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Die Bewegungsschule (34)

Fünfsilbige Sinneinheiten kamen schon vor – ganz früh das recht unscheinbare „ta ta TAM ta ta“, später dann ausführlich das wichtige und ausdrucksstarke „TAM ta ta TAM ta“. Lohnt nun der Blick auf noch umfangreichere Sinneinheiten?! Hm. Sechs- und siebensilbige Einheiten kommen immer mal wieder vor, aber nicht oft. Eine besondere Klasse sind da die vielsilbigen Wörter – die sind auch am besten dagegen geschützt, doch in Unter-Sinneinheiten zu zerfallen. Ein Beispiel wäre:

Nachtigallengesang

TAM ta TAM ta ta TAM

– Eine sechssilbige Wort- und Sinnheit, die drei schwere Silben hat und umfangreich genug ist, um zum Beispiel in einem Pentamter eine Vershälfte zu füllen; und das in einer Elegie Rudolf Alexander Schröders („Tivoli“) auch tut:

 

Da du hinaufsteigst, schattenumwogt, und hörest nun wieder
Nachtigallengesang unter den Wipfeln und schaust
Ruhende Segler im Blau; denn hoch auf goldener Klippe,
Über dem fliegenden Schaum haben die Tauben ihr Nest.

 

– Zu finden im ersten Band von Schröders „Gesammelten Werken“, 1952 bei Suhrkamp erschienen, auf Seite 95. Siebensilbige Einheiten / Wörter sind noch seltener – und liegt dabei im Schriftbild auch ein einziges Wort vor, im Vortrag kann das ganz leicht in zwei Einheiten zerfallen! Wieder Schröder, diesmal aus „Der Landbau“ (S. 86):

 

Zwingt uns die neueste Weise des Markts und des kritischen Froschteichs
Breites Gequäk und langöhriger Hänse Geschrei,
Und den poetisch-politischen Tratsch und gedunsener Wichte
Seelenzerkleinernden Schwatz höflich zu leiden, o Freund,

 

„Seelenzerkleinernden Schwatz“ gehört als siebensilbige Pentamterhälfte zusammen, doch ich denke, das zerfällt an der Wortgrenze:

TAM ta ta TAM ta ta / TAM

Und bei ganz langsamem, deutlichen Vortrag zerfällt vielleicht sogar der Sechssilber noch einmal? „Seelen-zerkleinernder Schwatz“,

TAM ta / ta TAM ta ta / TAM

Das „poetisch-politischen“ des Vorverses jedenfalls hat die Bruchstelle auch für’s Auge gleich eingebaut …

Es ist schwerig mit diesen sehr langen Sinneinheiten. Trotzdem lohnt es sich durchaus, nach langen Wörtern Ausschau zu halten – sie machen immer etwas her, zeichnen einen Vers aus; aber sind auch schwer unterzubringen in einem festen Metrum und wirken leicht fehl am Platz. Darauf zu achten, wie andere das machen, muss da nützlich sein?!

„Seelenzerkleinernder Schwatz“ – Schröder hat noch einige genau gleich gebaute Siebensilber, zum Beispiel: „Felsüberschauernden Walds“. Na gut, nicht ganz gleich gebaut, die „innere Bruchstelle“ liegt woanders:

TAM / ta ta TAM ta ta / TAM

– Aber trotzdem eindrucksvoll, und in einem Text, der in Distichen geschrieben ist, die solche Ausdrücke ohne Schwierigkeiten tragen können: ein Gewinn!

Von daher – ruhig mal eine kleine Liste fertigen mit allen derartigen Einheiten, die beim Lesen und Hören unterkommen; und dann sorgfäktig abklopfen und nutzbar machen für die eigenen Verse!

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Erzählverse: Der Hexameter (58)

Justus Friedrich Wilhelm Zachariä: „Murner in der Hölle“ (1)

Zachariäs „komisches Epos“ erschien 1757; da war der Hexameter noch niegelnagelneu, Klopstock hatte ihn keine zehn Jahre zuvor in der deutschen Dichtung heimisch gemacht mit den ersten Gesängen seines „Messias“. Dementsprechend klingen die Verse dieser ersten Hexameter-Zeit noch ungehobelt und wenig rund; aber eben auch frisch und unverbraucht. Ich gehe hier die fünf Gesänge einen nach dem anderen durch und gebe aus jedem einige Verse, das sollte einen guten Eindruck ermöglichen?!

