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Das Königreich von Sede (19)

Prinz Klappstuhl tritt zum Grabenrand,
Ein dickes Buch in seiner Hand,
Daraus den Fröschen vorzulesen;
Das schlägt er auf, und was gewesen,
Als Boden Sedes König war
So manches längst vergang’ne Jahr,
Zuerst im Glück, doch dann im Leid,
Im Wahnsinn schließlich, lange Zeit –
Der Prinz trägt’s vor, mit klarer Stimme
Nennt er das Gute und das Schlimme,
Und Krieg und Frieden, Lieb‘ und Hass
Beschreibt er ohne Unterlass
Den Fröschen, die im Wassergraben
Sich dicht gedrängt versammelt haben,
Bis endlich, als die Sonne sinkt
Und Dunkel alles Licht verschlingt,
Das Buch sich schließt, und Klappstuhl schweigt;
Und versetrunken sich verneigt.

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Erzählverse: Der Blankvers (16)

Dieses Mal möchte ich eine längere Verserzählung in Blankversen vorstellen: Christoph Martin Wielands „Geron der Adeliche“ (nach altem Vorbild) aus dem Jahr 1777, hier in der Fassung von 1796. Wieland kennen viele heute gar nicht mehr, aber ich finde, er ist jemand, dem man unbedingt zuhören sollte – auch seiner Prosa, aber vor allem seinen Versen. Die sehen trügerisch einfach aus und sind doch alles andere als das!

Los geht es mit einer Rahmenhandlung: König Artus hält im Freien Hof, als ein unbekannter „schwarzer Ritter“ auftaucht und die Anwesenden auffordert, „einen Ritt mit mir zu tun“.

Der König Artus und die dreißig Ritter,
Die um ihn standen, allesamt Genossen
Der Tafelrunde, waren nicht die Männer,
Die sich um sowas zweimal bitten ließen;
Und statt der Antwort liefen alle stracks
Den Bäumen zu, wo ihre Lanzen hingen, und
Die Knappen bei den hohen Rossen standen.

Und Artus und die Ritter alle schwangen
Auf ihre Rosse sich, den Schild am Arm,
Den Speer gefällt, und ritten nach dem Plan,
Wo seinen Stand der fremde Ritter schon
Genommen hatte. König Artus ritt
Der erste. Beide legten ihre Lanzen ein,
Bedeckten mit dem Schilde sich, und rennten
Die Rosse spornend auf einander los,
So mächtig, dass die Erde unter ihrem Stampfen
Erbidmete; und, wie sie nun im Sturm
Zusammentreffen sollten – hielt
Der Fremde seinen Speer hoch in die Luft,
Und fing den derben Stoß des Königs auf
Mit seinem festen Schilde, dass die Lanze
Vom Gegenschlag in tausend Splitter brach,
Und König Artus kaum mit Arbeit sich
Im Bügel fest hielt. Aber unerschüttert saß
Der schwarze Ritter, und, sobald sein Ross
Sich ausgelaufen, schwenkt‘ er, ritt zum König
Hinan, und sprach gar ehrbar: „Edler Herr,
Dass wollte Gott nicht, dass ich meinen Speer
Gebrauche gegen euch! Gebietet mir
Als einem, der zu eurem Dienst aus Pflicht
Und gutem Willen sich gewidmet hat.“

Ein paar ältere Spracherscheinungen sind drin, etwa „(er-)bidmen“ = „(er-)beben“, aber fließt die Sprache nicht wunderbar durch die Verse?!

Der schwarze Ritter besiegt alle Ritter der Tafelrunde und gibt sich dann als Branor zu erkennen, ein wahrlich alter Kämpe:

„Herr König, hundert Jahre schon und drüber
Hab ich erlebt, hab manchen guten Mann
Auf seiner Amme Schoß gesehen, manchen bessern
Begraben helfen. …“

Danach erzählt Branor die eigentliche Geschichte; Gerons. Der war seinem Freund Danayn tief verbunden, durch Liebe und Todesbund; doch dessen Vermählte, die Frau von Maloank, verliebt sich in Geron, und auch andersherum ist sie Gernon nicht gleichgültig; doch aus Treue gegenüber seinem Freund wehrt er alle Angebote ab. Als er dann aber in Danayns Abwesenheit die Frau von Maloank aus den Händen eines Entführers rettet und mit ihr allein ist, wird er doch schwach – sie rasten an einem Brunnen, er legt die Rüstung ab und will zur Geretteten treten; da fällt sein Schwert in den Brunnen, Geron birgt es und kommt zur Besinnung:

