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Erzählverse: Der Hexameter (76)

Paul Heyses „Hexameter-Brief“ (4)

Die Verse 91 – 103:

 

Nicht goldwägerisch misst nach Gran und Skrupel den Lautwert
Unser germanisches Ohr; den Sinnwert wägt es vor allem.
Wo sich der Verstakt feindlich entgegenstemmet dem Wortton,
Gönnen wir diesem den Sieg; es soll statt ruhigen Aufbaus
Kein Aufbau uns begegnen und nicht Freiheit statt der Freiheit,
Ob auch, streng auf der Wage des sinnlichen Lautes gewogen,
Ein Diphthong gleich wuchtet dem anderen. Sind doch die Quellen
Noch nicht völlig versiegt, daraus vor manchem Jahrhundert
Unsere Dichtung sog ihr frisch aufsprossendes Leben.
Walthers und Wolframs Deutsch – wohl ist’s verklungen; wir lernen
Fast wie Fremde den Ton des Kürenbergers. Und gleichwohl
Schlägt noch immer der Puls, der blutsverwandte, mit freier
Hebung und Senkung, mächtig im Verse des Faust und des Volkslieds.

 

Gran und Skrupel: Alte, kleine Masseneinheiten; heute durchs Gramm ersetzt.

Aufbau: Dient Heyse als Beispiel für seine Aussagen, der „Verston“, also das Metrum, habe hinter dem „Wortton“, der gewöhnlichen Wortbetonung, zurückzustehen. Die beiden scheinbar gleichen „Aufbau“ des Textes unterscheiden sich nämlich dadurch, dass das eine dem Verston sich unterordnet, das andere dem Wortton genügt:

Gönnen wir / diesem den / Sieg; || es / soll statt / ruhigen / Aufbaus
Kein Auf- / bau uns be- / gegnen || und / nicht Frei- / heit statt der / Freiheit,

In der „antikisieren“ Darstellung:

v v / v v / || v / v / — v v / — —
/ v v / v || v / / v v /

Das „Aufbau“ am Ende des ersten Verses genügt dem Wortton, die für gewöhnlich betonte Silbe „Auf-“ besetzt die Hebungs-Stelle, das zwar immer noch einigermaßen stark, aber doch schwächer betonte „-bau“ die Senkungs-Stelle; damit ist der sechste Versfuß so nah an einem antiken Spondeus, wie es das Deutsche leisten kann.

Das „Aufbau“ am Beginn des zweiten Verses wird anders verwendet: Die für gewöhnlich betonte Silbe „Auf-“ besetzt die Senkungs-Stelle, das eigentlich schwächer betonte „-bau“ die Hebungsstelle. Dadurch sollen sich die Stärken der beiden Silben angleichen und die genaue Nachbildung eines antiken Spondeus ermöglichen (beide Silben des Versfußes sind gleich schwer).

Der Unterschied für das Ohr ist beachtlich!

Freiheit: Ein zweites Beispiel, das genauso verfährt, wie gerade für „Aufbau“ gezeigt. Sicher ist die versuchte Nachbildung des antiken Fußes gewöhnungsbedürftig; aber es wäre, andererseits, auch nicht klug, diese Möglichkeit ganz und gar aus dem Vers zu verdammen. Der Hexameter ist auf Abwechslung und Abwandlung stärker angewiesen als andere Verse; der „geschleifte Spondeus“ kann dazu einen Beitrag leisten. Nur sollte man ihn als Verfasser sparsam einsetzen und nicht zur Regel machen; ihn nur an herausgehobenen Stellen verwenden. Gerade für das Wort „Freiheit“ gibt es dabei ein berühmtes Beispiel, von Friedrich Schiller:

Freiheit / ruft die Ver- / nunft, || Frei- / heit die / wilde Be- / gierde,

/ v v / || / v / v v / v

– Eigentlich wie bei Heyse, vom Aufbau her? Aber in der Wirkung schon darum beachtlich, weil es „Freiheit“ durch eine gewisse Freiheit im Versbau ausdrückt. Wie Schiller bei diesem Vers gelandet ist, wird in einem anderen Hexameter-Eintrag erwähnt: Schiller verbessert (2)

Walther, Wolfram, Kürenberger: Mittelalterliche Verfasser, deren Verse man heutzutage allerdings wirklich „fast“ als Fremder liest. Leider lesen muss … Und die ja durchaus auch ihre ganz eigenen metrischen Grundlagen haben!

