Das Königreich von Sede (60)
Prinz Klappstuhl blättert um und weiß, das ist kein guter Gedanke.
Sicher, seine Froschuhr ist vorgegangen – nur der erste der vier Frösche, die gelernt hatten, nach je einer Viertelstunde wegzuhüpfen, hat wohl seine Zeit abgesessen, während die anderen sich erkennbar früher auf den Weg gemacht haben, den Mückenschwärmen über dem Schlossgraben zu; aber jetzt blättert der junge Prinz schon zum dreizehnten Mal eine Seite der alten Sammlung um, und das sind mindestens vier Blätterer zuviel.
So ein Brunnen ist tief. Wenn ein Stein reinfällt,
Und man horcht: da ist nichts, erst – endlich ein Platsch!
Und der Brunnen an sich? Erst nichts, dann ein Loch
In die Erde hinab, samt Wasser am Grund.
Das ist Platsch. Was ist Stein, was bewegte den Stein?
Klappstuhl horcht. Vom Schloss klingt eine Stimme herüber, und als der Königssohn aufschaut, bemerkt er auf dem Torturm Pulverfass, den Seher, der ruft und wütend mit den Armen wedelt.
Wieder den Unterrichtsbeginn verpasst – das riecht nach Strafarbeit in der Küche. Aber eigentlich macht das nichts, denn beim Abwaschen wird der Prinz einen Becher als Stein, und den Zuber als Brunnen benutzen können, und so sollte sich dem Platsch! auf den Grund kommen lassen; und was zu tun ist, um den festgetrampelten Lehmboden der Küche um einen wirklichen Brunnen zu erweitern – nun, das wird sich dann auch finden.
Wieder ruft Pulverfass; sein Schüler schließt lächelnd das Buch, steht auf und läuft zum Schloss.
Erzählverse: Der trochäische Fünfheber (4)
Wie schon erwähnt: Der trochäische Fünfheber gestattet sich viel weniger Abweichungen als zum Beispiel der Blankvers, und schreibt man ihn, muss man sehr aufpassen, dass er nicht zu starr und einförmig gerät.
Nicht starr, nicht einförmig: Will man herausfinden, wie das zu erreichen ist, macht man mit einem Besuch bei Goethe nichts falsch – und so auch beim trochäischen Fünfheber:
Nachtgedanken
Euch bedaur‘ ich, unglücksel’ge Sterne,
Die ihr schön seid und so herrlich scheinet,
Dem bedrängten Schiffer gerne leuchtet,
Unbelohnt von Göttern und von Menschen:
Denn ihr liebt nicht, kanntet nie die Liebe!
Unaufhaltsam führen ew’ge Stunden
Eure Reihen durch den weiten Himmel.
Welche Reise habt ihr schon vollendet,
Seit ich, weilend in dem Arm der Liebsten,
Euer und der Mitternacht vergessen!
– Da ist von Einförmigkeit jedenfalls nicht viel zu spüren? Obwohl der Text wie selbstverständlich daherkommt … Fragt man nach dem „Wie“, lohnt wohl am ehesten der Blick auf die vielfältig wechselnden Zäsuren, und auf die Anzahl und Verteilung der ein-, zwei- und dreisilbigen Wörter. Goethes Gedichte sehen oft so einfach aus; und sind es nie …
(Alle, die auch das „Was“ das Textes kümmert, können ja einmal bei der NZZ vorbeischauen, wo Peter von Matt sich zu diesen Versen äußert.)
Erzählverse: Der Knittel (13)
Noch einmal Theodor Fontane – geht es um den Knittel, führt an ihm kein Weg vorbei! „Die Frage bleibt“ ist ein recht bekanntes und sehr kurzes Gedicht, in dessen nur drei Reimpaaren aber trotzdem einige der Besonderheiten des Knittels hörbar werden:
Halte dich still, halte dich stumm,
Nur nicht fragen, warum? warum?
Nur nicht bittere Fragen tauschen,
Antwort ist doch nur wie Meeresrauschen.
