Bücher zum Vers (3)

Markus Ciupke: Des Geklimpers vielverworrner Töne Rausch.
Die metrische Gestaltung in Goethes „Faust“.

Der „Faust“ ist eine so gewaltige Ansammlung von verschiedenen Vers- und Strophenformen, die noch dazu von Goethe auf herausragende Weise genutzt werden: Dass dieses Buch eigentlich schon eine vollständige Einführung in die deutsche Metrik ist.

Ciupke versucht in seinem 300-seitigen Werk, dieser verwirrenden Vielfalt auf die Schliche zu kommen, zu ordnen, zu bestimmen, nach Sinn und Zweck zu fragen; und das macht er eigentlich sehr gut, so dass spätestens die Verbindung von Dichtung und Sekundärwerk wirklich eine Metrik-Einführung erster Güte darstellt. An manchen Stellen mag man versucht sein, Ciupke zu hinterfragen oder ihm gar zu widersprechen (ich jedenfalls war es), aber insgesamt ist das sicher ein empfehlenswerter Band – und wenn er nur dazu verleitet, den „Faust“ mal wieder in die Hand zu nehmen.

Erschienen 1994 bei Wallstein.

Bücher zum Vers (2)

Alfred Behrmann: Einführung in den neueren deutschen Vers. Von Luther bis zur Gegenwart.

Die Ausgabe, die hier vor mir liegt, ist von 1989; erschienen in Stuttgart, bei Metzler.

Der Band gründet auf einer vom Verfasser gehaltenen Vorlesung. Nach einem den Grundlagen gewidmeten Kapitel geht es mit „Vor und nach Optiz“ los, danach folgen die Kapitel „Der fünffüßige Jambus“, „Das Sonett“, „Andere romanische und weitere Strophen“, „Der reimlose Vers. Die Ode“, „Hexameter und elegisches Distichon“, „Der freie Rhythmus“, „Der freie Vers“, „Was ist ein Vers?“, „Wie spricht man Verse?“; sowie ein zusammenfassender „Rückblick“. Mir gefällt der Band sehr gut, er bringt eine Menge unter, ohne dabei gedrängt zu wirken, und gerade Kapitel wie „Wie spricht man Verse?“ gehen auf Dinge ein, die viel zu oft zu kurz kommen beim Nachdenken über Dichtung. Von daher: Empfehlenswert!

Ohne Titel

Wer nur findet, was er sucht,
Ist vom Schicksalsgott verflucht –
Wer benötigt, was er findet,
Weiß, wie man ihn überwindet!

Das Königreich von Sede (7)

Aus des alten Waldes Zwielicht
Tritt der Dieb mit feinem Lächeln,
Hebt die Hand, beschirmt die Augen
Und schaut nach den letzten Bergen,
Nach dem Pfad, der kaum erkennbar
Sich an ihren Flanken windet,
Aufwärts, immer aufwärts, bis er
Sich im Wolkendunst verliert –
Neigt nun seinen Kopf, zu lauschen,
Lächelt wieder, hebt den Rucksack,
Der enthält, was er benötigt,
Auf die Schultern und strebt eilig
Fort vom Wald, den Bergen zu.

Durch des alten Waldes Zwielicht
Brummt der Zorn der schwarzen Bienen,
Hierhin fliegen sie und dorthin
Auf der Suche nach dem Honig,
Der aus ihren Waben tropfte,
Den sie horteten, der fort ist,
Frech geraubt; ihr grauer Honig,
Schattens voll, voll Truggespinste,
Grau, doch außerhalb des Waldes,
Doch im Licht: glänzt er wie Gold.

Aufwärts geht der Dieb und weiter
Aufwärts, in der Berge Flanken
Steigt der Dieb hinauf, bis schließlich
Sich der Pfad, vom Abenddämmern
Aufgelöst, im Nichts verliert.
Totes Holz, am Tag gesammelt,
Auf dem langen Weg gesammelt,
Schichtet er da auf, und Funken
Schlägt er aus den Feuersteinen,
Bis das Moos glimmt, bis aus Zweigen,
Bis um Äste Feuer steigt.
Daran setzt der Dieb sich, öffnet
Seinen Rucksack, nimmt sich Käse,
Greift zur Flasche, ißt und trinkt;
Wartet dann auf einen Toten,
Der zu ihm ans Feuer kommt.

