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Erzählverse: Der iambische Trimeter (5)

Neben der „antiken Auflockerung Spondäus“ , die im letzten Beitrag vorgestellt wurde, besitzt der Trimeter noch einige andere Möglichkeiten, das starre „Auf und Ab“ zu mildern. Allerdings werden diese Möglichkeiten sehr sparsam eingesetzt – kein Vergleich etwa zum Blankvers! Es müssen schon besondere Umstände vorliegen, wenn derlei gehäuft auftreten soll.

Als Beispiel habe ich „Kriegerisches“ ausgesucht. Einmal, als Beispiel für den nicht abgewandelten Trimeter, einige Vers aus August von Platens „Der romantische Ödipus“. Der war auch ganz wirklich Teil einer kriegerischen Auseinandersetzung: Heinrich Heine hatte in ein Werk Epigramme von Karl Immermann aufgenommen, von denen Platen sich angegriffen fühlte – da ließ er im „Ödipus“ also einen „Nimmermann“ auftreten, an den gegen Ende der „Verstand“ sein Verdammungsurteil spricht:

Und kraft der Vollmacht, welche mir die Kunst verlieh,
Und kraft des Scherzes, welchen ich bemeistere,
Der unter meinen Händen fast erhaben klingt,
Als wär’s der Andacht hoher Ernst, und kraft der Kraft
Zerstör‘ ich dich und gebe dich dem Nichts anheim.

Da ist kein Wackeln, keine Lockrung; unerbittlich schreitet der Vers seinen strengen Gang! Ein paar Verse später:

Und aus dem Schoße schütteln dich die wenigen,
Die noch geneigt dir waren, wie gemeinen Staub.
In meinen Waffen spiegle dich, erkenne dich,
Erschrick vor deiner Hässlichkeit und stirb sodann!

Alles nicht sonderlich nett, aber nichts im Vergleich zu dem Angriff gegen Heine, der gegen dessen Judentum ging; und nichts gegen Heines Gegenangriff, der von Platens Homosexualität aufs Korn nahm. Unschöne Szenen, hüben wie drüben …

Na, für den Vers ist wichtig: Keine Auflösungen, keine Abweichungen! Dagegen stelle ich einen Ausschnitt aus Friedrich Schillers „Die Jungfrau von Orleans“, wo die „Montgomery-Szene“ in Trimetern gehalten ist. Montgomery fleht Johanna auf dem Schlachtfeld um sein Leben an; sie anwortet:

Stirb Freund! Warum so zaghaft zittern vor dem Tod,
Dem unentfliehbaren Geschick? – Sieh mich an! Sieh!
Ich bin nur eine Jungfrau, eine Schäferin
Geboren, nicht des Schwerts gewohnt ist diese Hand,
Die den unschuldig frommen Hirtenstab geführt.
Doch weggerissen von der heimatlichen Flur,
Vom Vatersbusen, von der Schwester lieber Brust
Muss ich hier, ich muss, mich treibt die Götterstimme, nicht
Eignes Gelüsten – euch zu bittrem Harm, mir nicht
Zur Freude, ein Gespenst des Schreckens würgend gehn,
Den Tod verbreiten und sein Opfer sein zuletzt!
Noch vielen von den euren werd ich tödlich sein,
Noch viele Witwen machen, aber endlich werd
Ich selbst umkommen und erfüllen mein Geschick.
– Erfülle du auch deines. Greife frisch zum Schwert,
Und um des Lebens süße Beute kämpfen wir.

