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Bücher zum Vers (27)

Mark Emanuel Amtstätter: Beseelte Töne.
Die Sprache des Körpers und der Dichtung in Klopstocks Eislaufoden.

Klopstock war bis ins hohe Alter begeisterter Schlittschuhläufer und hat diese Tätigkeit auch besungen; und schon selbst Verbindungen gezogen zwischen dem „Tanz auf dem Eis“ und dem „Tanz der Silben“. Amtstätter macht also eigentlich dasselbe wie Hellmuth in der schon vorgestellten „Metrischen Erfindung“, nur von einem etwas anderen Standpunkt aus, das Schwergewicht liegt hier eben auf Klopstocks Eislaufoden, die bei Hellmuth gleichwertig mit anderem behandelt werden. Ein lesenswertes Buch, nicht nur, wenn man KLopstock auf die Schliche kommen will! Erschienen 2005 bei De Gruyter.

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Das Königreich von Sede (43)

Vor Schemels Tür liegt heut ein Kieselstein.
Woher der stammt, vermag er nicht zu sagen.
Hat ihn zur Nacht ein Wandrer hergetragen,
Der schließlich, irritiert von Schmerz und Pein,

Den Schuh bei einer Kerze schwachem Schein
Durchsuchte und den Grund für seine Klagen
Dort fand? Und fortwarf, ohne sich der Fragen,
Die solches Handeln schafft, bewusst zu sein?

Vielleicht ist’s so geschehen.
Doch Schemel weiß es nicht – es zu erfahren,
Fehlt ihm das detektivische Gespür.

Er kann nur eines sehen:
Zum ersten Mal in fünfzig Lebensjahren
Liegt heut ein Kieselstein vor seiner Tür.

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Erzählverse: Der trochäische Vierheber (20)

Wenn Wilhelm Müller nicht gerade an seinen bekannteren Versen gefeilt hat („Am Brunnen vor dem Tore / Da steht ein Lindenbaum“), flossen ihm schon einmal Gedichte wie dieses aus der Feder:

 

Das Versteck der Liebesgötter

Kleine Liebesgötter sitzen
Dir in jedem Lockenringe,
Und aus diesem Hinterhalte
Schießen sie nach mir mit Pfeilen.
Pfeile sind die goldnen Strahlen,
Die aus deinen Haaren leuchten,
Und sie legen sie zum Zielen
Auf die Bogen deiner Augen.

 

Es fällt leicht, diese Verse schlecht zu finden, und ich werde sicherlich niemandem widersprechen, der das tut. Ein anspruchsloses Maß, wie es der Vierheber nun einmal ist, genutzt, um mit schon zu Müllers Zeiten altmodischen Versatzstücken Platitüden unter die Leute zu bringen – ein unpersönliches, schematisches Wortgeklingel. Trotzdem möchte ich solche Texte schreiben können, angepasst ans 21. Jahrhundert, und glaube, dass die Schreibenden etwas verloren haben, wenn sie sich derlei nicht mehr gestatten; man sehe mir diese Wunderlichkeit nach, und auch, dass ich sogar noch einen zweiten derartigen Text anhänge, den Müller wie den ersten und weitere unter „Berenice. Ein erotischer Spaziergang“ versammelt hat:

 

Amors Schere

Amor schleicht mit einer Schere
Um dein Lockenhaupt verstohlen.
Nimm in acht dich vor dem Gotte,
Denn er will das Haar dir scheren,
Weil er sieht, dass alle Herzen
Nur in deinen Locken hängen.
Will er für ein andres Plätzchen
Auch einmal ein Herzchen haben,
Muss er es aus deinen Locken
Erst mit List und Mühe lösen.

 

Offengelegt das Wenige, auserklärt, kein Weg, der irgendwohin führt von hier aus; auch das ein Wert. Wie der Vierheber, der dazu aufs vorzüglichste passt.

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Ohne Titel

nox nemini amica,
die nacht ist niemandes freund
nun ja:
der katzen, machmal;
und manchmal der mäuse.