Ast um Ast sinkt funkensprühend,
Halbverzehrt von hellen Flammen,
Ganz verzehrt nun, Asche nur noch,
Nur noch Glut die hellen Flammen –
Schweigsam ist die Nacht gegangen,
Ist fast fort, fast ist es Morgen,
Als zum Dieb, der still und wachsam,
Unbewegt an seinem Feuer,
Seiner Glut, dem Rest der Glut sitzt:
Sattelknauf der Krieger tritt.

Gänzlich grau, ein grauer Schatten,
Körperlos; doch in den Händen
Hält sein Schwert er, grau auch dieses,
Aber hart und scharf wie Stahl;
Hebt’s, und dringt mit stummem Schreien
Auf den Dieb ein – der bemerkt ihn,
Der erhebt sich, aus der Scheide
Fährt sein Schwert und ist das gleiche
Wie des Geisterkriegers Schwert!
Denn der Dieb hat es gestohlen,
Hat es Sattelknauf gestohlen,
Eben als die Schlacht der Frösche
Anhob, und die Feinde fanden
Sattelknauf, der mit der Scheide,
Mit der leeren Scheide kämpfte,
Fünf erschlug und selber starb.

Machtvoll fährt die Geisterklinge,
Fährt des Geistes scharfe Klinge
Auf den Dieb hinab, um diesen
Mit dem ersten Hieb zu spalten,
Ihn vom Scheitel bis zur Sohle
In der Mitte durchzutrennen –
Doch er reißt sein Schwert nach oben,
Wehrt den Schlag ab, taumelt, von der
Wucht des Schlages durchgeschüttelt,
Rückwärts, und sein Arm ist taub:
Und schon folgt des Geisterkriegers
Zweiter Hieb, das Schwert des Diebes
Reißt’s ihm aus der Hand, es wirbelt
Nutzlos in die Nacht; der Dieb lässt
Sich zur Seite fallen, spürt noch,
Wie das Geisterschwert ein Ohr ihm,
Ihm das rechte Ohr vom Kopf trennt;
Liegt dann wehrlos auf dem Rücken,
Über ihm der einst bestohl’ne,
Über diesem noch das graue
Geisterschwert – in hohem Bogen
Führt es Sattelknauf, zu enden,
Was vor jener Schlacht begann;
Doch auf dieses hohen Bogens
Höchstem Punkte fängt im Schwert sich,
Fängt im grauen Geisterschwert sich
Erstes Licht des neuen Morgens,
Jener Lichtstrahl, der als erster
Durch der letzten Berge Gipfel
Seinen vorbestimmten Weg fand –
Und der Krieger ist verschwunden,
Und verschwunden ist das Schwert auch,
Nichts geblieben als der Schrecken
Und ein abgetrenntes Ohr.

Dieses nimmt der Dieb und legt es
Achtsam in ein Tuch, verstaut es;
Wickelt Stoff um seinen Kopf sich,
So die Wunde zu verbinden,
Nimmt das Schwert und nimmt den Rucksack,
Und mit wacklig-müden Schritten
Folgt dem Pfad er wieder, aufwärts,
Immer aufwärts in die Berge;
Und ihm zieht ein leises Summen
Durch den Schädel, voll von Zorn.

Erzählverse: Der Blankvers (11)

Abwechslung lässt der Blankvers selbst dann zu, wenn der metrische Aufbau Vers für Vers dem strengen

x X x X x X x X x X (x)

folgt! Das geschieht dann dadurch, dass „Hebungs-Stellen“ mit eher leichten Silben besetzt werden, und, seltener, „Senkungs-Stellen“ mit schweren Silben. Derlei führt zu keiner Veränderung des Metrums, wohl aber zu einer Veränderung der rhythmischen Einheiten, die beim wirklichen Lesen auftreten! Das haben eigentlich auch alle bisher vorgestellten Texte so gehandhabt, eigens darauf eingegangen wurde beim Text von Hermann Hesse. In diesem Beitrag soll es nun noch einmal darum gehen, ein wenig mit dem Augenmerk darauf, was geschieht, wenn ein Text diese Möglichkeit nicht wahrnimmt; wie sich ein „Leiern“ anhören kann!

