Erzählformen: Das Sonett (11)

Im wesentlichen gilt das, was der gestrige Eintrag zum dreiteiligen Bau vieler alter Lieder gesagt hat, auch für das Sonett: Ein Aufgesang aus zwei Stollen (V1-V4, V5-V8), ein Abgesang, länger als ein Stollen, aber kürzer als der Aufgesang (V9-V14); die Reime des Abgesangs sind neu, ihre Anordnung unterscheidet sich von der Reimanordnung des Aufgesangs (an diesem Bau ändern die drei Leerzeilen, mit denen ein Sonett heute dargestellt wird, nicht wirklich etwas!) Passend zum Tage soll das vor Augen führen ein Sonett von Hermann Kurz:

 

Weihnachten

Am schmucken Baume flimmern hundert Kerzen,
Mit lichtem Blick, mit Jauchzen hüpft der Knabe
Und mustert halb im Traume seine Habe;
Selbst Alte lockt der Glanz zu frischen Scherzen.

Mein Auge, sollte dich die Helle schmerzen?
Denkst du, o Herz, an manche schöne Gabe
Von ihnen, die da schlummern in dem Grabe?
Mahnt dich dies Fest an zwei gebrochne Herzen?

Frisch, Seele! deiner eignen Weihnacht denke,
Wie eine Flamme festlich dich durchdrang,
Wie dich begrüßten himmlische Geschenke,

Der Sonnengeist einzog durch alle Tore,
Und jenes schmerzlich stolze Lied erklang,
Das Opferlied: Anch‘ io sono pittore!

 

– Vielleicht kein wirklich großes Gedicht, aber doch eins, in das man hineinschauen kann … Ziemlich klassisch im Aufbau kommt es daher, eines der Sonette, für die man den so oft geforderten und so selten verwirklichten „These-Antithese-Synthese“-Aufbau vielleicht wirklich einmal gelten lassen darf; und eines, dessen Reime zu denken geben!

V1 schließt mit „Kerzen“; wenn dieses Wort als Reim in den Quartetten auftaucht, weiß man als Sonett-Leser sofort, was folgen wird: „Herzen, Schmerzen, Scherzen“. Sicher, da gäbe es auch „Terzen“ oder „Nerzen“, aber das wäre eine ziemliche Überraschung – die Frage ist ab dem Ende von V1 eigentlich nicht mehr das „Was“, sondern nur noch das „Wie“: die Bezüge und die Reihenfolge!

Kurz ordnet an, wie zu lesen ist. Bemerkenswert, wie das „Herz“ im Inneren von V6 anklingt, ehe die „Herzen“ in V8 die Quartette / den Aufgesang schließen, während das „schmerzlich“, V13, das „Schmerzen“ aus V5 im Vers noch einmal aufnimmt.

Den zweiten Reim der Quartette legt „Knabe“ fest; und da ist nicht ganz so klar, wie es weitergehen wird. Von daher ist die Hinwendung zu „Grabe“ vielleicht eine kleine Überraschung, erst recht in einem Weihnachtsgedicht, das ja auch „weihnachtsstimmig“ einsetzte?!

Immerhin hat Kurz so eine Reihe von Weihnachts-Sonetten begonnen, in denen andere Dichter Weihnachten mit dem Tod in Verbindung gebracht haben – ein Beispiel wäre Paul Heyse, in dessen Gedichten sich im Abschnitt „Meinen Toten“ unter „Weihnachten in Rom“ drei Sonette solchen Inhalts finden: „Drei Kinder in der Ferne, drei begraben“ sagt ein Quartett-Vers des ersten Sonetts, die anderen  Reimworte sind, wie bei Kurz, „-gaben“, „haben“ (das Verb) und „Knaben“!