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Erzählverse: Der Hexameter (33)

Paul Heyses „Thekla“ (1)

Ein Hexameter-Epos, das ich im Moment mal wieder lese. Ich weiß nicht wirklich, was ich davon halten soll … Die Hexameter sind jedenfalls schön, ein wenig zu sehr am antiken Hexameter entlang gedacht, vielleicht, aber das fällt gar nicht auf. Ich schreibe einfach mal zu jedem Gesang einen kurzen Beitrag und weiß dann vielleicht am Ende mehr?!

Heyse entfernt sich nicht allzuweit von der zugrundeliegenden Heiligenlegende. Im ersten Gesang wandern ein Grieche und ein Einheimischer nach Ikonium; Dabei treffen sie auf einen Christen, der sich ihnen anschließt. Als sie in der Stadt eintreffen, feiert man gerade ein Fest zu Ehren der Kybele.

Auf der Wanderung erzählt der Grieche von einem Mann, der ein Kalb am Strick führt, doch plötzlich:

 

Stürmt uns hoch von der Matte zu Tal mit freudigem Brüllen
Eine gewaltige Kuh wie toll und törig entgegen.
Fest auf das Tierlein war ihr glänzendes Auge geheftet,
Denn sie glaubt es das ihre. Nun war das herrlich zu schauen,
Wie aus strotzendem Euter, gewaltsam schwankend im Laufe,
In vier Strahlen die Milch, ein lebendiger Brunnen, herausschoss
Über die Blumen und Gräser, ein Bild kraftsprühenden Reichtums.

 

Entgegen allem, was diese Zeilen vermuten lassen, ist das Epos fast vollständig humorfrei!

Zum Versbau möchte ich nur eine Sache anmerken:

Es ist ja nicht nur, aber besonders auch im Hexameter so, dass innerhalb des Verses die metrischen Grenzen nicht mit den Sinn- und Wortgrenzen zusammenfallen sollten, weil der Vers sonst an zu „klappern“ fängt, sprich: eintönig wird. Ich leihe mir als Beispiel einen Hexameter von Albrecht Schaeffer:

 

Gotthold Efraim Sebulon Sundermann, Meister des Schuhwerks

 

Hier fallen die Wortgrenze bei den ersten vier Füßen immer mit den Grenzen der metrischen Einheiten zusammen:

Gotthold / Efraim / Sebulon / Sundermann, / Meister des / Schuhwerks

Und es leuchtet ein, dass, sollte solcherlei mehrere Verse hindurch geschehen, von der im Hexameter geforderten Abwechslung keine Rede mehr sein kann. Heyse handhabt das natürlich besser:

In vier / Strahlen die / Milch, || ein le- / bendiger / Brunnen, her- / ausschoss

In diesem Vers decken sich metrische Einheit und Sinn- bzw. Worteinheit nie! Diese Spannung ist eines der Dinge, die den Vers so lebendig wirken lassen.

Bei Heyse kommen der Christ und der Grieche, der sich als Philosoph herausstellt, ins Gespräch. Gewichtige Dinge werden verhandelt:

 

Nur das Gemeine verwandelt sich nicht und das Niedre vergeht nicht.
Mit sich eins ist der einzelne nur. Wie Blätter des Waldes
Sind die Gedanken der Völker. Die heut in Blüte gestanden,
Über das Jahr am Boden verfaulen sie, und der Geringste
Tritt sie mit bäurischem Fuß in den Staub, weil über dem Haupt ihm
Neues unendliches Laub um die Blüte der Zukunft gaukelt.

 

Im letzten Vers verzichtet Heyse auf die übliche Schlussformel „X x x / X x“: „Zukunft / gaukelt“. Das ist aber eine seltene Ausnahme!

Am Ende des Gesangs sind aber alle Philosophirereien vergessen und die drei betrachten den Festumzug, der

 

Plötzlich erschien um die Krümme des Wegs. Wie helles Getümmel
Rasender Bienen sich drängt um den brennenden Korb in der Nachtluft,
So vielhäuptig umgab die schwärmende Menge der Göttin
Wandernden Thron. Kienfackeln, im Kreis umwirbelnd, versprühten
Blutigen Schein, und die Cymbel erklang zu den Flöten und Hörnern,
Während die tobende Pauke die fiebernden Sinne verwirrte.