Auch hier ein ruhiger Beginn, bestenfalls ein Zeilensprung wäre erwähnenswert; aber dann diese beiden Verse:

Muss ich hier, ich muss, mich treibt die Götterstimme, nicht
Eignes Gelüsten – euch zu bittrem Harm, mir nicht
(zur Freude, …)

Hier löst sich, dem Inhalt und Johannas Gemütszustand entsprechend, der Grundaufbau des Trimeters fast auf! „Muss ich“ ist eine zweisilbige Eingangssenkung, die erste Betonung ist das herausgehobene „hier“; dann folgt ein scharfer Zeilensprung, der das „nicht“ noch einmal heraushebt. Der zweite Vers beginnt mit einer versetzten Betonung, statt „x X x X x“ geht es bis zum Einschnitt „X x x X x“, „Eignes Gelüsten“! Schließlich das herausgehobene „mir“ am Ende: alle bisherigen Heraushebungen waren betonte Silben, hier wird jetzt eine eigentlich unbetonte Silbe ausgezeichnet und muss daher vom Sprecher verstärkt vorgetragen werden; es entsteht also gleichsam ein „Spondäus“ am Versende, denn „nicht“ ist keinesfalls unbetont: „mir nicht„, „X X“!
Nach diesem Ausbruch beruhigt sich der Vers wieder und findet in sein regelmäßiges „Auf und Ab“ zurück; auch die Zeilensprüge sind weniger hart.

Wobei diese „doppelt besetzte Eingangssenkung“ ein klein wenig gefährlich ist, den der Leser muss sie ja auch sehen und hat an dieser Stelle – links steht nichts! – weniger Halt dafür als im Versinneren. Da kommt die zweisilbige Senkung auch vor bei Schiller, gleich im Anschluss! Montgomerry ist gefallen, Johanna ergreift noch einmal das Wort:

In Mitleid schmilzt die Seele und die Hand erbebt,
Als bräche sie in eines Tempels heil’gen Bau,
Den blühenden Leib des Gegners zu verletzen,
Schon vor des Eisens blanker Schneide schaudert mir,
Doch wenn es Not tut, alsbald ist die Kraft mir da,
Und nimmer irrend in der zitternden Hand regiert
Das Schwert sich selbst, als wär es ein lebend’ger Geist.

„blühenden“, „zitternden“ (sehr sinnig) sind zwei Beispiele für eine doppelt besetzte Innensenkung. Das Schiller die schon ganz bewusst gesetzt hat, lässt sich auch vermuten angesichts der verkürzten „heil’gen“ und „lebend’gen“?!

Bemerkenswert noch:

Den blühenden Leib des Gegners zu verletzen,

– Dieser Vers ist außerdem auch noch fünfhebig, und endet auf eine unbetonte Silbe! Eigentlich also ein Blankvers inmitten all der Trimeter. Oder eben, durch die Umgebung bedingt, ein stark aufgelockerter Trimeter; wie mans sehen will …

Auf jeden Fall ganz starke Verse meiner Meinung nach! Und Schiller hat der Trimeter auch sehr zugesagt; aber er ist als Vers eben doch weniger beweglich und anpassungsfähig als der Blankvers und hat sich auch darum als Dramenvers nicht durchsetzen können.

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Dr. Sotz begegnet einem Hund

Als Dr. Sotz auf seiner Bank im Park saß,
Und Zeitung las: da ging ein Hund vorüber,
Den Sotz, ins wirre Weltgeschehn versunken,
Nicht sah. Und doch, ich weiß nicht wie, bemerkte,
Denn schmierte er am nächsten Morgen nicht,
Wie er es stets tat, eine Käsestulle,
Und auch, zum ersten Mal in seinem Leben,
Ein Leberwurstbrot? Mittags dann, im Park,
Als her vom Dom das Zwölf-Uhr-Läuten scholl,
Nahm er die beiden Brote aus dem Rucksack,
Und kam der Hund zurück von seiner Reise.
Der Doktor sah den Hund, der Hund den Doktor –
Der eine lud den andern ein, das Wurstbrot
Fraß stillvergnügt der Hund, die Käsestulle
Genoss der Doktor. Und als dies getan,
Begab der Hund sich auf den Weg nach Hause,
Und Dr. Sotz schlug seine Zeitung auf.

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Das Ein-Vers-Gedicht (1)

Die meisten Beiträge dieses Blogs drehen sich um „Erzählverse“, also um die Frage, wie man welche Verse benutzen kann, um Erzählgedichte zu schreiben; die dann schon einmal eine drei- oder gar vierstellige Zahl von Versen lang sein können!