Es handelt sich bei diesem Text um „Das Mädchen und der Tod“ von Hugo von Hofmannsthal:

Dies flüssig grüne Gold heißt Gift und tötet.
Wie gut es riecht: wie wenn der wilde Wind
In den Akazienbäumen irr sich fängt,
Dann geht man still im Mond auf weichen Blüten …
Vielleicht ist Totsein solch ein lautlos Wandern
Durch fremde leere Länder ohne Schlaf,
Auf stillen Brücken über grüne Wasser
Durch lange schwarze, schweigende Alleen,
Durch Gärten, die verwildern …
Und endlich komm ich an das Haus des Todes:
Im großen Saale ist ein großer Tisch
Aus grünem Malachit; den tragen Greifen.
Da sitzt der Tod zu Tisch und läd mich ein
Und Pagen viel mit feinen schmalen Händen
Und Schuh’n aus schwarzem Samt, die lautlos gleiten.
Die tragen wunderbare Schüsseln auf:
Ja, ganze Pfauen, Fische silberschuppig
Mit Purpurflossen, in den feinen Zähnchen
(Die sind vergoldet) stecken Lorbeerreiser
Und Trauben mit goldrotem Rost und offen
Granatäpfel, die auf weichen Kissen
Von frischen Veilchen leuchten, und der Tod
Hat einen Mantel an aus weißem Samt
Und setzt mich neben sich
Und ist sehr höflich …

Der Text macht einen sehr langsamen, verhaltenen, schweren Eindruck. Das liegt sicher auch daran, dass er viele Sinn-Wörter enthält, was aufs Metrum bezogen heißt, dass oft alle Hebungsstellen eines Verses mit Sinn-Silben besetzt sind – ein Beispiel ist dieser Vers:

Und Schuh’n aus schwarzem Samt, die lautlos gleiten.

Trotzdem wirkt dieser Vers noch einigermaßen bewegt. Hofmannsthal geht aber an manchen Stellen noch weiter:

Durch fremde leere Länder ohne Schlaf,

Das ist nun ein sehr einförmiger Text, da er nach der einleitenden unbetonten Silbe (die mit „durch“ ja auch recht „schwer“ verwirklicht ist) vier Worte mit gleichem Bau folgen lässt: „X x“.

(Durch) fremde / leere / Länder / ohne / Schlaf,

Dabei haben die ersten drei dieser Wörter auch noch denselben Vokal! Und noch deutlich wahrnehmbarer wird dieses „Leiern“ dadurch, dass im wesentlichen noch zwei weitere Verse dieser Art folgen:

Durch fremde leere Länder ohne Schlaf,
Auf stillen Brücken über grüne Wasser
Durch lange schwarze, schweigende Alleen,

Immer „Verhältniswort + X x“, im mittleren Vers sogar fünf „TAMtam“ am Stück (wobei „über“ etwas schwächer ist); erst das schweigen[b]de[/b], das die Bau-Silbe „-de“ in die Hebung stellt, lockert das ganze wieder etwas auf, ehe dann mit

Durch Gärten, die verwildern …

ein im Metrum dreihebiger (x X x X x X x), gesprochen aber zweihebiger Vers (x X x | x x X x) dem Spuk ein Ende macht.

Solcherlei gibt es noch häufiger:

Die tragen wunderbare Schüsseln auf:
Ja, ganze Pfauen, Fische silberschuppig

Wirkliche Abweichungen vom Metrum sind dagegen selten, der eine verkürze Vers wurde schon angesprochen; am Ende ist nur ein Vers auf zwei Zeilen umgebrochen. Ansonsten sind noch zu erwähnen „goldroten“, ein „Auf-Ab-Feind“, bei dem die eigentlich betonte Silbe eine Senkung füllt, und „Granatäpfel“, was durch den Ausfall einer unbetonten Silbe möglich wird:

Granatäpfel, die auf weichen Kissen

x X (x) X x | X x X x X x

(Allerdings nur, wenn „Granatäpfel“ nicht anders betont zu werden pflegte, damals …) Durch das folgende, schwache „die“ in der Hebung ist der Vers einer der bewegteren im Text!

Eigentlich sollten Verse nicht „leiern“. Wenn es viele Verse dieses Textes doch recht stark tun, so wird sich Hofmannsthal etwas dabei gedacht, es als passend zur gedämpften Stimmung empfunden haben; da ließen sich ja auch andere Dinge finden, die in diese Richtung gehen (das doppelte „lautlos“ im Versausgang etwa).

Auf jeden Fall lohnt es sich aber, mal zu achten auf diese Dinge; vielleicht zuallererst darauf, an wievielen Stellen wieviele Wörter der Form „X x“ aufeinanderfolgen in einem alternierenden Text; denn solche Abschnitte sind für das Ohr sehr, sehr hörbar und schleichen sich leicht ein, weil es eben sehr viele solcher Wörter gibt!