Wie’s dich auch aufzuhorchen treibt,
Das Dunkel, das Rätsel, die Frage bleibt.
Im ersten Vers setzt Fontane zwei betonte Silben nebeneinander, nur durch die Zäsur getrennt; der inhaltliche Einschnitt schafft hier zwei „Choriamben“, also zwei allgemein als stark und schön klingend geltende Einheiten!
Halte dich still, halte dich stumm,
X x x X / X x x X
Da lässt sich einiges an Wirkung erzielen, und Fontane hat diese Möglichkeit auch häufiger genutzt – „Andre sind reich, ich bin arm„, „X x x X / X x X“ findet sich zum Beispiel in „So und nicht anders“.
In V4 ist ein klein wenig unsicher, welche Silbe die zweite Betonung trägt – am wahrscheinlichsten das „doch“, aber das „nur“ kommt auch in Frage, denke ich; dann hat der Vers eine dreisilbig besetzte Senkung, aber das klngt gar nicht mal so übel?!
V6 beginnt, als einziger der sechs Verse, mit einer unbetonten Silbe.
Go: Die alten Meister (26)
Die alten Meister schicken
Ihr Denken weit voraus,
Das Rechte zu erblicken.
Erzählformen: Das Distichon (12)
„Der farnesische Herkules“ war schon in der Antike eine berühmte Skulptur, und ist das in der weiteren europäischen Geschichte auch geblieben: Wer mag, kann sich dazu ja mal den Wikipedia-Eintrag ansehen (wobei der englische ein wenig ausführlicher als der deutsche ist) – ein Blick auf eine Abbildung der Statue wäre aber bestimmt sinnvoll, um zu wissen, was da im folgenden beschrieben wird!
Paul Heyse hat nämlich über diese Skulptur einen Text in Distichen geschrieben, randvoll mit Anspielungen auf die Antike – die Statue selbst, die berühmten zwölf Taten des Herkules, Götter und Göttinnen …
Aber auch, wenn vielleicht nicht jeder Bezug gleich klar ist: Heyses wenig ehrerbietiger Tonfall ist in jedem Fall unüberhörbar!
Welch ein schwellend Gebirge von Fleisch und Muskeln! Am Kopf nur
Kam er ein wenig zu kurz; enge sind Schädel und Stirn.
Doch so schuf ihn Natur mit Bedacht; ein Klügerer hätte
So fruchtlosem Geschäft schwerlich das Leben geweiht,
Nicht vom Schmutze gesäubert die Welt, von wüstem Geziefer,
Noch prometheischen Trotz rettend vom Geier befreit.
Aber erkennst du denn nicht, halbgöttischer Tor: des Augias
Stall füllt wieder sich an, wieder ergänzt sich die Zahl
Grimmiger Hydrahäupter; es kreischen die Stymphaliden,
Kraft und Gewalt aufs neu‘ schmieden in Bande den Geist.
Darum senkst du nun freilich das Haupt in zweifelnder Schwermut;
Doch nicht gänzlich umsonst hast du die Kräfte bewährt.
Glück bei Weibern trägt es dir ein; es liebten die schönen
Seelen sogar von je diesen athletischen Wuchs.
Mit so geringem Verstande gepaart, und Omphale setzt auf
Solch stiernackigen Freund gerne den zärtlichen Fuß.
Ja, im Olymp, wo Hebe, die Zierlichschwebende, furchtlos
Dir in die schwielige Faust bräutlich ihr Patschchen gelegt,
Stiftest du Zwietracht fast. An ihrem gewaltigen Kriegsgott
Schielt nun Venus vorbei, neidet der Kleinen ihr Glück.
Fast wird eifersüchtig der Vater der Menschen und Götter,
Da leutseligen Blicks Juno den Neuling begrüßt.