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Erzählformen: Das Madrigal (10)

Ein kurzes Gedicht eher lyrischer Art von Georg Britting, das die das Madrigal kennzeichnenden Freiheiten aber ähnlich weit treibt wie es Wieland im Erzählerischen tut (siehe 8 und 9):

 

In der ersten Frühe

Es weht
Mit grauen, glänzenden Lüften.
Im Garten steht
Ein nackter Knabe mit rosigen Hüften,
Eine Blume im Haar überm Ohr.
Er bricht
Das nachttautriefende Rohr.
Seine silberne Stimme spricht:
Licht!

 

– Aus: Georg Britting, Gedichte 1940 – 1951,  Nymphenburger Verlagshandlung 1957, Seite 154.

Ob das jetzt ein gutes Gedicht ist, weiß ich nicht; es zeigt aber schön, wie der Reim auch mit unterschiedlich langen Versen, die zudem Senkungen mal hier, mal da zweisilbig besetzen (und dann sogar mit zweisilbigen Wörtern) gut zusammengeht und ein rundes ganzes ergibt bezüglich der Bewegung.

Wer so etwas selbst zu schreiben versucht, stellt wahrscheinlich fest, die ersten Versuche klingen  nicht ganz so überzeugend; aber es lohnt sich, dranzubleiben, denn solche Gedichte schaffen es wahrscheinlich eher, den Reim ins 21. Jahrhundert zu retten, als noch eine weitere kreuzgereimte Vierheberstrophe …

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Ohne Titel

sommergedanken ∙ dachte ich viele,
ohne mühe ∙ des morgens, des abends,
sommergedanken ∙ damals: im sommer.

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Erzählverse: Der Hexameter (75)

Paul Heyses „Hexameter-Brief“ (3)

Die Verse 53 – 90 beschäftigen sich nicht unmittelbar mit dem Hexameter, sondern widmen sich der Einschätzung August von Platens. Erst am Ende geht es wieder in Richtung Hexameter, aber das wird dann der Inhalt des nächsten Eintrags sein!

 

Doch fern sei’s, den Toten zu schmähn, der wahrlich vollauf schon
Leid im Leben erfuhr, Missurteil, Hohn und des Unglücks
Lähmenden Druck. Denn arm und ein Graf, Poet und ein Deutscher,
Heimischem Ruhm nachtrachtend in selbsterwählter Verbannung,
Statt des lebendigen Lebens ein Wolkengebild umarmend,
Wandelt‘ er unter den Fremden dahin und lauschte begierig,
Ob ihm über die Alpen ein Laut nachfolge des Beifalls,
Dem er stolz zu entsagen sich rühmt‘, um nur von der Nachwelt
Späte Genugtuung zu empfahn und sühnenden Lorbeer.
Doch nie soll ein Dichter sich selbst entfremden der Heimat,
Die, wie immer gescholten und scheltenswert, mit den frühsten
Säften der Seele genährt, und der zu entwachsen so wenig
Glückt und geziemt, wie je ein Sohn von der Mutter sich losmacht.
Wer gewaltsam löst das Band der Natur, dem rächt sich’s
Nicht am Leben allein, dem freud‘- und friedeberaubten,
Auch an der Kunst. Und flöh‘ er zu jenem seligen Eiland,
Wo ihm Schönheit winkt vom lachenden Strand, aus den Hütten,
Wie aus hohen Palästen und herrlichen Meistergebilden,
Nie doch fänd er Ersatz des Wünschenswertesten: Einklang
Mit sich selbst und dem eigenen Volk. Ja, selber die Sprache
Wird ihm ein leblos Wesen, geschickt zu manchem Gebrauch wohl,
Doch ein künstlich Phantom, nicht mehr aus Kinder- und Ammen-
Mund mit rührender Macht uns Ohr und Seele bewegend,
Wie es der Dichter bedarf, auf dass im Busen die Kraft ihm
Nicht verdorre, das Herz verbrüderter Menschen zu rühren.
Sieh im Bauer den Vogel; man lehrt ihn künstliche Weisen,
Und er flötet gelehrig sie nach; doch bleibt es ein seltsam,
Schier unheimlich Getön, und nicht wie schlichter Naturlaut
Harmlos munterer Sänger erquickt sein Trillern das Herz dir.
So entfremdet‘ auch er sich der echt anheimelnden Tonart,
Nicht vom warnenden Beispiel belehrt des schweifenden Helden,
Der mit Wachs sich die Ohren verwahrt, um an der Sirenen
Klippen vorüberzuschiffen. Zu Haus wohl deuchte das Grunzen
In des göttlichen Sauhirts Pferch ihm trauterer Wohlklang,
Als im purpurnen Meer der gefährlichen Jungfraun Lockruf.
Platen jedoch umstrickte die feinaufhorchende Seele
Griechischer Rhythmen Gewalt; er vergaß, dass anderen Völkern
Andere Kraft und Sitte verliehn und andres Bedürfnis.