Der erste Gesamg beginnt, wie es sich für ein sich auf die Antike berufendes Epos gehört: mit einer Musenanrufung!

 

Singe, scherzende Muse, die großen heroischen Taten,
Und den kläglichen Tod von einem unsterblichen Kater;

 

– Womit schon einmal klar ist, was den Leser erwartet. Im weiteren lernt er die „holde Rosaura“ kennen, die in einem alten Schloss wohnt mit ihrem Onkel Raban und einer Zofe; und nicht nur das:

 

Mit ihr wohnten in einem Gemach zwei gesellige Tiere,
Cyper, ein fleckiger Kater, und ein geschwätziges Papchen,

 

Eben dieser Kanarienvogel bringt mit seiner Geschwätzigkeit die Geschichte ins Rollen, denn „eine der Furien“ …

 

Wollte die Oberwelt jetzt mit der finstern Hölle vertauschen,
Und flog, scheußlich und schwarz, auf einer stinkenden Wolke,
Bei Rosaurens Fenster vorbei. Ihr plauderndes Papchen
Saß im drähternen Haus, und rief laut schimpfend: Du Scheusal!

 

– Nicht die klügste Bemerkung einer Göttin gegenüber?! Die Furie, Alekto, nimmt es auch gleich persönlich und hetzt den schlafenden Kater im Traum gegen das Papchen auf, bis:

 

Also sagte die höllische Göttin. Der Kater erwachte,
Sah mit funkelnden Augen umher und brüllte nach Blute.

 

Er springt auf den Käfig des Papen, Raban bemerkt es:

 

Eben hatte der häusliche Greis den knotigen Dornstock,
Seinen Feldstab, in zitternder Hand; kaum sah er den Kater
Über den Käfig geklammert, so schlug er mit männlichen Kräften
Seiner Nichte Liebling auf’s Haupt. Die grausame Parze
Schnitt sein neunfaches Leben entzwei, und Cyper, entseelet,
Fiel vom Käfig, der Käfig auf ihn, und über den Käfig
Stürzte der Alte; vom donnernden Lärm erbebte das Zimmer!

 

Das erinnert mich irgendwie an Loriot … Als wieder alle bei Sinnen sind, wird der Tod des Katers tränenreich beklagt:

 

Und die Zofe heulete lauter: Der arme Cyper!
Und das Fräulein antwortete schluchzend: Der arme Cyper!
Cyper! rufte die Wand, und Cyper! Cyper! der Pape,
Welcher dem Feind im Tode vergab. Die Furie sah es
Voller höllischen Fröhlichkeit an, und stürzte sich zischend
Durch die verdunkelte Luft, und sank in die Fluten des Orkus.

 

Warum die Furie nun trotz verfehlter Absicht – der Pape lebt noch – so fröhlich ist, hm … Wahrscheinlich eine ganz allgemeine Freude am Unheil?!

Das jedenfalls war der erste Gesang. Zu Zachariäs Hexameter sage ich dann in den folgenden Gesängen etwas; hier nur der Hinweis auf die Inanspruchnahme einer „metrischen Lizenz“, das eigentlich vorgeschriebene „X x x / X x“ des Vers-Schlusses wird durch ein „X x / X x“ ersetzt: „armer Cyper“, in den gezeigten Versen zweimal und kurz davor schon einmal; was sicher eine deutliche Hervorhebung bedeutet.

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Erzählverse: Der trochäische Vierheber (27)

Wo kommen die Geschichten her? Aus den „Gesta Romanorum“, einem sehr berühmten Erzählbuch des Mittelalters! Gut, nicht alle; aber viele. Das hat auch Hugo von Hofmannsthal gewusst, der am Beginn seines Prologs zu „Der Tor und der Tod“ vier Freunde vorstellt – „Der jüngste“, schreibt er,

 

War Andrea: sein Besitztum
War ein großes, altes, dickes
Buch: die „Gesta Romanorum“,
Voll der schönsten alten Märchen
Und phantastischen Geschichten,
Voll antiker Anekdoten
Und aristole’scher Weisheit.
Wer dies Buch hat, braucht die Bibel,
Braucht Scheherasadens Märchen
Und die heiligen Legenden
Nicht zu lesen, nicht den Platon,
Nicht die Kirchenväter, nicht die
Fabeln des Giovan Boccaccio,
Denn das hat er alles drinnen,
Alle Weisheit, alle Narrheit,
Bunt und wundervoll verwoben.