Das Ein-Vers-Gedicht soll ein kleines Gegengewicht dazu sein. Unter diesem Titel versammeln sich Gedichte, die genau einen Vers lang sind!

Solche Gedichte sind eine Teilmenge der sogenannten „Monosticha“, womit alle Gedichte gemeint sind, die eine Zeile lang sind. Solchen Gedichten kann ein Vers zugrundeliegen, muss es aber nicht; bei den hier vorgestellten Gedichten ist immer ein Vers die Grundlage, oft dieselbe Art Vers, die gereiht ein Erzählgedicht ergibt.

Im ersten Beispiel ist der verwendete Vers der Trimeter. Das Gedicht stammt von Friedrich Rückert:

 

Gib jedem seine Stelle, so hat alles Platz.

 

Das klingt jetzt nicht unbedingt wie ein Gedicht – ist das nicht ein „Aphorismus“, also Prosa?! Nein, und das aus zwei Gründen:

– Der Text erfüllt die metrischen Vorgaben eines Trimeters, eingeschlossen den Einschnitt nach der siebten Silbe (der zusammen mit dem nach der fünften Silbe am häufigsten ist; für die Einzelheiten bitte ich, in den Beiträgen der Kategorie „Der iambische Trimeter“ nachzuschauen):

x X / x X / x X / x || X / x X / x  X

Gib je– / dem sei– / ne Stel– / le, || so / hat al– / les Platz.

– Der Text stammt aus einer Gedichtsammlung, Rückerts „Liedertagebuch 1847“, wo es unter dem 27. März eingetragen ist inmitten anderer Gedichte, die oft  aus (mehreren) Trimetern bestehen!

Der Inhalt passt ganz gut zu der hier vorgestellten Gedichtart, denke ich; denn in einem Vers, vor allem, wenn es ein längerer ist wie zum Beispiel ein Hexameter, lässt sich wirklich sehr viel unterbringen – man muss nur „jedem seine Stelle geben“, wie Rückert sagt!

Zum Abschluss noch ein anderer „Einversgedicht-Trimeter“ Rückerts:

 

Von aller Arbeit ist die schwerste Müßiggang.

 

x X / x  X / x  || X / x X / x X / x X

Von al– / ler Ar– beit || ist / die schwers– / te– / ßiggang.

Diesmal mit dem Einschnitt nach der fünften Silbe … Der Inhalt scheint mir eine gerade an den Weihnachtstagen erinnernswerte Lebensweisheit zu sein?!

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Das Königreich von Sede (11)

Der Torfrosch
Aus Prinz Klappstuhls Jugendtagen

Wohin sich Schemel wandte,
Als er ganz früh am Morgen
Durchs Schlosstor trat und fortging,
Die Laute an der Seite,
Im Rucksack ein Stück Käse,
In Noten eingeschlagen,
Und frisches Brot, und Butter,
Und alten Wein, drei Flaschen?

Wer wüsste es zu sagen …

Prinz Klappstuhl wohl, der heimlich
Des Königs Narren nachging,
Bemüht, nicht mit der Schaufel,
Der Hacke nicht zu klappern,
Die er geschultert hatte;

Der König auch, der später,
Dem Sohn, dem Narren fluchend,
Den Aufbruch zweier Wachen
Vom Fenster aus verfolgte –
Vom Schloss begab das Paar sich
Zur alten Königsstraße
Und eilte sie hinunter,
Auf Weisung ihres Königs
Zu finden Narr und Jüngling
Und sicher zu geleiten
Zur Burg von König Boden.

„Komm, Schemel! Schnell! Ich habe was gefunden!“
Aufseufzend legt des Königs alter Narr
Die Laute fort, auf der er viele Stunden
Geübt hat, bis sich Bodens Ehre klar
Und rein aus den elf Saiten hob, und schlendert
Zum Tor; und findet alles dort verändert.

