzählverse: Der Blankvers (59)

In „Der Engel am Grabe des Herrn“ kann Heinrich von Kleist seine ganze Aufmerksamkeit der formalen Ausgestaltung des Textes widmen, den Blankversen: denn der Inhalt ist eine reine Nacherzählung?!

 

Als still und kalt mit sieben Todeswunden
Der Herr in seinem Grabe lag; das Grab,
Als sollt‘ es zehn lebend’ge Riesen fesseln,
In eine Felskluft schmetternd eingehauen:
Gewälzet mit der Männer Kraft, verschloss
Ein Sandstein, der Bestechung taub, die Türe;
Rings war des Landvogts Siegel aufgedrückt:
Es hätte der Gedanke selber nicht
Der Höhle unbemerkt entschlüpfen können;
Und gleichwohl noch, als ob zu fürchten sei,
Es könn‘ auch der Granitblock sich bekehren,
Ging eine Schar von Hütern auf und ab
Und starrte nach des Siegels Bildern hin.
Da kamen bei des Morgens Strahl,
Des ew’gen Glaubens voll, die drei Marien her,
Zu sehn, ob Jesus noch darinnen sei;
Denn er, versprochen hatt‘ er ihnen,
Er werd‘ am dritten Tage auferstehn.
Da nun die Fraun, die gläubigen, sich nahten
Der Grabeshöhle: was erblickten sie?
Die Hüter, die das Grab bewachen sollten,
Gestürzt, das Angesicht in Staub,
Wie Tote um den Felsen lagen sie;
Der Stein war weit hinweggewälzt vom Eingang;
Und auf dem Rande saß, das Flügelpaar noch regend,
Ein Engel, wie der Blitz erscheint,
Und sein Gewand so weiß wie junger Schnee.
Da stürzten sie, wie Leichen, selbst getroffen
Zu Boden hin und fühlten sich wie Staub
Und meinten gleich im Glanze zu vergehn;
Doch er, er sprach, der Cherub: „Fürchtet nicht!
Ihr suchet Jesum, den Gekreuzigten –
Der aber ist nicht hier, er ist erstanden;
Kommt her und schaut die öde Stätte an!“
Und fuhr, als sie mit hocherhobnen Händen
Sprachlos die Grabesstätte leer erschaut,
In seiner hehren Milde also fort:
„Geht hin, ihr Fraun, und kündigt es nunmehr
Den Jüngern an, die er sich auserkoren,
Dass sie es allen Erdenvölkern lehren
Und tun also, wie er getan!“ – und schwand.

 

– Und da klingt der Test dann auch „kleistisch“; vor allem der Anfang, meinen Ohren nach, der aufeinanderhäuft und weiter häuft und schließlich doch die Spannung löst. Beachtlich die in der Textmitte eingestreuten Vierheber; und auch zwei Sechsheber sind dabei!

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Erzählformen: Das Madrigal (18)

Barthold Heinrich Brockes‘ bald 300 Jahre alte Gedichtsammlung „Irdisches Vergnügen in Gott“ in die Hand zu nehmen, lohnt durchaus. Nicht jedes Gedicht ist heute noch zumutbar, aber insgesamt ist in den Texten ein ganz eigener Ton zu finden, der sie sehr anziehend macht. Der Anfang von „Der Goldkäfer“:

 

Der Monat Junius beblümte Feld und Auen,
Als ich, die Wunderpracht der Blumen zu beschauen,
Im Garten ging. Mein ält’ster Sohn lief mit;
Sein reger Fuß hüpft‘ immer hin und her,
Mit fröhlichem, fast nimmer stillem Schritt.
Als er nun ungefähr
Ein güld’nes Käferchen auf einer Rose fand;
Ergriff er es mit seiner kleinen Hand,
Und kam darauf, in vollen Sprüngen,
Mir den gefund’nen Schatz zu bringen.
Ich lobte seinen Fund, und nahm ihn lächelnd hin,
Betrachtete, mit fast erschrock’nem Sinn,
Die Schönheit, Farben und Figur,
Mit welcher ihn die bildende Natur
Begabt und ausgeziert.
Durchs Auge ward mein Herz gerührt,
Als ich, mit höchster Lust, erblickte,
Wie ihm Smaragd und Gold den glatten Rücken schmückte;
Und ich bewunderte sein wandelbares Grün,
Das bald wie Gold, bald wie Rubin,
Und bald aufs neu Smaragden, schien,
Nachdem der Fürst des Lichts auf seine Teilchen strahlte,
Und die verschied’ne Fläche malte.

 

Das Anschauen der Welt um ihn herum, die Wahrnehmung ihrer Schönheit und Besonderheit, immer (noch) hingedacht auf Gott: darum geht es Brockes. Manchmal dreht er die Geschichte auch um, wie in „Hans und Mops“, das allerdings kein wirkliches Madrigal ist (nur ein Vierheber hat sich bei den Alexandrinern eingeschlichen – da fragt man sich, ob „dehnte alle vier“ einer dieser Dichterscherze ist -, und auch die Reime ordnen sich schnell: ab dem vierten Vers sind es ausschließlich Paarreime).