Erzählverse: Der Blankvers (10)

Wie passt der Blankvers zur Prosa?! Da könnte man im Hamlet nachschauen, denn dieses Nebeneinander gab es schon zu Shakespeares Zeiten; aber ich führe hier doch lieber ein zeitgenössisches Stück an, „Die Umsiedlerin“ von Heiner Müller. Die folgenden Ausschnitte sind der 1984 erschienenen Ausgabe des Rotbuch-Verlags entnommen. Auf den Seiten 51 und 52 findet sich etwa:

RAMMLER

Ich bin dem Staat vielleicht ein bessrer Bürger
Als mancher, der ihm auf der Tasche liegt
Der erste Staat ists auch nicht, dem ichs bin
Ich kann verlangen, dass der Schein gewahrt wird.

Beutler lacht. Auftritt, den Hut im Gesicht, ein politischer Flüchtling.

FLÜCHTLING
Ich bin auf der Durchreise. Im Amt bis gestern, von unten geschmiert, von oben traktiert, hoch im Kurs bei der Bevölkerung, mein Bauch ist der Beweis, mit der Regierung auch auf Du, der Schrecken der Vorzimmer im Kreismaßstab, politischer Flüchtling heute. Sie kämmen die Dörfer ab, vornweg der Kreisparteimensch, SED auf Zündapp, jeden nackten Hintern fragt er, warum er keine Hose hat, der neue Landrat hinterher im alten Opel und erntet, was die Partei ihm gesät hat, setzt ab und setzt ein. Hinter mir ist Polizei her auch noch. Einer hat Feuer gelegt an den Maschinenschuppen, Trecker drin. Mir hängen sie Beihilfe an, weils mit gemeindeeigenem Benzin war. Woher sollt ers nehmen, alles rationiert. Du musst mir an die Elbe helfen, Beutler, es kann im Jauchekübel sein, aber Tempo. Ich hab keine Lust auf Bergwerk oder Bautzen.

BEUTLER
Ich auch nicht, also warum soll ich dir helfen?

FLÜCHTLING
Kann sein, du hilfst dir selber, wenn du mir hilfst.
Kollegen warn wir, Bürgermeister beide.
Kollegen sind wie wieder morgen, wenn du
Das Klima wechseln musst wie heute ich.

BEUTLER
Kann sein, ich helf mir, wenn ich dich jetzt anzeig.

– Also ein ganz unaufgeregter Wechsel: Der eine spricht im Blankvers, etwas ändert sich, der nächste spricht in Prosa; und beim nächsten Wechsel geht es zurück in den Blankvers. Das geht ganz gut, sicher auch, weil die Blankverse sich äußerst prosaisch geben?!

Ich auch nicht, also warum soll ich dir helfen?

Im „lyrischen“ Blankvers sind meist vier, oft alle fünf Hebungen mit einer Sinnsilbe besetzt, hier ist es gerade mal eine, die fünfte im Versausgang. Der nächste Vers sieht genauso aus:

Kann sein, du hilfst dir selber, wenn du mir hilfst.

Wieder nur eine Sinnsilbe, in der zweiten Hebung; noch dazu dieselbe wie im vorigen Vers.

Die Aufteilung kann aber auch ein wenig abwechslungsreicher sein! Auf Seite 24:

Flint. Ein Bauer mit Büchern.

FLINT
Bücher. Woher?

BAUER
Vom Schloss, wo sonst.

FLINT
Schaff sie zurück.

BAUER
Warum? Kein Hahn kräht danach, seit die Herrschaft Ausgang hat, das halbe Dorf kocht seine Wassersuppe und wischt sich den Arsch mit der Schlossbücherei. Warum soll grad ich die Ausnahme machen, acht Mäuler und kein trockener Ast im ganzen Landkreis nach drei Wochen Regen, acht Ärsche und kein Papier? Willst du Bücher lesen, den Magen an den Knien? Ich bin schon spät dran, die dicken sind vorbei. Am besten ist Meinkampf, das kauft in Berlin der Amerikaner. Geht.

FLINT ihm in den Weg:
SchillerundGoethe, wer hat ihm den Bauch gefüllt? Homer, wer hat ihn angezogen?
Kein Buchstab ohne dich und kein Gedanke.
Dein krummer Buckel, deine krumme Hand.
Und dir ists für den Rauch und für den Hintern.
Die Bücher sind Gemeindeeigentum.
Schaff sie zurück aufs Schloss. Kulturhaus morgen.