Wo sich im Wind sonst Gras und Blumen wiegen,
Starrt Loch an Loch, türmt nackte Erde sich
Und sorgsam ausgemachte Sträucher liegen
Verstreut herum; und Frösche, wunderlich
Aus Stein gehau’ne Frösche, klein wie Hände,
Wie Köpfe groß: Bevölkern das Gelände.

„Bei Bodens Bart!“, flucht Schemel, „soviel Wächter
Hast du entdeckt, in Grün, in Braun, groß, klein?
Läufts gut, entdecken Gräber drei, läufts schlechter,
Im ganzen Jahr nicht einen Wächterstein;
Du holtst mir mehr, und hast nur einen Tag gegraben!
Ans Licht, als alle je gefunden haben –

Mein Junge, du erstaunst …“ Er spricht nicht weiter,
Denn nun hat er im Wirrwarr jenes Loch
Bemerkt, fünf Meter lang, ein wenig breiter
Und tief, sehr tief, drin Klappstuhl steht und doch
Von Kopf bis Fuß zu sehn ist, denn: er steht auf
Des Torfroschs Haupt! Der Narr erbleicht und geht auf

Die Grube zu, und schaut hinein – ein Teil nur
Des Riesenfrosches sieht bereits das Licht,
Noch grün an manchen Stellen und ganz heil, nur
Zerfurcht und voller Risse. Doch nun bricht
Ein Stück der Lippe weg zu Klappstuhls Füßen,
Er wankt; und fällt; und muss den Leichtsinn büßen,

Der seinen Fund ihn hat erklettern lassen.
Der Narr bemerkt das Unglück, streckt die Hand
Ins Loch hinaus, den Prinz im Sturz zu fassen –
Es glückt; glückt nicht, ihn ziehts vom Grubenrand!
Sie schlagen auf: Verstand und Geist erlöschen
In Prinz und Narr, und wandern zu den Fröschen.

„Drei Vögel auf dem Schornstein!“
Der alte König Kanapee
Sitzt müßig mit dem Seher,
Mit Pulverfass im Garten,
Die Sonne zu genießen
Und Bodens Burg zu spielen;
Doch plötzlich schweift des Sehers
So scharfer Blick ins Nichts ab,
Mit schräggelegtem Haupte
Scheint er gespannt zu lauschen –
„Entschuldigt mich, mein König,
Es kommen eben Dinge,
Die schliefen, in Bewegung,
Und mir erscheint es nötig,
Vom Turm aus zuzusehen.“
Und Pulverfass erhebt sich,
sagt, um das Spiel zu enden,
„Zwei Frösche, tief im Brunnen!“
Mit seltsam ernster Stimme,
Verbeugt sich vor dem König
Und geht zuerst, und läuft dann
Vom Garten aus zum Nordturm.

Tief erschreckt durch des Torfroschs Schmerz,
Hingestreckt durch des Torfroschs Schmerz –
Narr, erwache! Zur Schwermut sei
Auferweckt durch des Torfroschs Schmerz …

Nur leise noch erklingt in Schemels Sinnen
Ein Quarren, Frosch- und doch auch Menschenwort;
Ein fernes Flüstern jetzt, jetzt ein Verrinnen
Ins stille Nichts, ins Schweigen – es ist fort,
Und Schemel stöhnt und regt die sichen Glieder,
Steht auf – schwankt – steht! Das Leben hat ihn wieder.

Der Prinz ist gleichfalls wach, auch er zerschunden,
Zerbeult, zerschürft, mit schwarzem Blut bedeckt;
Doch wie der Narr ganz frei von schweren Wunden,
Und wie der Narr im Innersten verschreckt:
„Was ist nach unsrem Sturz mit uns geschehen?
Ein Quarren hörte ich und konnt’s verstehen,

Es sagte, sagte … Weh! Ich hab’s vergessen!“
„Was hier geschieht“, sagt Schemel, dessen Blick
Den Torfrosch mustert, „kann ich nicht ermessen;
Ich weiß nur eins, wir wandern bald zurück
Zum Schloss – ah, Junge, hier! Die Beine neigen
Sich weit genug, um dran emporzusteigen!“