 

–  Doch nie soll: Heyses Hexameter bewegen sich in diesem Abschnitt recht ungezwungen, oder jedenfalls: sind in ihrer Bewegung unmittelbar erfahrbar?! Nur dieser Vers macht, denke ich, an seinem Beginn ein wenig Schwierigkeiten:

Doch nie / soll ein / Dichter || sich / selbst ent- / fremden der / Heimat,

Mir fällt es schwer, die erste Vershälfte bis zur Zäsur mit einer überzeugenden Bewegungslinie vorzutragen?!

Platen jedoch: Heyse braucht bis hierher ziemlich viel Raum, um nicht sonderlich viel zu sagen?! Die Beschäftigung mit Platen war allerdings  im 19. Jahrhundert nötig – irgendwie musste man sich verhalten zu dessen Überbetonung der Form, sie einordnen; zustimmend oder ablehnend. Viele Dichter haben das im Vers getan – ich füge hier als Abschluss dieses Eintrags ein Gedicht von Friedrich Hebbel an, „Platen“: Ich denke, Hebbel erfasst Platens Eigenheit überzeugender als Heyse – und vor allem bringt er seine Meinung besser auf den Punkt! Die Distichen seines Textes gefallen mir sehr gut, und auch, wie die Sprache durch sie hindurchfließt.

 

Vieles hast du getan, man soll es mit Liebe dir danken,
Hast der äußeren Form streng wie kein zweiter genügt,
Hast die innre erkannt und alle Reifen der Sprache,
Welche der Leichtsinn sprengt, wieder zusammengeschweißt.
Eines fehlt dir jedoch, die sanfte Wallung des Lebens,
Die in ein reizendes Spiel gaukelnder Willkür den Ernst
Des Gesetzes verwandelt und das im Tiefsten Gebundne
So weit löst, bis es scheint, dass es sich selbst nur gehorcht.
Dennoch verschmilzt nur dies die äußere Form mit der innern,
Und man erreicht es nur so, dass die Gebilde der Kunst
Wirken wie die der Natur, und dass, wie Blumen und Bäume,
Keiner sich auch ein Gedicht anders noch denkt, als es ist.

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Ohne Titel

Eins
Der nackte Sand, das Dünengras,
und Wind; und Wind im Übermaß.

Zwei
Die Düne sagt: Macht’s gut, ich wandre;
Ihr Gras sucht sich darauf ne andre.

Drei
Der Wind entblößt der Gräser Wurzeln,
Weshalb sie von der Düne purzeln.

Vier
Das Dünengras, das Dünengras
Lacht leis‘ im Wind – es hat wohl Spaß.

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Erzählverse: Der trochäische Vierheber (32)

Bevor es  mit den Hexametern Heyses weitergeht, eine kleine Abwechslung in Form eines Gedichts von Christian Morgenstern, das, wie so oft bei diesem Verfasser, angenehm eigenartig daherkommt:

 

Mensch und Möwe

Eine neugierkranke Möwe,
kreiste ich zu Häupten eines
Wesens, das in einen weiten
dunklen Mantel eingewickelt,
von dem Kopfe einer Buhne
auf die grüne See hinaussah.
Und ich wusste, dass ich selber
dieses Wesen sei, und war mir
dennoch selbst so problematisch,
wie nur je dem klugen Sinne
einer Möwe solch ein dunkler
Mantelvogel, Mensch geheißen.
Warum blickt dies große, stumme,
rätselhafte Tier so ernsthaft
auf der Wasser Flucht und Rückkehr?
Lauert es geheimer Beute?
Wird es plötzlich aus des Mantels
Schoß verborgne Schwingen strecken,
und mit schwerem Flügelschlag den
Schaum der weißen Kämme streifen?
So und anders fragte rastlos
mein beschränktes Möwenhirn sich,
und in immer frechern Kreisen
stieß ich, kläglich schreiend, oder
ärgerlich und höhnisch lachend,
um mich selber … Da erhob sich
aus dem Meere eine Woge …
stieg und stieg … Und Mensch und Möwe
ward verschlungen und begraben.