 

Tja, auch in der Antike wusste man zu feiern … Beachtlich die vielen Partizipien.

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Ohne Titel

Schreiend, mit irrem Blick und emporgerissenen Armen
Flieht ein jeder von uns, mehrmals am Tag: vor sich selbst.

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Die Bewegungsschule (15)

Verse in Versen. Das ist so eine kleine Spinnerei von mir … Der Hexameter ist einer der rhythmisch vielfältigsten Verse überhaupt, da kann es nicht verwundern, dass andere, kürzere Verse in ihm enthalten sind. Unser „Bewegungsschulen-Vers“ ist da keine Ausnahme! Ich zeige das an einem zufällig ausgewählten Hexameter aus Johann Heinrich Voss‘ Ilias-Übersetzung, 23,330:

Dort in der Enge des Wegs, wo die ebene Bahn sich herumschwingt

Aus diesem Vers kann man jetzt einen „unserer“ Verse herauslösen!

In der Enge des Wegs, wo die ebene Bahn

In der Enge der Wegs, || wo die ebene Bahn

ta ta TAM ta / ta TAM || ta ta TAM ta ta TAM

Aber es geht auch andersrum – der Hexameter kann in einen Block von drei kürzeren Versen eingefügt werden:

ta ta TAM ta ta TAM || ta ta TAM ta ta Dort
In der Enge der Wegs, || wo die ebene Bahn
Sich herumschwingt TAM || ta ta TAM ta ta TAM

Wenn der herausgelöste Vers nicht erhalten bleiben soll, geht es sogar in zwei kürzeren Versen:

ta ta TAM ta ta Dort || in der Enge des Wegs,
wo die ebene Bahn || sich herumschwingt TAM

EIn Hexameter (sechs Hebungen) füllt also, wie zu erwarten, drei Halbverse „unseres“ Verses (je zwei Hebungen); der vierte Halbvers steht zerschnitten vorne und hinten.

Wie gesagt, das ist Spielerei. Aber vielleicht nicht nur: Denn wie das Abhorchen von Prosatexten auch, hilft ein solches Nachdenken über Verse sicher dabei, das eigene Empfinden für rhythmische Einheiten zu schärfen und zu üben?!

Aber eigentlich wollte ich in diesem Eintrag an den letzten anschließen und zeigen, wie die Wiederholung von rhythmischen Einheiten nicht zur Verstärkung der Wirkung (wie im letzten Eintrag gezeigt), sondern zur Schwächung der Wirkung führen kann; nämlich dann, wenn eine Einheit zu oft wiederholt wird!

Und gerade dafür ist der Hexameter ein sehr gutes Beispiel. In ihm ist, im Gegensatz zum hier vorgestellten Vers ,das taTAMta ohne weiteres möglich, und der Verfasser muss sehr aufpassen, dass diese taTAMta nicht überhandnehmen im Vers und ihn zu gleichförmig werden lassen!

Möglich sind nämlich gleich fünf davon nacheinander. Als Beispiel wähle ich einen der wenigen Hexameter, die Anette von Droste-Hülshoff geschrieben hat:

O, so mögen die Götter der Liebe und Treue euch segnen

O, / so gen / die Götter || der Liebe / und Treue / euch segnen

TAM / ta TAM ta / ta TAM ta || ta TAM ta / ta TAM ta / ta TAM ta

Man versteht, wie leicht da reingestolpert ist; und man hört, dass dieses dauernde taTAMta, ohne irgendeine Abwechslung, das Ohr ermüdet!

Nun ist das, geschieht es nur in einem Vers, sicherlich kein Weltuntergang; und die Verfasserin des gezeigten Verses hat ja auch kaum Hexameter geschrieben, so dass sie vielleicht nicht so genau hingehört hat?! Und überhaupt – Verse dieser Art finden sich bei vielen Verfassern, auch bei Goethe:

Über die Schwelle mir kommen, vom Bücherverleiher gesendet.

– Der Schlussvers seiner zweiten Epistel. Aber wie oft: Goethe darf sowas, der Vers klingt eigentlich gar nicht sooo eintönig?! Alle aber, die nicht sein Sprachgefühl haben, sollten aufpasssen, dass sie nicht durch zu häufige Wiederholung von rhythmischen Einheiten die Verse eintönig werden lassen. Für den Hexameter gab es früher die Daumenregel: Keine Einheit mehr als zweimal direkt hintereinander! Und ich glaube, das kann man so gelten lassen; jedenfalls ist man damit auf der sicheren Seite.