Im zweiten Terzett schließlich reimt Kurz Wörter aus verschiedenen Sprachen. Das ist dann sicher vollständig unerwartet, andererseits aber schon beim Einsetzen des bekannten Zitats sicher. „Auch ich bin Maler!“ soll Correggio gerufen haben, als er vor einem Bild Raffaels stand; das ist, zum Guten  oder Schlechten des Sonetts, allerdings eine Gewichtsklasse, in die Kurz bei weitem nicht gehört … Aber gut:

 

Dies Lied hat schroffe Züge, und es ist,
Als reihten sich Felsblöcke aneinander
Zu Strichen eines Bildes, – aber doch,
Wenn auch nicht mir, ist’s meinem Schatten ähnlich.
Ja mancher einzle Zug trifft zu und malt
Mir seltsam längst vergessne Wirklichkeit.

 

Das sind sechs Blankverse von Kurz, aus einem ganz anderen Text; die hier als Schlusswort stehen mögen.

Erzählformen: Die Brunnen-Strophe (5)

Die Brunnen-Strophe ist auch ein gern genutzter Baustein beim Zusammenfügen umfangreicherer Strophen. Das lässt sich, passend zur Weihnacht, zum Beispiel an diesem alten und bekannten Weihnachtslied zeigen:

 

Es ist ein Ros‘ entsprungen
Aus einer Wurzel zart,
Wie uns die Alten sungen,
Von Jesse kam die Art
Und hat ein Blümlein bracht
Mitten im kalten Winter,
Wohl zu der halben Nacht.

 

– Denn die ersten vier Verse sind ja genau die Brunnen-Strophe! Allgemein verwirklicht diese siebenversige Strophe den alten, dreiteiligen Lied-Aufbau:

Es gibt einen „Aufgesang“, der aus zwei gleichen Teilen besteht („Stollen“); das sind hier „Es ist ein Ros‘ entsprungen / Aus einer Wurzel zart“, erster Stollen; und dann „Wie und die Alten sungen, / Von Jesse kam die Art“, zweiter Stollen. Soll heißen: Die Brunnen-Strophe bildet den Aufgesang!

Daran schließt sich der „Abgesang“ an, der sich in der Länge vom Aufgesang unterscheidet: er ist meist länger als ein Stollen, aber kürzer als der gesamte Aufgesang. Also hier mit drei Versen länger als ein Stollen mit zwei Versen, aber kürzer als der gesamte Aufgesang mit seinen vier Versen!

Auch in Hinblick auf den Reim und das Metrum unterscheidet sich der Abgesang: Hier führt er einen neuen Reim ein, während der sechste Vers reimlos bleibt – eine reizvolle“Waise“.

Insgesamt sieht das Silbenbild dieser Strophe also so aus:

x X / x X / x X / x a
x X / x X / x X b
x X / x X / x X / x a
x X / x X / x X b
x X / x X / x X c
x X / x X / x X / x
x X / x X / x X c

Eine sehr ausgeglichene und so angenehm zu schreibende wie zu hörende Strophe! Überhaupt ist der beschriebene Grundaufbau eines dreiteiligen Liedes wunderbar ausgewogen – wer einmal selbst eine Strophe entwerfen möchte, hat hier einen Rahmen, der viele eigene Gedanken zulässt und doch eine sichere Grundlage ist.

Und wer weiß, vielleicht lässt sich dabei ja auch die Brunnen-Strophe verbauen? Sie ist jedenfalls Ausgangspunkt sehr vieler längerer Strophen!

Ohne Titel

Um nochmal aufs Sonett zurückzukommen:
Das ist so eine Sache … Soll ich’s lassen,
denn, weil: es scheint nicht mehr zum Jetzt zu passen
Und meinen Versen – hab ich angenommen,

Und fühle mich doch sonderbar beklommen:
So wie man Tee nur aus bestimmten Tassen
Genießt, gibt’s Dinge, die Sonette fassen,
Und nur Sonette – halt. Lasst einen Frommen

Mich auf die Bühne stellen, da ein Reimwort
Auf „-ommen“ sonst mir fehlt; und auch geschehen
Muss was … Der Fromme zieht auf seinem Schleim fort

(Er ist ’ne Schnecke), seinen Gott zu sehen,
Und trifft ihn auch, baut Tempel sich und Heim dort,
Und dient; stirbt; zeugt: vom Werden und Vergehen.