 

Mir gefällt es. Und der Vers auch; Morgenstern springt oft mit dem Sinn  aus dem einen in den nächsten Vers, aber wenn man den Text laut und vergleichsweise langsam liest, merkt man: Der Vers formt die Sprache auch. Spürbar.

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Erzählverse: Der Hexameter (74)

Paul Heyses „Hexameter-Brief“ (2)

Weiter geht es mit den Versen 23 – 52:

 

Ja, nicht darf ich es leugnen, o Freund: ich fühle mich schuldig,
Doch weit anderer Sünden. Mit meinen Hexametern wär‘ ich
Selbst wohl besser zufrieden, – dafern sie schlechter gerieten.
Hab‘ ich doch einst mit saurem Bemühn die geduldige Thekla
Sanft zu befreien gesucht vom lähmenden Zwang der Korrektheit,
Froh um jeden bequemeren Fuß, auf welchem die Rede
Mit treuherzig behaglichem Gang hinschlenderte, nicht mehr
Künstlich die Zehen gespreizt und die römischen Pas nachzirkelnd.
Manches geriet mir zu Dank, doch anderes fügte sich nimmer.
Denn was Hänschen nicht lernt, – vielmehr, was Hänschen gelernt hat,
Kann mit steiferen Gliedern ein Hans nicht wieder verlernen.
Warum ward uns Knaben die Platensche Zucht auf der Schulbank
Fest in die Ohren geschmiedet und ein harmloser Trochäus,
Ein zweisilbiges Wort, als doppelte Kürze gemessen,
Ein daktylisches „Vaterland“ gar mit röterer Tinte,
Als ein Ut mit dem Indikativ, am Rande gebrandmarkt!
Damals konntst du an mir viel Ehr‘ und Freuden erleben.
Doch mir ward auf immer im Schnürleib klassischer Hoffahrt
Meines Hexameters fröhlicher Wuchs unheilbar zerrüttet.
Sah ich doch achselzuckend herab selbst auf den gewalt’gen,
Den schon früh mit der Glut des freiauflodernden Herzens
Ich vor allen verehrt. Nur zum Hexameter, wähnt‘ ich,
Hab‘ ihm ein feindlich Geschick den gültigen Stempel verweigert,
Dass er falsch ihn geprägt und sein gediegenes Gold nun
Leider in solcher Gestalt nicht Vollwert habe dem Kenner.
O ich pfuschender Knabe! Zu spät erst fielen die Schuppen
Mir vom Aug‘; ich erkannte, wie blind an ihm ich gefrevelt,
Wie sein Genius ihn auch hier weit sichrer geleitet
Mit nur tastendem Schritt, als unsern prosodischen Grafen
Seine Gelehrsamkeit und alexandrinischer Kunsttrieb.

 

Mit treuherzig: „Ein geschleifter Spondeus“ – einer der Wege, auf dem die antikisierenden Hexameteristen den antiken Spondeus nachbilden wollten, indem sie zwei genau gleich schwere Silben erzeugen. Der Grundgedanke: Eine eigentlich „leichte“ Silbe“ – hier das „Mit“ – wird auf die Hebungs-Stelle gesetzt und damit verstärkt, eine eigentlich „schwere Silbe“ – hier das „-treu-“ wird auf die Senkungs-Stelle gesetzt und damit geschwächt; dadurch sind am Ende beide Silben gleich schwer und damit ein Spondeus.