 

Hans stund des Morgens auf, und Mops, sein Hund, zugleich:
Hans zog die Kleider an, reckt‘ seinen Arm, und gähnte;
Mops reckte, schüttelt‘ sich, und dehnte
Nicht minder alle vier‘: Geback’nen weißen Teig
Aß Hans; da Mops nur bloß vom schwarzen Brote fraß.
Mops trank das Wasser roh, und Hans gekochtes Nass.
Hans ging darauf ins Feld; Mops gleichfalls. Hans beschritte
Ein Pferd; Mops aber nicht: Er lief, und jener ritte,
Bis dass der Mittag sie nach Hause wieder rief.
Hans aß; Mops ebenfalls. Wie Hans ein wenig schlief,
Schlief Mops nicht weniger. Das schöne Sonnenlicht
Ward nicht von Hans beschaut, von Mops imgleichen nicht.
Dass in der Frühlingszeit die Kreatur so schön,
Hat weder Hans noch Mops bemerkt und angesehn.
Sie machten sich daraus nicht die geringste Freude.
Durch wenig viel gesagt: Sie schlief- und wachten beide;
Sie tranken beide Nass; Sie aßen beide Brot;
Es lebten Hans und Mops; Jetzt sind sie beide tot.

 

Ich weiß nicht … Mir gefällt es. Wer mag, sollte beide Texte einmal laut lesen! „Sie machten sich daraus nicht die geringste Freude“ – das muss für Verse erst recht nicht gelten, und Freude machen sie zuerst und vor allem: gehört.

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Bücher zum Vers (71)

Lothar Schwab: Vom Sünder zum Schelmen. Goethes Bearbeitung des Reineke Fuchs.

Erschienen 1971 im Athenäum Verlag, vergleicht dieser Band Goethes Hexameter-Fassung des Stoffes mit der Reimvers-Fassung seiner niederdeutschen Vorlage. Das ist sehr lesenswert! Was die niederdeutsche Fassung wollte, und mit welchen Mitteln sie es erreicht hat; und was Goethe wollte, und wie er es erreicht hat, ohne am Stoff, am Erzählten mehr als unwesentliche Änderungen vorzunehmen – das im einzelnen vorgeführt zu bekommen, ist sehr lehrreich.  Und manchmal auch sehr in die Einzelheiten gehend, so etwa auf S. 122 bei der Besprechung des Anfangs:

 

06 Nobel, der König, versammelt den Hof; und seine Vasallen
07 Eilen gerufen herbei mit großem Gepränge; da kommen
08 Viele stolze Gesellen von allen Seiten und Enden,
09 Lütke, der Kranich, und Markart, der Häher, und alle die Besten.
10 Denn der König gedenkt mit allen seinen Baronen
11 Hof zu halten in Feier und Pracht; er lässt sie berufen
12 Alle miteinander, so gut die Großen als Kleinen.
13 Niemand sollte fehlen! und dennoch fehlte der Eine,
14 Reineke Fuchs, der Schelm! der viel begangenen Frevels
15 Halben des Hofs sich enthielt. So scheuet das böse Gewissen
16 Licht und Tag, es scheute der Fuchs die versammelten Herren.
17 Alle hatten zu klagen, er hatte sie alle beleidigt,
18 Und nur Grimbart, den Dachs, den Sohn des Bruders, verschont‘ er.

 

Zum farbig gekennzeichneten Satz schreibt Schwab:

„Hier stimmen die Bewegungen der Versform mit dem gestischen Gehalt des Textes völlig überein. Mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln deutet der Erzähler auf den Fuchs: Nicht nur, dass sich im Wortlaut die Namen häufen, mit denen er – gleich am Anfang des Epos – den Feind der Ordnung einkreist (‚der Eine‘, ‚Reineke Fuchs‘, ‚Schelm‘), sondern auch die Wiederholungen des schneidend-hellen Diphthongs -ei- kurz hintereinander, und zwar an so exponierten Stellen wie am Versende und am Anfang des folgenden Verses (‚Eine‘, ‚Reineke‘), verstärkt musikalisch den Gestus des Hindeutens. Diesem Zweck dient auch die Anordnung der einsilbigen Senkung ‚der‘ in Vers 14,  die das wieder auflebende daktylische Fließen noch einmal staut, das schließlich in der männlichen Zäsur (Penthemimeres) hinter ‚Schelm‘ für einen Augenblick zum Stillstand kommt, eben genau an der Stelle, an welcher die den Fuchs am genauesten charakterisierende Bezeichnung gefallen ist.

In den folgenden Hexametern bis zum Absatz nach Vers 18 häufen sich wieder die Daktylen. Liest man die ersten 18 Verse im Zusammenhang, so ist leicht zu bemerken, wie sich das rhythmische Gefüge um ein Zentrum ordnet, das etwa mit dem Vers 12 beginnt und bis in die Mitte von Vers 14 reicht. In diesem Textteil häufen sich die einsilbigen Senkungen, als ob der Erzähler auf jedes Wort, auf jede Silbe gesteigerten Wert lege; denn er gibt in diesem Teil einen Vorblick auf den Charakter der Hauptfigur und zugleich auf die Brisanz des ganzen Stoffes.“

– Je weiter man in die Einzelheiten geht, desto größer die Wahrscheinlichkeit, das man irgendwo danebenliegt; aber dessen ungeachtet zeigt der Abschnitt sehr schön, wie über den Aufbau solcher verserzählenden Texte nachgedacht werden kann?!