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Erzählverse: Der Knittel (5)

Zuletzt erfuhr er: auf einem Berge,
Nah bei der Wüste am Bache Krit,
Da wohne ein alter Eremit,
Ein Mann, dem Geister, Elfen und Zwerge
Gehorsam wären allzumal;
Er kenne genau der Sterne Zahl
Und jede Kraft in Kräutern und Steinen,
Er mache Wetter, Regen und Wind,
Lasse bei Nacht die Sonne scheinen,
Wenn’s ihm beliebe, sei taub und blind
Vor hohem Alter, und hör‘ und sehe
Doch alles, was auf der Welt geschehe.

 

Ich glaube, so eine Grundvorstellung habe ich inzwischen vermitteln können vom Knittel; damit spricht nichts dagegen, Texte anzugehen, die die Freiheiten dieses Maßes recht weit ausreizen. Der hier vorgestellte Text ist allerdings noch keiner davon! Das ist ein Ausschnitt aus Christoph Martin Wielands „Gandalin“. Wieland konnte Verse fließen lassen wie kaum ein zweiter, und hier nutzt er dafür einen nur mäßig freien Vers:

(x) X / (x) x X / (x) x X / (x) x X / (x)

(Mit X = betonte Silbe, x = unbetonte Silbe, (x) = unbetonte Silbe, die stehen kann, aber nicht muss.) Das kann man sicherlich als Knittelvers auffassen, aber dann ist’s ein sehr braver, der auf drei- oder viersilbig besetzte Senkungen verzichtet und auch vom Zusammenstoß betonter Silben nichts wissen will! Dafür ist aber die Reimstellung freier als in den bisherigen Beispielen.

Das entscheidende aber ist der Wohlklang , der Fluss der Verse, die scheinbar ganz einfach gebaut sind; sobald man es aber selbst versucht, stellt man fest, dass derlei rasend schwierig ist. Ich überlasse daher lieber wieder Wieland das Wort und füge noch einen zweiten Abschnitt aus dem „Gandalin“ hinzu (beide Abschnitte laut zu lesen, gerne mehr als einmal, ist wahrscheinlich eine große Hilfe, wenn man dem „Geheimnis“ der Wielandschen Verskunst auf die Schliche kommen will). Das wäre dann das eine Ende der Möglichkeiten, die sehr sparsame Nutzung der Knittel-Freiheiten; das andere Ende, der großzügige Gebrauch dieser Freiheiten, folgt dann im nächsten Knittel-Eintrag.

 

[…] Aber die Art Liebe,
Die tief im Eingeweid brennt und nagt,
Die alle Lust zu Spiel und Scherzen,
Die Schlaf und Esslust euch versagt,
Und ohne Rast, den Pfeil im Herzen,
Durch Berg und Tal euch treibt und jagt,
Bis ihr erschöpft von Angst und Schmerzen,
Verblutet, lechzend, atemlos
Der schönen Feindin vor die Füße
Hinsinkt, das Köpfchen in ihren Schoß
Verbergt und sterbt, und glaubt wie süße
Der Tod euch schmecke, wenn allenfalls
Ihr glattes Pfötchen um Brust und Hals
Euch noch zur Letze freundlich krabbelt,
Und euer gebrochnes Herzchen wohl gar
An ihrem Busen sich verzabbelt:
Das nenn‘ ich lieben! Nur ist’s rar!

 

Dieser zweite Abschnitt ist ruhiger als der erste insofern, als dass wesentlich weniger Senkungen zweisilbig besetzt sind; viele Verse könnten auch in einem streng alternierenden Text stehen – von Durch Berg …“ bis „vor die Füße“ gleich vier Verse, zum Beispiel. Die wenigen vorhandenen zweihebig besetzten Senkungen reichen aber, um dem Vers sein eigenes Gesicht zu geben und den dem (sehr langen) Text eigenen „Ton“ vernehmbar werden zu lassen?!