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Erzählverse: Der Blankvers (57)

Paul de Lagarde war ein streitbarer und umstrittener Mensch, von durchaus fragwürdigen Ansichten; als Lieblingsschüler Friedrich Rückerts war er „von Haus aus“ Orientalist. Seine folgenden Verse sind „Essener“ überschrieben, eine auf ihre eigen Art umstrittene Gruppe innerhalb des antiken Judentums; und eine eigenartige, fremde Stimmung liegt dann auch über de Lagardes Versen, die nicht ohne Reiz sind!

 

Ein Meer von Sonnenglut der rote Sand:
Das Licht so licht, dass es als Schleier sich
Um Palmen, Felsen, Berge, Himmel windet:
Kein lebend‘ Wesen in dem Feuerdunst,
Kein Vogel drüber, keines Lüftchens Hauch:
Geschmolznes Erz der ganze weite Raum.
Wie muss es aussehn in der Gotteswelt,
Wenn dorthinein sich Menschenherzen wagen,
Nur um von ihren Brüdern frei zu sein.
Von Hellas‘ Tempeln und aus Roms Palästen,
Aus Seleucias stolzen Kuppelbauten
Und von des Nils gesegneten Gefilden
Flieht alles Beste in der Wüste Schutz,
Die gar nichts bietet, was das Herz erfreut,
Die nur nichts hegt, was Herzen wehe tut.
Und wenn des heißen Tages warme Asche
Als Nacht sich um den glühenden Boden legt,
Dann wird am Quell, der wen’ge Schritte weit
Einsame Palmen und Mimosen tränkt,
Der Menschen Stimme wach: Ein heil’ger Chor
Dankt für die Einsamkeit dem guten Gott,
Der seine Blumen, seine Freuden alle
Den Schlechten schuf, doch seinen Kinder hier
Ein ruhig‘ Plätzchen ließ, ihm treu zu sein.
Hyänen und Schakale schweigen still,
Wann ihre Gäste den fernen Vater loben.
Endloser Zug zielsichrer Wandervögel
Kreist lichtbeschwingt der Sterne stille Schar,
Und Nacht für Nacht blickt hinter sie das Herz
Der Flüchtlinge, die nach der Heimat suchen.
Wer zählt die Tage, wer die Nächte hier?
Sie flohen die Zeit und wollten ewig leben
Und wissen schon nicht mehr, was Sterben heißt:
Sie löschen aus wie Vogellied im Wald.
Und wenn der Abend eine Leiche sah
Von welken Händen in den Sand verscharren,
So stehn am Morgen neue Brüder schon,
Den leeren Platz zu füllen, vor der Zelle.

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Erzählformen: Das Reimpaar (19)

Ein einzelnes Reimpaar aus iambischen Vierhebern ist ein vergleichsweise kleiner Raum – selbst bei „weiblichem“ Reim umfasst er gerade einmal achtzehn Silben. Aber wenn ein Haiku, siebzehnsilbig, wenn es silbenreich im 5-7-5 daherkommt, oder ein Hexameter, der in seiner längsten Ausgestaltung gleichfalls auf siebzehn Silben kommt; wenn diese beiden Formen einem vollständigen Gedicht zugrunde liegen können, dann kann es ein Reimpaar selbstverständlich auch!

 

Frühlingstrost

Was zagst du, Herz, in solchen Tagen,
Wo selbst die Dornen Rosen tragen?

 

– Das findet sich als sechstes unter Ludwig Uhlands „Frühlingsliedern“. Und ist ein gutes Beispiel für die Geschlossenheit, die ein Gleichklang immer hervorruft.

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Bücher zum Vers (69)

Werner Jung: Kleine Geschichte der Poetik

Kein unmittelbar auf den Vers bezogenes Buch; aber da Verse nicht vom Himmel fallen, sondern unter bestimmten Bedingungen entstehen, doch ein weniger fernliegender Gegenstand, als vermutet werden könnte!