 

Dazu muss ich dann nicht mehr viel sagen; das „Wie“, Hofmannsthals Vierheber, ist wie immer bei ihm nicht zu beanstanden, vollendete Verse ausnahmslos; und das „Was“ unterschreibe ich auch, einfach so: Die „Gesta“ sind eine einmalige Sammlung, die zeigt, wo die alten Geschichten herkommen; und genauso, wo neue Geschichten ihren Ursprung haben können. Wer sie in die Hände bekommt, sollte also unbedingt drin lesen! Wenn nicht gerade Hofmannsthals Prolog dran ist – lesenswert auch der, bis er mit diesen Versen endet:

 

Leise las Andrea ihnen
Eine seltsame gereimte
Kleine Totentanzkomödie.

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Die vergiftete Quelle

Einmals lebte ein König, der hatte, wie jeglicher Mensch hat,
Feinde; die wollten ihn töten. Und weil er ein Herrscher von Macht war,
Sollte sein Tod der durch Gift sein. So gingen, als Händler verkleidet,
Einige hin zu des Königs Stadt, in der Stadt hin zur Quelle,
Daraus der König mit Vorliebe trank, und gaben ein Gift zu.
Als nun der König kam, der von allem diesen nichts wusste,
Trank er nach seiner Gewohnheit; und starb.

 

Das ist die in Hexameter gegossene Nr. 147 aus den „Gesta Romanorum“ in der 1973 bei Insel erschienenen Ausgabe, dort zu finden auf Seite 296:

Man erzählt von einem König, den gedachten seine Feinde ums Leben zu bringen; und zwar wollten sie ihn, weil er zu mächtig war, durch Gift töten. Es kamen also einige von ihnen in gewöhnlichen in die Stadt, wo er residierte. Dort war eine Quelle, woraus der König sehr oft trank; diese Quelle vergifteten sie allenthalben. Der König aber wusste von nichts und trank nach seiner Gewohnheit und starb.

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Das Ein-Vers-Gedicht (9)

Niemand erzählt mir Neues: so erzähle ich mir mich selber.

 

– Steht in Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ und ist ein hübscher Hexameter!

Sicher, da ist diese dreisilbige Senkung, „-es: so er-„; aber die drei unbetonten Silben sind durch die Zäsur in „eins / zwei“ getrennt, und diese Einheiten ist das Hexameter-Ohr gewohnt … Klopstock hatte auch viele solche Verse in der ersten Auflage seines „Messias“, warum dann nicht auch Nietzsche.

Etwas unschöner ist da schon das „ich mir mich“, eine böse Pronomenshäufung; darin muss man dann „ich“ betonen, soll es wie ein Hexameter klingen. Das geht gut und tönt gut, spätestens nach dem zweiten Versuch.

Der Inhalt jedenfalls scheint mir so schön rund und abgeschlossen – er sollte einfach als Vers daherkommen!

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Die Veröffentlichung

Bisher habe ich noch keinen Eintrag in der Kategorie “Allgemein” abgelegt – das soll sich nun ändern! Grund dafür ist ein Buch von Tony Kellen mit dem gewichtigen Titel “Die Dichtkunst”, erschienen in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg. Darin heißt es ganz am Schluss:

 

Die Veröffentlichung von Gedichten

Dichter lieben nicht zu schweigen,
Wollen sich der Menge zeigen
.
– Goethe

Es kann niemand, dem einmal ein Gedicht gelungen ist, verwehrt werden, es dem Kreisblatt oder dem Generalanzeiger der nächsten Stadt zu schicken, aber wenn es gedruckt wird, so glaube er ja noch nicht, ein großer Dichter zu sein.