„Wo bin ich? – Gott im Himmel! Welche Tat
Zu tun kam ich hierher?“ Die Knie erschlafften ihm
Vor dem Gedanken. Und, sein Schwert noch in der Hand,
Setzt auf den Brunnen er sich hin, der Frau
Den Rücken kehrend, kummervoll, und sinkt
Aus einem traurigen Gedanken in den andern.
Und wie die Dame, die noch kaum zuvor
Ihn froh und wacker sah, so plötzlich ihn
In solche wunderbare Schwermut fallen sieht,
Erschreckt sie des, und weiß nicht, was davon
Sie denken soll. Und um zu sehen, was ihm ist,
Geht sie mit leisen Schritten furchsam hin
Und spricht zu ihm: „Mein Herr, was sinnet ihr?“

Und Geron, ohne ihr zu achten, blickt
Mit starren Augen auf sein Schwert, und gibt
Ihr keine Antwort. Lange harret deren
Die holde Frau, und da er keine gibt,
Tritt sie noch näher hin und wiederholt
Mit sanfter Stimme: „Lieber Herr, was sinnet ihr?“

Und tief erseufzend „Was ich sinne?“ spricht
Der Ritter, „so erbarme Gott im Himmel
Sich meiner Seele, Frau, als ich nach dem,
Was ich an meinem Bruder Danayn
Begangen, länger nicht zu leben würdig bin!“

Dann stößt er sich das Schwert durch den Leib, sie verhindert, dass ers nochmal tut, Danayn erscheint und will helfen, Geron verweigert die Hilfe,  nimmt sie schließlich doch an und gesundet nach und nach; für die Frau von Maloank war das alles aber zuviel, sie bekommt hohes Fieber und stirbt drei Tage später – Ende der Geschichte.

Erzählt hat sie Branor sicher nicht unabsichtlich in der Gegenwart von Königin Genievra und Lancelot:

Die Königin, die, während er erzählte,
Bald todblass worden war, bald feuerrot,
Rief, ihre Unruh zu verbergen, seufzend aus:
„’s ist eine traurige Geschichte! „Und wie ging’s
Nun eurem Geron weiter?“ – fragte Lancelot.
„Nach der Geschichte“, spricht der alte Branor, „hab
Ich nichts mehr zu erzählen.“

Rittergeschichten also … Muss man nicht mögen. Ich tu’s, aber selbst, wenns anders wäre; diese Szene am Brunnen hätte sich mir auf jeden Fall eingeprägt. „Mein Herr, was sinnet ihr?“

Und der Einstieg, der „Ritt“ von Artus und Branor – ganz große Verskunst!

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Die Korrelation (2)

Auch Shakespeare hat sich der Korrealtion bedient, etwa bei Ophelias Klage um den so verändert erscheinenden Hamlet:

O, what a noble mind is here o’erthrown!
The courtier’s, scholar’s, soldier’s, eye, tongue, sword;
Th‘ expectancy and rose of the fair state,
The glass of fashion and thie mould of form,
Th‘ observ’d of all observers – quite, quite down!

In zweiten Vers baut Shakespeare, statt einfach the „courtier’s eye, the scholar’s tongue, the soldier’s sword“ zu sagen, zwei korrelierende Dreiergruppen!?

A.W. Schlegel hat in seiner klassischen Übersetzung diese Gruppen aufgelöst:

Oh, welch ein edler Geist ist hier zerstört!
Des Hofmanns Auge, des Gelehrten Zunge,
Des Kriegers Arm, des Staates Blum und Hoffnung,
Der Sitte Spiegel und der Bildung Muster,
Das Merkziel der Betrachter: ganz, ganz hin!

Das klingt … anders. Weniger überraschend, gewöhnlicher?! Der Vergleich zeigt jedenfalls ganz gut, was mit einer solchen Korrelation erreicht werden kann.

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Das Duett vom Schienenfett

Dem Bahnhof sein Gelände.
Ein Paar sitzt auf der Schiene,
Sie hübsch, er deutlich bärtig.