„Poetik muss von Beginn an, einsetzend mit der griechischen Antike, als das Nachdenken über die literarische Kunst, als Reflexion des Werks und seiner Wirkung und Selbstreflexion des Künstlers angesehen werden.“

So schreibt Jung in seiner Einleitung, und versteht man Poetik derart, dann lässt sich gegen eine Beschäftigung mit ihr, auch eine geschichtliche, nichts sagen, viel aber dafür; und will man dabei einen ersten Überblick gewinnen, taugt Jungs knapp über zweihundert Seiten starker Band durchaus – angefangen bei besagter Antike, also Aristoteles, geht die Reise über das Mittelalter, die Renaissance, das Barock, die Aufklärung, die Goethezeit, Vormärz, Biedermeier und Naturalismus bis hin in unsere Tage und zu der Frage, wie die denn mit dem Verlust nahezu aller Normen umgehen und klarkommen.

Erschienen 1997 bei Junius.

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Erzählverse: Der Hexameter (95)

Wenn man im Netz unterwegs ist, landet man oft an seltsamen Orten … Eben war ich auf der Suche nach „Andromeda“, einer englischsprachigen Hexameter-Dichtung von Charles Kingsley (lesenswert, ich schreibe demnächst was darüber); gelandet bin ich bei einem Artikel einer neuseeländischen Zeitung aus dem Jahre 1912, der sich mit der Frage beschäftigt, wieviele und welche Hexameter in der Bibel zu finden sind! Wer mag: PapersPast / Dominion.

Aber gut; die Frage hat sich auch im deutschen Sprachraum schon gestellt. Wer in die Bibel schaut, wird finden; und wahrscheinlich wesentlich mehr als der englischsprachige Suchende. Schon aufgrund der Menge der Übersetzungen …

In den Psalmen, die im obigen Artikel besonders ergiebig scheinen, ist der erste in Frage kommende Vers,  der elfte des zweiten Psalms, in der Luther-Bibel von 1912 noch kein Hexameter; in der von 1984 dann aber doch!

 

Dienet dem Herrn mit Furcht und küsst seine Füße mit Zittern

 

Da kann man nichts gegen sagen:

Dienet dem / Herrn mit / Furcht || und / küsst seine / ße mit / Zittern

– Erheiternderweise ist der Vers auch bei der „Konkurrenz“, sprich, in der katholischen Einheitsübersetzung, ein Hexameter; nicht gleich, aber ähnlich:

 

Dient dem Herrn in Furcht und küsst ihm mit Beben die Füße

 

Auch hier sind die Hexameter-Vorgaben erfüllt:

Dient dem / Herrn in / Furcht || und / küsst ihm mit / Beben die / ße

– Aber der Vers bewegt sich dann doch um einiges schlechter als der luther-biblische, bei dem die Aufteilung in Wortfüße, sprich hörbare Sinneinheiten, viel abwechslungsreicher und lebendiger ist!

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Das Königreich von Sede (66)

Schemel sieht die Wellen ziehen,
Schwarz die erste, schwarz die zweite;
Schemel sitzt, vom Schlaf verlassen,
Nachts am Graben und erwartet
Voll Geduld der Sonne Ankunft.
Dunkel wälzt, voll Finsternissen,
Sich die nächste Welle über,
Alle Schwärze an sich bindend,
Alle Schwärze mit sich nehmend,
Fort von hier, in andre Nächte;
In den Himmel, den geleerten,
Den von Finsternis befreiten,
Tropft der Dämmrung erstes Licht.

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Erzählverse: Der trochäische Vierheber (40)

Paul Heyses Fähigkeit, sich in allem Versmaßen sicher bewegen zu können (wenn die Ergebnisse auch nie wirklich berauschend waren), kam ihm beim Abfassen seiner „Reisebriefe“ zugute: Er konnte frei wählen. Den an Joseph Victor von Scheffel gerichteten Reisebrief verfasste er in gereihten und ungereimten trochäischen Vierhebern, also genau dem Maß, in dem Scheffels berühmter und im Brief angesprochener „Trompeter“, der vom Verserzähler unter (21) vorgestellt wurde, geschrieben ist! Der Anfang:

 