Mit treu- / herzig be- / haglichem / Gang || hin- / schlenderte, / nicht mehr

/ v v / v v / || — / — v  v / — v

– Mit „Längen“ () und „Kürzen“ (v) dargestellt. Man sieht: Der vierte Fuß, der auch die Zäsur aufnimmt, ist auch so ein „geschleifter Spondeus“! An dieser Stelle geht das ganz gut, am Versanfang ist das einem heutigen Ohr kaum noch zu vermitteln; es braucht viel Übung, um daraus im Vortrag etwas zu machen? Vielleicht fährt man am besten, liest man die Stelle einfach als „versetzte Betonung“:

Mit treu– / herzig be- / …

Heyse hat in allen seinen Hexameter-Texten solche Spondeen; es lohnt sich, auf sie zu achten und ihnen nachzuhören!

zweisilbiges Wort: Inwieweit man ein zweisilbiges Wort als zwei unbetonte Silben betrachten darf – „als doppelte Kürze gemessen“ – ist eine offene Frage geblieben bis heute. Manche Hexametristen meiden diese Möglichkeit ganz, manche nutzen sie ausgiebig, und manche lassen es auf die Umstände ankommen. Hier beim Verserzähler tauchte diese Frage gleichfalls schon auf, siehe Plektrons Kommentar zu Stillstand.

Ein … ein … ein: In diesen Versen …

Fest in die Ohren geschmiedet und ein harmloser Trochäus,
Ein zweisilbiges Wort, als doppelte Kürze gemessen,
Ein daktylisches „Vaterland“ gar mit röterer Tinte,

… erscheint „ein“ als Zahlwort, nicht als unbestimmter Artikel; und als solches ist es durchaus „hebungsfähig“; oder eben ein hinnehmbarer Teil eines „geschleiften Spondeus“, wodurch die vom Sinn her gegebene Betonung der „ein“ auch verstechnisch umgesetzt wird. Wieder „lang-kurz“ dargestellt:

v v / v v / v || v / / v v / v
/ v v / || v / v v / v v / v
— v / — v v / — v / — || v v  / — v v / — v

… Wobei Heyse „Vaterland“ nun gerade nicht daktylisch gebraucht, sondern sowohl „Va-“ als auch „-land“ auf die Hebungsstelle setzt. Wie so oft: Auch hier haben  die verschiedenen Hexametristen zu verschiedenen Ansichten gefunden. (Aber eine bewusste Ansicht hatte jeder!)

am Rande gebrandmarkt: Im 19. Jahrhundert musste man in der Schule und Universität nicht nur Latein sprechen und schreiben; sondern auch Hexameter zu Papier bringen. Lange ist’s her!

im Schnürleib klassischer Hoffahrt: „im Korsett klassischen Hochmuts / Dünkels“.

Sah ich doch achselzuckend: Wen Heyse hier meint, weiß ich nicht. Ich tippe auf Goethe?! Der hat sich jedenfalls von den Theoretikern manches anhören müssen bezüglich seiner Hexameter, zu Lebzeiten und im Tode; vieles klang so ähnlich wie Heyse’s Ausführungen, nur oft noch schäbiger. So schreibt M. W. Götzinger in seinem Buch „Die deutsche Sprache und ihre Literatur“ (1839) zum Beispiel:

Es gereicht in der Tat Goethen zum Vorwurf, dass er so gar schlechte Hexameter geschaffen. Entweder konnte er keine bessern machen, und dann hätte er es billiger ganz gelassen; oder er vermochte es, und dann hätte er mehr Fleiß darauf wenden sollen.

Na, schönen Dank auch … Aber insgesamt sind hier mit den Jahren, wie bei Heyse, viele „Schuppen vom Aug gefallen“, und heute zählen Goethes Hexameter zu den besten, die es im Deutschen gibt.

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Erzählverse: Der Hexameter (73)

Paul Heyses „Hexameter-Brief“ (1)

Unter Paul Heyses in Versen verfassten „Reisebriefen“ findet sich auch einer, der in Hexametern geschrieben ist; und den Hexameter zum Inhalt hat, einmal im allgemeinen, einmal in seiner Bedeutung für Heyse! Beides wissenswert, und darum möchte ich den etwas längeren Text nach und nach vollständig vorstellen und hier und da zu einzelnen Punkten etwas sagen. Hier erst einmal die ersten 22 Verse:

 

An N. N.
Gymnasialprofessor in X.