BAUER
Machs selber, Jesus. Ich hab andre Sorgen.

– Kurz vor diesem Ausschnitt klingen die verwendeten Blankverse sogar richtig sprichworthaft: „Ein ganzer Gaul für eine halbe Ernte.“ Dann scheinen sich Flint und der Bauer in ihrem kurzen Wortwechsel einen Blankvers zu teilen, doch wenn man nachzählt, merkt man, dass hier sechs Hebungen im Spiel sind, der Blankvers also schon verlassen ist. Der Bauer spricht reine Prosa, am Anfang noch mit Blankvers-Anklängen – „das halbe Dorf kocht seine Wassersuppe“ -, und Flint in seiner Entgegnung auch noch, für einen Augenblick; Dann wechselt er aber in Blankverse, die sehr streng dem Muster „Ein Vers – ein Satz“ folgen, und die Schlussbemerkung des Bauern schließlich behält das bei und fügt sogar noch einen Reim hinzu.

Sehr bunt also, insgesamt; doch auch hier wirkt das ganze  durch die Prosanähe des Blankverses nicht wirklich unrund!

Erzählverse: Der Blankvers (9)

Es kam in einem der vorigen Beiträge ja schon ein Blankvers-Text vor, bei dem vorne und hinten Reime auftauchten, also die Enden ein wenig anders gestaltet waren als die Mitte (Höllerer).

Der in diesem Beitrag vorgestellte Text arbeitet so ähnlich, nur dass diesmal vorne und hinten gewöhnliche Blankverse stehen, dazwischen aber einige Verse lang die „metrische Willkür“ ausbricht … und Reime, die gibt es auch zu bestaunen!

Es handelt sich um die „Karte von Sizilien“ von Marie Luise Kaschnitz, zu finden auf den Seiten 261 und 262 im fünften Band ihrer gesammelten Werke („Die Gedichte“); erschienen ist der 1985 im Insel-Verlag. Die ersten 17 Verse des Gedichts sind handelsübliche Blankverse:

Ich zeichne euch den Umriss. Einen Flügel
Wie von der Schulter einer Siegesgöttin.
Den Aufriss, eine Scholle Felsgebirge
Stehengeblieben unterm Glanz der Sonne
Indes mit Tang und Sand und Zug der Fische
Das Meer die süßen Ebenen bedeckt.
Das dunkle Strichwerk meint den Sturz der Hänge.
Flusstäler sieben bleiben ausgespart.
Ein Zackenkranz der Berg, wo Eis und Feuer
Heilige Hochzeit halten. Jetzt rückt näher
Am Abendtisch. Den Ölkrug heb ich auf.
Wo ich die Tropfen fallen lasse, wachsen
Wälder von schwarz und silbernen Oliven.
Wo ich das Brot zerkrümle, weht die Saat
Auf roten Hügeln, weiter Weg der Pflugschar.
Das weiße Salz im Osten ausgeschüttet
Meint Nahrung aus dem Meere, Salz und Fische

Es gibt einige der Auflockerungen zu sehen, die schon vorgestellt wurden: Drei versetzte Betonungen am Versanfang („Stehengeblieb-„, „Heilige Hoch-„, „Wälder von Schwarz“); Eines der „Betont-Nebenbetont-Unbetont“-Wörter ist dabei, gleichfalls am Versanfang: „Flusstäler“; Und zwei „schwach besetzte Hebungen“ sind vorhanden, „Ebenen„, „silbernen„. Gar nicht viel auf 17 Verse, es herrscht der übliche „Blankvers-Ton“.

Das ändert sich ab dem nächsten Vers allerdings schlagartig und nachhaltig:

Aber das gelbe Mondviertel Zitrone im Norden
Schatten der Laubdächer. Süßen Blühduft.
Die roten Pfeile, ausgestreckt im Meer
Dieser vom Festland, dieser von Afrika,
Dieser von Spanien, der aus der Peleponnes
Sind die Schiffswege der fremden Eroberer.
Nun hebt vom Gartenpfad die weißen Kiesel
Zu zweien, dreien. Glänzen sie euch nicht
Tempeln und Domen gleich im Mondeslicht –
Doch stampf ich mit den Füßen, seht
Wie sie schüttern und tanzen
Wie im Beben der Erde der fällt, der steht.