Lieber alter Freund, gedenkst du
Unsrer Sorrentiner Tage,
Da wir in der Rosa magra,
Jener billigen, bescheidnen
Künstlerherberg‘ alten Stiles,
Traulich hausten Tür an Tür?
Du, von Capri erst gelandet,
Da wir kaum in rotem Landwein
Uns den Willkomm zugetrunken,
Gabst des Säckinger Trompeters
Erst‘ Kapitel mir zum besten,
Frischgedichtet in Paganos
Palmenschatten; ich dagegen
Ließ dich sehn die Arrabbiata,
Kaum noch von der Tinte trocken.
(Lest Ihr eine Predigt? fragt‘ uns
Die Luisa, die von anderm
Mündlich feierlichem Vortrag,
Von Gedichten und Novellen
Nie ein Sterbenswort gehört.
Und wir lachten.) …

 

– Das epische Gedicht wie die Novelle, beide entstanden 1853. Und ich fürchte, neben deren mündlichem Vortrag ist auch der einer Predigt heute nicht mehr wirklich vielen Menschen im Ohr … Heyses Verse, jedenfalls, sind ganz nah an der Prosa. Immer noch Verse, sicherlich; aber sicher auch des „feierlichen Vortrags“ bedürftig, um als Verse wirklich zur Wirkung kommen zu können?!

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Ohne Titel

Als Dr. Sotz den Park betritt,
Verlangsamt er und hält den Schritt,
Und steht – er spürt ein Wollen

In Weg und Bank, in Wind und Licht,
In Sein und Zeit, aus Allem spricht
Der Wunsch: die Dinge sollen

Sich ändern! Komm, Veränderung!
Sotz nickt vergnügt und schlendert
Den Weg hinab, und Alles
Verändert sich: Die Welt ist jung.

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Erzählverse: Der Hexameter (94)

Vielleicht ist es sinnvoll und lohnend, den Voß-Versen aus (93) einige Verse von Goethe gegenüberzustellen? Gleich am Anfang von „Hermann und Dorothea“, als die Wirtsfrau ihrem Mann von ihrer Kleiderspende für die Flüchtlinge erzählt:

 

„Denn ich hörte von Kindern und Alten, die nackend dahergehn.
Wirst du mir aber verzeihn? denn auch dein Schrank ist geplündert.
Und besonders den Schlafrock mit indianischen Blumen,
Von dem feinsten Kattun, mit feinem Flanelle gefüttert,
Gab ich hin; er ist dünn und alt und ganz aus der Mode.“

 

Wer mag, kann sich ja für die inneren drei Verse die Sinneinheiten selbst überlegen; ich denke, er wird finden, sie sind deutlich weniger klar ausgeprägt als bei Voß. Spannend finde ich aber vor allem den Blick auf den ersten und auf den fünften Vers!

Denn / ich hörte / von Kindern / und Alten, / die nackend / dahergehn.
— / v — v / v — v / v — v / v — v / v — —

– So ein Vers wäre Voß nie in den Sinn gekommen: Viermal dieselbe Sinn- und Bewegungseinheit hintereinander weg (fünfmal sogar, wenn man den Schluss unachtsam spricht!), und dann auch noch die „leidigen Amphybrachen“, deren „v — v“ Voß ohnehin nicht mochte, weil es die Verse weich und ungestalt macht!

Den letzten Vers Goethes kann man gut dem letzten Vers Voß‘ gegenüberstellen:

“Lieber Gott, / wie es stürmt, / und Schnee / in den Gründen / sich anhäuft!”
— v — / v v — / v — / v v — v / v — —

„Gab ich hin; / er ist dünn / und alt / und ganz / aus der Mode.“
— v — / v v — / v — / v — / v v — v

Der Anfang ist bei beiden Versen genau gleich gebaut! Danach aber hat Voß mehr „Zug“ drin, der Versschluss ist kräftiger in seinem nochmaligen Beschleunigen und Abbremsen; Goethes Vers schließt entspannter, ausgewogener. Da kann man nicht sagen, der eine sei besser als der andere; beide sind gute Verse, aber vielleicht eben auch ein gutes Beispiel dafür, wie sich das Versverständnis dieser beiden Verfasser unterschied.