Den Frosch hinauf, zum Grubenrand – sie springen
Und landen weich, und liegen keuchend da,
Beruhigen sich; der Schmerz lässt nach; sie zwingen
Sich aufzustehn, und Schemel sagt: „Das war
Der leichte Teil; den Torfrosch zu verhüllen,
Gilt’s nun, das Loch mit Erde aufzufüllen,

Bevor die Wachen kommen und ihn sehen –
Die Schaufeln her!“ „Das Loch …“ Der Prinz erbleicht.
„Mit einer Schaufel? Krank?! Wie soll das gehen!“
„Es muss. Wenn jemand dieses Loch erreicht,
Hineinschaut, und bemerkt … nein! Nein! Wir müssen
Verhindern, dass noch andre davon wissen!“

Prinz Klappstuhl stöhnt, und greift zur Schaufel; sticht sie
Ins Erdreich, hebt es, wirft es müd‘ hinab,
Er sticht – und diesmal folgt die Erde nicht, sie
Bewegt sich, krümelt von der Schaufel ab,
Bewegt sich selbst und hüpft, wie Frösche hüpfen,
Zum Grubenrand, von dort ins Loch zu schlüpfen.

Nun regt sich hier, nun da ein wenig Erde,
Verklumpt, bewegt sich, hüpft zur Grube hin –
Nun überall, die sprunggewalt’ge Herde
Gehorcht, wer könnte sagen, welchem Sinn
Und stürzt ins Loch, den Torfrosch zu verstecken;
Und kurz darauf ist nichts mehr zu entdecken.

Um nichts zu früh! Die Wachen,
Die aufgebrochen waren,
Im alten Wald zu jagen,
Sind nun zurück und gaffen
Den Prinzen an, den Narren,
Die ausgemachten Sträucher,
Die ausgegrab’nen Frösche,
Die schwarze, nackte Erde
Und öffnen schon die Münder,
Um Fragen über Fragen
An Narr und Prinz zu richten –
Vergebens! Schemel heißt sie,
Die Sträucher neu zu pflanzen,
Die Frösche aller Größen
Zu sammeln und im Wachhaus
Behutsam abzulegen;
Dann wählt er einen kleinen,
Ihn mit ins Schloss zu nehmen,
Und heimwärts geht die Reise!

Beim Licht von Mond und Sternen
Erreichen schließlich Klappstuhl
Und Schemel wund das Schlosstor,
Durchschreiten es, begeben
Sich still zu ihren Räumen,
Entkleiden sich und waschen
Den Schmutz von ihren Gliedern,
Verbinden ihre Wunden
Und kriechen in die Betten,
Ein wenig Schlaf zu finden:

Zugedeckt von des Torfroschs Schmerz.

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Bücher zum Vers (5)

Walter Mönch: Das Sonett. Gestalt und Geschichte.

Der Klassiker unter den deutschsprachigen Büchern zum Sonett, erschienen in Heidelberg, bei Kerle, im Jahr 1955; also kurz nach der letzten großen „Sonett-Welle“ im Deutschen. Mönch unterteilt sein Buch in die Bereiche „Gestalt und Wesen des Sonetts“ und „Geschichte des Sonetts“, wobei er die Sonettistik aller europäischen Sprachen im Blick behält. Ein guter Gesamtüberblick also, der auch heute noch sehr empfehlenswert ist und eigentlich von jedem, der sich ernsthaft mit dem Sonett beschäftigen will, gelesen werden sollte. Der Ton ist angenehm, und auch, wenn man Mönch nicht immer beipflichten wird, liest man seine Ausführungen doch gerne. Ein Beispiel vom Ende des ersten Teils (S.50):