ER:
Ende

SIE:
Fertig

ER:
Ende

SIE:
Fertig

ER:
Ende

SIE:
Fettich

ER:
Fettich?

SIE:
Margariiine!

Schon sind sie aufgesprungen
Und haben losgesungen:

Das Duett von Schienenfett

BEIDE:
Wir sind schon lange durchgedreht.
Damit es jedem Rad so geht,
Wolln wir heut Fett verteilen.

So singen sie und eilen
Davon auf allen vieren
Und krabbelnd, robbend schmieren
Sie Fett auf jede Schiene –
Bis sie sich leere Dosen zeigen.

SIE:
Fertig?

ER:
Ende

Der Rest ist Schweigen.

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Bücher zum Vers (9)

Hugo Friedrich: Epochen der italienischen Lyrik

Dieser Band ist weder besonders aktuell (er ist 1964 bei Klostermann erschienen) noch übermäßig handlich mit seinen 800 Seiten – trotzdem empfehle ich ich ihn auch denen, die kein Italienisch können (kann ich auch nicht); die sich bisher nicht für Sonette, Canzonen und Madrigale interessierten; die bisher nicht gekümmert hat, was und wie Dante, Petrarka, Tasso, Michelangelo und Marino (das sind die Autoren, die ein eigenes Kapitel bekommen haben) geschrieben haben. Man kann wirklich eine Menge mitnehmen, denn: Friedrich bietet einmal allgemeine Gedanken zur Lyrik, die er an den besprochenen Autoren und Zeiten entwickelt; er übersetzt viele italienische Gedichte in anziehender Weise; er bespricht die Texte der jeweiligen Autoren sehr fachkundig; und er zeigt Entwicklungen und Entwicklingslinien auf, was gerade für die oben genannten Autoren, die ja weit und lange über Italien hinausgewirkt haben, sehr nützlich ist. Also, wer den Band mal in die Hände bekommt: Auf jeden Fall reinschauen!

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Die Korrelation (1)

„Korrelation“ meint im Gedicht die Beziehung von räumlich getrennten Wörtern und Wortgruppen. Im einfachsten Fall gibt es zwei Grundbausteine, zum Beispiel zwei Substantive, die um weitere Bausteine ergänzt werden – Prädikate, Adjektive, Appositionen, alles, was denkbar ist; doch diese Ergänzungen stehen nicht in direkter Nachbarschaft der Substantive, sondern werden auf die folgenden Verse verteilt.

Ein Beispiel gibt das erste Quartett eines Sonetts, das Georg Rodof Weckherlin auf Martin Opitz geschrieben hat, den berühmten Schulmeister der deutschen Barockdichtung:

Indem mein Ohr, Hand, Mund schier müd, die schweren Plagen,
Die dieser große Krieg mit Hunger, Schwert, Pest, Brand
Und unerhörter Wut auf unser Vaterland
Ausgießet, ohn Ablass zu hören, schreiben, klagen,

– Der Dreischritt „zu hören, schreiben, klagen“ des vierten Verses bezieht sich auf das „Ohr, Hand, Mund“ des ersten Verses!

Solche Korrelationen kennt die europäische Dichtung seit vorchristlicher Zeit. Maßvoll eingesetzt, sind sie sehr wirkungsvoll und können einem Text viel Gutes tun! Allerdings ist die Gefahr groß, die Dinge zu übertreiben. Vom in Weckherlins Sonett gepriesenen Martin Opitz stammt dieses Alexandriner-Couplet:

Die Sonn’, der Pfeil, der Wind, verbrennt, verwundt, weht hin,
Mit Feuer, Schärfe, Sturm, mein’ Augen, Herze, Sinn.

Zweifellos keine große Dichtung, aber doch ein gutes Beispiel, wie solche Korrelationen aussehen können, wenn sie als Kunststück aufgefasst und auf die Spitze getrieben werden! Schreibt man die vier Halbverse untereinander …

Die Sonn’, der Pfeil, der Wind,
verbrennt, verwundt, weht hin,
Mit Feuer, Schärfe, Sturm,
mein’ Augen, Herze, Sinn.