Leider lassen sich manche Dilettanten, denen einmal ein Gedicht gedruckt worden ist, durch ihre Eitelkeit verleiten, noch weiter zu dichten, und da es schwer fällt, viele Gedichte in Zeitungen oder Zeitschriften unterzubringen, so sieht der betreffende Dilettant sich bald im Besitze einer ganzen Menge geschriebener Gedichte, die er nun um jeden Preis in Buchform gedruckt sehen will. Erst versucht er es bei einem Verleger, dann bei einem zweiten, dritten, vielleicht sogar zehnten oder zwanzigsten, und wenn er das Manuskript immer wieder zurückerhalten hat, entschließt er sich, die Sammlung auf seine Kosten drucken zu lassen. Es gibt ja jetzt in Deutschland eine ganze Reihe von Verlegern, die lediglich von der Eitelkeit und Dummheit der Dichterlinge leben. Diese Verleger lassen sich die Herstellungskosten mehr als reichlich bezahlen, tun aber nichts für den Vertrieb, weil sie wissen, dass das völlig zwecklos wäre, und schließlich sehen die Verfasser ein, dass sie besser getan hätten, ihre Gedichte ungedruckt zu lassen.

 

Soviel hat sich geändert in den hundert Jahren, die verstrichen sind, seit diese Zeilen geschrieben wurden – aber manches hat sich eben auch gehalten; eine gewisse Sorte von Verlagen, zum Beispiel.

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Ohne Titel

Erst hin, dann her,
Gedankenleer
Und stumm bewegte Vater,
Längst ein Greis, den Schaukelstuhl,
Vor, zurück; das tat er.

Oft stundenlang
Stieg auf und sank
Im Schaukelstuhl der Vater,
Vor, zurück – der stumme Greis
Schaukelte; das tat er.

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Erzählformen: Das Madrigal (4)

Goethes „Faust“ ist ein Studierbuch erster Güte für so gut wie alles, was das Deutsche an „geregeltem Vers“ zu bieten hat – da macht das Madrigal keine Ausnahme! Viele Abschnitte des ersten Teils sind „madrigalisch“ gebaut, ein Beispiel aus „Studierzimmer (2)“, anschließend an das berühmte „Ich bin des trocknen Tons nun satt“:

 

Mephistopheles

Der Geist der Medizin ist leicht zu fassen;
Ihr durchstudiert die groß’ und kleine Welt,
Um es am Ende gehn zu lassen,
Wie’s Gott gefällt.
Vergebens, dass Ihr ringsum wissenschaftlich schweift,
Ein jeder lernt nur, was er lernen kann;
Doch, der den Augenblick ergreift,
Das ist der rechte Mann.
Ihr seid noch ziemlich wohl gebaut,
An Kühnheit wird’s Euch auch nicht fehlen,
Und wenn Ihr Euch nur selbst vertraut,
Vertrauen Euch die andern Seelen.
Besonders lernt die Weiber führen
Es ist ihr ewig Weh und Ach
So tausendfach
Aus einem Punkte zu kurieren,
Und wenn Ihr halbweg ehrbar tut,
Dann habt Ihr sie all unterm Hut.
Ein Titel muss sie erst vertraulich machen,
Dass Eure Kunst viel Künste übersteigt;
Zum Willkomm tappt Ihr dann nach allen Siebensachen,
Um die ein andrer viele Jahre streicht,
Versteht das Pülslein wohl zu drücken,
Und fasset sie mit feurig schlauen Blicken
Wohl um die schlanke Hüfte frei,
Zu sehn, wie fest geschnürt sie sei.

 

Wunderbare Verse, die sich fein bewegen. Da lohnt an jeder Stelle das Hineindenken und -hören?! Zum Beispiel, wie in V4 ein Zweiheber den ersten Satz schließt; dann macht ein langer, wuchtiger Sechsheber den zweiten Satz auf, dem schön ordentlich ein Fünfheber, ein Vierheber und ein Dreiheber folgen; mit dem Dreiheber endet der Satz.

Das sind die Möglichkeiten, die das Madrigal dem Versemacher an die Hand gibt; und Goethe ist bestimmt nicht der schlechteste Ort, um sich nach Beispielen dafür umzusehen. Also, ruhig den „Faust“ mal wieder in die Hand nehmen – lohnt ja ohnehin immer …

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Oder anders

Wirf die Angel aus, riet der Fluss einem gelangweilten Mann, und: trink ein Glas Wasser, riet ihm der Fisch. Der Mann dankte beiden, ging nach Hause und stritt sich mit seiner Frau.