Man möchte im Sonett als einer Gestalt so etwas wie die platonische Idee einer reinen Form suchen: einer reinen, absoluten, von den Zufälligkeiten jedweden Inhalts gelösten Form, die „an sich“ da ist, und die, wenn sie in die Welt der Erscheinungen tritt, in hundert Facetten schillert und sich mannigfaltig rhythmisieren und artikulieren lässt.  Die Idee des Sonetts, seine reine Form, gehört gleichsam dem „mundus intelligibilis“ an, jedes einzelne, mit konkretem Inhalt gefüllte Sonett dem „mundus sensibilis“. „Jede Form, sie kommt von oben“, steht über Goethes Sonettenzyklus. Die Form, das platonische Eidos, ist stärker als das irdische Abbild, ist dem Wandel des Zufälligen entzogen: Die Form des Sonetts, mag sie italienisch, französisch, englisch sein – allen dreien liegt eine Urform zugrunde -, bleibt als solche, ob sie von den Dichtern der Renaissance, des Barocks, der Klassik, der Romantik, des Parnass oder Symbolismus benutzt wird; sie bleibt auch, mag das Sonett idyllisch oder satirisch, religiös oder grotesk, philosophisch oder elegisch, impressionistisch oder expressionistisch sein. Das Sonett ist die Idee einer Form schlechthin, unabhängig von Ton, Färbung, Inhalt.

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Das Königreich von Sede (10)

Schemel schnarcht. Ermattet vom langen, grübelnden Wandern
Hat sich der alte Narr am äußersten Rande des Waldes,
Hingelehnt an den Stamm einer weithinschattenden Eiche,
Kurz zur Ruhe begeben – und schnarcht. Das hört in der Krone,
Hoch, wo vom dünneren Aste der Menschen seltsames Treiben
Jenseits des Walds, auf der Straße, am Schloss und am Tintenfässchen
Gut zu beobachten ist: die Grübeleule, und schaut nun
Still auf Schemel hinab mit zärtlich-verärgerten Blicken.

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Rübensinnig

Zur Nacht und im Dunkeln,
Bei gar keinem Licht
Begegnen zum Schunkeln
Sich Menschen im Dunkeln
Auf Feldern voll Runkeln,
Doch sieht’s niemand nicht
Zur Nacht und im Dunkeln,
Bei gar keinem Licht.

Es ist zwar den Rüben
Nicht recht, dass zur Nacht
die Menschen beim Üben
Des Schunkelns die Rüben
Von Hüben nach Drüben
Bewegen (das macht
Die schlafenden Rüben
Hellwach in der Nacht),

Doch will wer im Dunkeln,
Bei gar keinem Licht,
Den Menschen, zum Schunkeln
Entschlossen, im Dunkeln
Auf rübisch zumunkeln
„Ach Freunde, jetzt nicht!“,
Verhallt es im Dunkeln,
Bei gar keinem Licht.

So schweigen die Rüben
Die sämtliche Nacht.
Sie wissen: Das Üben
Des Schunkelns in Rüben
Passiert stets in Schüben,
was nicht so viel macht:
Es kostet die Rüben
Pro Jahr eine Nacht.

Schon träumen im Dunkeln,
Bei gar keinem Licht,
Die Felder vom Schunkeln
Der Menschen im Dunkeln,
Schon hoffen die Runkeln
Auf besseres nicht
Als Ruhe im Dunkeln,
Bei gar keinem Licht.

 

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Erzählverse: Der Blankvers (12)

In den ersten elf Teilen von „Erzählverse: Der Blankvers“ sind die formalen Eigenheiten des Verses ausreichend zur Sprache gekommen, scheint mir?! Daher möchte ich im weiteren vor allem die eigentlichen Texte wirken lassen und auf den Versbau betreffende Dinge nur noch im Ausnahmefall eingehen!

Christian Morgenstern hat viel mehr geschrieben als die „Galgenlieder“ und „Palmström“; zum Beispiel den folgenden, recht kurzen Blankvers-Text, der aber trotzdem ein vollwertiger Erzähltext ist!