Meine Hexameter tadelst du mir und schüttelst bedenklich
Dein skandierendes Haupt, so oft ein schnöder Trochäus
Oder ein Daktylus dir, ein schwerhinwandelnder, aufstößt.
Ehmals hätt‘ ich es besser gekonnt, zu der seligen Thekla
Zeit; wie sei ich seitdem vom rechten Pfade gewichen?
Und nun hättst du das Beste gehofft und gefleht zu den Göttern,
Mir in südlichen Lüften das Band vom Ohre zu lösen.
Hätt‘ ich doch Capri gesehn und des felsenumgürteten Eilands
Schroffes Gestad von neuem besucht und wüsste, wie selten
Dorten ein Rettungsport für scheiternde Verse zu spähn sei,
Wo einst Platen geweilt, der Moses unsrer Prosodik,
Der in steinerne Tafeln die zehn Gebote des Wohlklangs
Grub und nicht sie grollend zerschmetterte, weil noch der Pöbel
Töricht das goldene Kalb umtanzt der gelinderen Praxis.
Sei das alles verloren an mir, dem einige Verskunst
Selbst die gestrenge Kritik, die verdammensselige, nachrühmt?
Weh des verlorenen Sohns! Es weinten um ihn auf des Pindus
Höh’n die Schwestern, die neun, und auf der Asphodeloswiese
Werd‘ ein Seufzen vernommen, ein einziger banger Hiatus;
Platen verhülle das Haupt und stöhn‘ in geflügelten Rhythmen
Über das undankbare Geschlecht nachstümpernder Enkel,
Dem umsonst er gelebt, umsonst sein ehern Gesetz gab.

 

schnöder Trochäus: Um die Frage, wie man den antiken Hexameter im Deutschen nachbilden soll und kann, wurde im 19. Jahrhundert erbittert gestritten; da der antike Vers aus Daktylen und Spondeen zusammengesetzt ist, gehörte zu diesem Streit auch die Frage, ob Trochäen im deutschen Hexameter überhaupt erlaubt seien.

schwerhinwandelnder Daktylus: In Bezug auf die Daktylen ging der Streit unter anderem darum, inwieweit ein Wort wie „Vaterland“ als „X x x “ benutzt werden kann angesichts der deutlichen Nebenhebung auf der dritten Silbe. „Schwerhinwandelnd“ ist ein von Johann Heinrich Voss in seiner Ilias-Übersetzung gebrauchtes Beiwort:

Doch du weidetest, Phöbos, das schwerhinwandelnde Hornvieh

… und auch über diese Art Beiwort ist viel gestritten worden.

Thekla: Ein Hexameterepos Heyses, das auch hier beim Verserzähler schon seinen Platz gefunden hat in neun Einträgen, beginnend mit diesem.

Hätt ich doch Capri gesehen: Drei Verse lange Anspielung auf den Beginn eines bekannten Gedichts von August von Platen, „Die Fischer auf Capri“ (1827):

Hast du Capri gesehn und des felsenumgürteten Eilands
Schroffes Gestad als Pilger besucht, dann weißt du, wie selten
Dorten ein Landungsplatz für nahende Schiffe zu spähn ist:

Wobei der Urheber seinen Versen ohne zu zögern nachfolgt bei Heyse. Platen hat sich in seinen Nachbildungen antiker Verse sehr bemüht, so viele antike Verseigenschaften wie möglich im Deutschen beizubehalten und ist für die so entstandenen Gedichte von vielen bewundert, von mindestens ebenso vielen aber auch getadelt worden.

Tafeln … gelindere Praxis:  Der Gegensatz, für den Platen stellvertretend steht und um den es Heyse im weiteren gehen wird.

Pindus: Gebirge in Griechenland, ein Versammlungsort der Musen.

Asphodeloswiese: Ort in der griechischen Unterwelt, Versammlungsort der Toten, zum Beispiel in der Odyssee, 11. Gesang (Übersetzung von Voss):

Also sprach ich; da ging die Seele des schnellen Achilleus
Zur Asphodeloswiese mit großen Schritten hinunter,

Hiatus: Einen „Vokalzusammenstoß“ vermeidet auch Heyse in diesem und im nächsten Vers …

geflügelte: Durch die Übersetzung von Voss bekannt gewordenes, häufiges Beiwort bei Homer; Danach genannt „Geflügelte Worte“, eine sehr erfolgreiche Zitatsammlung, erstellt von dem Philologen und Gymnasiallehrer Georg Büchmann.