Holla! Bestimmt keine schlechten Verse, aber „richtige“ Blankverse sind nur noch die wenigsten davon … Gleich der erste Vers ist eigentlich rein „daktylisch“:

Aber das / gelbe Mond- / viertel Zi- / trone im / Norden

X x x / X x x / X x x / X x x / X x

… Noch dazu mit einem dieser eher unhandlichen Dreisilber („Mondviertel“) drin. Nun kann man zwar, witzigerweise! fast alle diese Abweichungen durch gehäuftes Auftreten der „Blankvers-Ausnahmen“ erklären, aber das ändert ja nicht daran, dass die alternierende Bewegungslinie eines Blankverses hier einfach vollständig unhörbar ist! Der letzte Vers etwa scheint mir so zu klingen:

Wie im Beben der Erde der fällt, der steht.

x x X x x X x X X x X

Obwohl es sehr gut klingt, auf diese Weise … Sogar zwei verkürzte Verse gibt es, und auch zwei Reime sind plötzlich da und vervollständigen das Kuddelmuddel: „nicht / -licht“ und „seht / geht“.

Nach diesem ziemlich heftigen Ausbruch aus den Blankvers-Vorgaben findet das Gedicht zum Schluss hin aber wieder zurück in die bekannten Geleise:

Die Lampe rück ich fort und wieder her
Und wieder fort. Nun Licht. Nun Dunkelheit.
Glanz und Verderben, ewiger Widerstreit.
Wo ist der kleine Bauer, den ich mir
Aus Brot geknetet? Dieser steht noch immer
Die Hacke in der Hand. Ein wenig tiefer
Gebeugt als zu Beginn. Was ist das Ganze?
Blut, Brot und Stein. Ein Stückchen Abendland.

Einen Reim gibt es noch, einen ziemlich blassen dazu („-heit / -streit“), und der „Glanz“-Vers ist ein klein wenig bewegter, aber nicht viel; und das war es dann endgültig, die letzten fünf Verse sind sehr gleichmäßig gebaute Blankverse.

Insgesamt wieder eine Möglichkeit mehr, den ohnehin schon sehr abwechslungsreich gestaltbaren Blankvers über einen längeren Text hin zu benutzen, ohne dass sich der Leser / Hörer langweilt! Ich denke, da ist irgendwo für jeden etwas dabei?!

Bücher zum Vers (1)

Friedrich Gottlieb Klopstock. Gedanken über die Natur der Poesie.
Dichtungstheoretische Schriften, herausgegeben von Winfried Menninghaus;
Insel-Verlag, Frankfurt am Main 1989.

Das ist, wenn man so will, der reine Klopstock; wodurch zu der Gewöhnungsbedürftigkeit seiner Gedanken auch noch die seiner Sprache kommt. Aber, wenn man ehrlich ist – nichts ersetzt den Blick auf die eigentlichen Aussagen; von daher …

Der Band ist aber auch bemerkenswert aufgrund dessen, was Winfried Menninghaus beiträgt – 90 erklärende Seiten des Titels Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“. Da findet sich vieles erhellende, manchmal etwas verklausulierter beschrieben als nötig, aber immer lesbar. Zum Beispiel über die Bilderlosigkeit Klopstocks – etwas, über das nachzudenken auch die heutige, in großen Teilen in der „Bilderfalle“ festsitzenden Dichtung  lohnend finden könnte:

Klopstocks Angriff und Distanzierungsarbeit gilt schlechthin der Selbstdefinition der Poesie durch jede Art vertikaler Verweisungsstruktur. Seine Sprache ist weder eine der Allegorie noch des Symbols, weder eine der Metapher noch der Metonymie, weder eine „uneigentliche“ noch eine „eigentliche“ – alle diese Lieblingsbegriffe der Literaturwissenschaft greifen bei ihm ins Leere, weil sie wesentlich, mit Saussure und Jakobson zu reden, an der paradigmatischen Achse von Zeichenketten orientiert sind. Die Klopstocksche Wortbewegung dagegen verlagert die Poetizität ganz auf die syntagmatische Achse, aus der räumlichen Vertikalen in die zeitliche Horizontale – eben in die Dominante von Metrum, Rhythmus und Grammatik. Diese Poesie des Syntagmas, der Horizontalen prägt ihre Dominante um so reiner aus, je weiter sie sich von Bildern jeder Art ferne hält.