Nur die Grazien flüchten entsetzt; es rümpfet Minerva
Höhnisch die Lippe: „Warum ließ man den Hausknecht herein?“
– So geht das, wenn man plötzlich unter den Göttern erscheint … Sprachlich ist, ganz passend, auch eine gewisse Nachlässigkeit da; „setzt auf // solch stiernackigen“ etwa ist schon ein heftiger Zeilensprung, und in älteren Fassungen des Textes gab es sogar noch einen härteren, gleich im Distichon darüber:
Glück bei Weibern trägt es dir ein; es liebten sogar die
Schönen Seelen von je diesen athletischen Wuchs.
– Aber der ist dann, scheint’s, durch einfaches Umstellen doch abgemildert worden.
Erzählverse: Der Blankvers (53)
In Gottfried Kellers „Schwurgericht“ schickt eine vielbeschäftigte Mutter ihren kleinen Sohn, damit er dem nicht allzuweit entfernt arbeitenden Vater das Versperbrot bringt; der Junge zieht mundharmonikaspielend los.
Schon weit ist er; doch über Korn und Klee
Tönt weich und sanft, wie all der blaue Himmel,
Sein einfach Lied nun aus dem Feld herüber:
Der Kinderpuls, ein Lufthauch und die Ferne,
Sie schaffen eine rührend zarte Weise,
Die, fast verwehend jetzt, dann leise schwillt.
Und weil die Mutter hier noch steht und horcht
Und denkt, nun hat er wohl den Forst betreten,
Vernimmt der Vater drüben schon die Töne
Und kennt sein Vögelchen an dem Gesang.
Er lauscht erfreut – auf einmal bricht es ab,
Und stumm bleibt ewig dieser Kindermund!
Kein Knäblein kommt zum Vater, keines kehrt
Zur Mutter abends mit dem Müden wieder.
– Der Junge ist ermordet worden, wie sich im weiteren herausstellt. Ich mag die Art, wie Keller die Begebenheit erzählt und die böse Tat eben zwischen Mutter und Vater geschehen lässt; und seine ganz unaufgeregten, weichen, fließenden Verse.
„Und weil die Mutter“ – hm. Ist „Derweil“ gemeint?! Wirklich begründend kanns ja eigentlich nicht sein.
Ohne Titel
Verse zu schreiben
Kleidet die Seele,
Verse zu lesen,
Auch: in sich selbst.
Erzählformen: Die Brunnen-Strophe (4)
Die Brunnen-Strophe ist allgegenwärtig; was oft dazu führt, dass man sie gar nicht mehr wahrnimmt, erst recht, wenn anderes die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ein Beispiel ist Christian Morgensterns überaus berühmtes „Gruselett“:
Der Flügelflagel gaustert
durchs Wiruwaruwolz,
die rote Fingur plaustert
und grausig gutzt der Golz.
Da ist das Staunen und die Verwunderung über die Dinge, mit denen Morgenstern die Form füllt, so groß, dass die Form an sich ganz zurücktritt, und das, obwohl doch die Hebungen sehr deutlich und mit wenig Abwechslung besetzt sind! Schaut man sich ein wenig im Netz um, findet man diese Verse zum Erklären und Veranschaulichen von allem möglichen verwendet, nie aber dem der Form …
(Verwunderlich und ein wenig erschreckend dabei: wie oft das Gedicht Kindern in der Grundschule oder in fünften Klassen vorgesetzt wird – ist das wirklich sinnvoll, und wenn ja: auf welche Weise soll es geschehen? Bei Literaturcafe.de findet sich ein Beitrag, der „am Beispiel“ dieser Frage – vielleicht ein wenig zu empört – nachgeht …)
Spannend noch der Gedanke: Scheint die Form stärker durch, wenn das Gedicht in einer anderen Sprache erscheint? Max E. Knight hat in seinem 1964 bei „University of California Press“ erschienenen Auswahlband „The Gallows Songs“ das Gruselett so ins Englische übersetzt:
Scariboo
The Winglewangle phlutters
through widowadowood,
the crimson Fingoor splutters
and scary screaks the Scrood.
Erstaunlich, wie die Übersetzung eines solchen Textes überhaupt gelingen kann?! Aber hier steht sie, und ihre Wirkung kann nun jeder selbst beurteilen …