 

Die beiden Nonnen

Ich müsst‘ es malen, solltet ihr sie sehen,
wie ich sie sah, die beiden schwarzen Schwestern:
Allein sich glaubend im beschneiten Walde,
der Jugend süße Ungeduld nicht zügelnd,
mit einem Male Menschen, Mädchen, Kinder.
Die Kleider flogen um die leichten Füße,
die Hüften wiegten sich, und jubelnd jagten
sie sich mit weißen Bällen durch die Bäume …
Ein schwerer Ast begrub sie fast in Flocken …
Ein Reh erschreckte sie, – und wie des Schreckens
sich schämend, klatschten toll sie in die Hände …
Dann stellten sie sich plötzlich gegenüber
und maßen ihre Kraft, die offnen Finger
verstrickend, bis die eine lachend kniete …
Und fort und fort so heitre Kurzweil treibend,
entschwanden sie dem nicht geahnten Späher,
bis selbst die Stimmen, heller Lieder selig,
im Winterwald sich endlich fern verloren.

 

„Ich müsst‘ sie malen“ – nicht unbedingt. Morgenstern stellt „die beiden schwarzen Schwestern“ sehr anschaulich hin vor das Auge des Lesers?!

Das „heller Lieder selig“ des Schlusses hat mich beeindruckt und so, leicht abgewandelt, seinen Weg in einen meiner Texte gefunden, siehe das „heller Lieder voll“ aus „Das Königreich von Sede (2)“.

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Bücher zum Vers (4)

Horst Joachim Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen

Ein Band, der sowohl für die, die sich mit strophischer – gereimter wie ungereimter – Dichtung eher historisch beschäftigen, als auch für die, die heute noch selbst strophische Gedichte schreiben, eigentlich unentbehrlich ist.

Das Handbuch ordnet die Strophen nach fünf einfachen Bestimmungen: 1. Zeilenzahl, 2. Anzahl der Hebungen in jedem Vers, 3. Verseingang, 4. Versfüllung und 5. Kadenzenfolge. Das sorgt für große Übersichtlichkeit und schnelle Auffindbarkeit.

Insgesamt sind so 17 zweizeilige, 7 dreizeilige, 126 vierzeilige, 15 fünfzeilige, 51 sechszeilige, 11 siebenzeilige, 48 achtzeilige, 3 neunzeilige, 9 zehnzeilige, 2 elfzeilige, 5 zwölfzeilige, 2 dreizehnzeilige Strophen  erfasst, samt einer vierzehnzeiligen Strophe; insgesamt also ziemlich genau 300 Strophen.

Zu allen diesen gibt Frank die Herkunft an (so weit bestimmbar) und zeigt auf, in welchen Zeiträumen die Strophen von wem für welche Inhalte vewendet und mit welchen Absichten benutzt wurden. Fast noch wichtiger sind für den selbst Schreibenden aber die Hinweise darauf, wie die jeweilige Strophe „tickt“, was also die z.B. die Verslänge oder die Verteilung von betonten und unbetonten Silben für Auswirkungen auf die Satzstrukturen hat, die sich darüber errichten lassen, und derlei mehr.

Allen diese Hinweisen beigegeben sind die Titel einiger ausgewählter Gedichte, mit deren Hilfe man sie sich verdeutlichen kann. Natürlich sind die Hinweise, je nach Wichtigkeit der Strophe, mal mehr, mal weniger ausführlich; immer aber tragen sie sehr zum Verständnis der jeweiligen Strophe bei.

Obwohl 300 Strophen schon eine große Menge sind, bleiben sehr viele andere Strophen unbeachtet – hier wurde unter dem Gesichtspunkt der Häufigkeit ausgewählt. Aber es ist ganz einfach, nach dem vorgestellten Ordnungssystem selbstständig weitere Strophenformen einzugliedern, so dass man sich nach und nach eine noch umfangreichere, auskunftsstärkere Sammlung anlegen kann.

Leider gibt es den fast 900 Seiten starken Band wohl nur noch gebraucht zu erstehen, aber wer die Gelegenheit dazu hat, sollte auf jeden Fall zugreifen! Erschienen ist der Band 1980 bei Hanser und zuletzt 1993 bei UTB.