… kann man die zerlegten Sätze wieder zusammensetzen, indem man sie wie Spalten von oben nach unten liest: „Die Sonn‘ verbrennt mit Feuer mein‘ Augen“, „Der Pfeil verwundt mit Schärfe mein Herze“, „Der Wind weht hin mit Sturm mein‘ Sinn“. Wie gesagt: Keine große Dichtung, aber eine sehr ansprechende Gestaltungsmöglichkeit! Ich möchte daher in einigen Beiträgen verschiedene Beispiele vorstellen von Korrelationsgedichten, sowohl solche, in denen maßvoll korreliert wird, als auch solche, in denen haltlos übertrieben wird. An den Schluss diesen Beitrags möchte ich einen Gedichtanfang Johann Wolfgang Goethes stellen:

Will ich die Blumen des frühen, die Früchte des späteren Jahres,
Will ich was reizt und entzückt, will ich, was sättigt und nährt,

In diesem Distichon werden die „Blumen“ und die „Früchte“ des Hexameters im Pentameter durch „reizt und entzückt“ und „sättigt und nährt“ nachträglich & korrelativ ergänzt! Das wirkt ganz anders als bei Weckherlin & Opitz; besser, weil ungezwungener und fließender.

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Das Königreich von Sede (18)

„Schemel, du des alten Königs
Alter Narr: Da das Geschirr nun
Abgetragen wird und alle
Satt sind, satt und wohlig müde –
Magst du uns, den Tag zu schließen,
Nicht die alten Lieder singen?“
Schemel griff nach seiner Laute,
Schloss die Augen und besann sich,
Wählte aus den vielen Liedern,
Drin das Früher wohl bewahrt ist,
Eines aus, Der alte Weise,
Das den Hörern wohl vertraut war,
Und ließ seine Stimme schallen.

Schaukelstuhl, der alte Weise,
Trat zur Wiege eines Jungen,
Sah ihn an und klagte leise:
„Kleiner Prinz, mit deinen Taten
Willst du Gutes, doch mißlungen
Ist die Zukunft dir schon heute.
Ach ihr Zeiten, ach ihr Leute,
Ach ihr Welten seid verraten!“

Da begann das Kind zu weinen:
„Soll mir also nichts gelingen?
Werde ich denn nichts vollbringen,
Was die Sänger preisen werden?
Warum hast du mich geboren,
Königin, ein Fluch den Meinen!
Bin ich wirklich auserkoren
Allen Fluch zu sein auf Erden?“

Schaukelstuhl, der alte Weise,
Fand die Königin im Garten,
Sah sie an und klagte leise:
„Majestät, tiefschwarze Saaten
Ruhen in dem Knaben, warten,
Wollen ihn ins Unglück leiten.
Ach ihr Welten, ach ihr Zeiten,
Ach ihr Leute seid verraten!“

Da begann die Frau zu weinen:
„Keine Schuld, von der wir wissen,
Nichts, das wir bedauern müssen,
Trotzdem soll das Glück ihn meiden?
Unter all den Männern, Frauen
Dieses Landes gibt es keinen,
Der dem Gott mit mehr Vertrauen
Dient, und wir, wir müssen leiden?“

Schaukelstuhl, der alte Weise,
Starb und kam in Donmas Hallen,
Sah ihn an und klagte leise:
„Viele Menschen flehten, baten,
Taten viel, dir zu gefallen –
Willst du’s ihnen nicht vergelten?
Ach ihr Leute, ach ihr Welten,
Ach ihr Zeiten seid verraten!“

Da begann der Gott zu weinen:
„Hilfe würd ich gerne bringen
All den Menschen, die da singen,
Die da beten, lauthals flehen,
Hoffen auf des Gottes Segen,
In den Tempeln, vor den Schreinen:
Doch das Schicksal steht dagegen,
Nur sein Wille wird geschehen.“

Schaukelstuhl, der ewig weise,
Ward geboren, hob die Augen,
Sah die Welt und klagte leise:
„Kein Gedanke, keine Taten,
Kein Gebet kann etwas taugen,
Denn wir sind des Schicksals Beute.
Ach ihr Zeiten, ach ihr Leute,
Ach ihr Welten seid verraten!“

Schemel ließ das Lied verklingen,
Leise in die Nacht verklingen,
Und die Gäste saßen schweigsam,
Still bedenkend, was der Vorzeit
Weiser Rat für sie bedeute:
Lange Zeit im weiten Dunkel.