Das Königreich von Sede (60)

Prinz Klappstuhl blättert um und weiß, das ist kein guter Gedanke.

Sicher, seine Froschuhr ist vorgegangen – nur der erste der vier Frösche, die gelernt hatten, nach je einer Viertelstunde wegzuhüpfen, hat wohl seine Zeit abgesessen, während die anderen sich erkennbar früher auf den Weg gemacht haben, den Mückenschwärmen über dem Schlossgraben zu; aber jetzt blättert der junge Prinz schon zum dreizehnten Mal eine Seite der alten Sammlung um, und das sind mindestens vier Blätterer zuviel.

So ein Brunnen ist tief. Wenn ein Stein reinfällt,
Und man horcht: da ist nichts, erst – endlich ein Platsch!
Und der Brunnen an sich? Erst nichts, dann ein Loch
In die Erde hinab, samt Wasser am Grund.
Das ist Platsch. Was ist Stein, was bewegte den Stein?

Klappstuhl horcht. Vom Schloss klingt eine Stimme herüber, und als der Königssohn aufschaut, bemerkt er auf dem Torturm Pulverfass, den Seher, der ruft und wütend mit den Armen wedelt.

Wieder den Unterrichtsbeginn verpasst – das riecht nach Strafarbeit in der Küche. Aber eigentlich macht das nichts, denn beim Abwaschen wird der Prinz einen Becher als Stein, und den Zuber als Brunnen benutzen können, und so sollte sich dem Platsch! auf den Grund kommen lassen; und was zu tun ist, um den festgetrampelten Lehmboden der Küche um einen wirklichen Brunnen zu erweitern – nun, das wird sich dann auch finden.

Wieder ruft Pulverfass; sein Schüler schließt lächelnd das Buch, steht auf und läuft zum Schloss.

Erzählverse: Der trochäische Fünfheber (4)

Wie schon erwähnt: Der trochäische Fünfheber gestattet sich viel weniger Abweichungen als zum Beispiel der Blankvers, und schreibt man ihn, muss man sehr aufpassen, dass er nicht zu starr und einförmig gerät.

Nicht starr, nicht einförmig: Will man herausfinden, wie das zu erreichen ist, macht man mit einem Besuch bei Goethe nichts falsch – und so auch beim trochäischen Fünfheber:

 

Nachtgedanken

Euch bedaur‘ ich, unglücksel’ge Sterne,
Die ihr schön seid und so herrlich scheinet,
Dem bedrängten Schiffer gerne leuchtet,
Unbelohnt von Göttern und von Menschen:
Denn ihr liebt nicht, kanntet nie die Liebe!
Unaufhaltsam führen ew’ge Stunden
Eure Reihen durch den weiten Himmel.
Welche Reise habt ihr schon vollendet,
Seit ich, weilend in dem Arm der Liebsten,
Euer und der Mitternacht vergessen!

 

– Da ist von Einförmigkeit jedenfalls nicht viel zu spüren? Obwohl der Text wie selbstverständlich daherkommt …  Fragt man nach dem „Wie“, lohnt wohl am ehesten der Blick auf die vielfältig wechselnden Zäsuren, und auf die Anzahl und Verteilung der ein-, zwei- und dreisilbigen Wörter. Goethes Gedichte sehen oft so einfach aus; und sind es nie …

(Alle, die auch das „Was“ das Textes kümmert, können ja einmal bei der NZZ vorbeischauen, wo Peter von Matt sich zu diesen Versen äußert.)

Erzählverse: Der Knittel (13)

Noch einmal Theodor Fontane – geht es um den Knittel, führt an ihm kein Weg vorbei! „Die Frage bleibt“ ist ein recht bekanntes und sehr kurzes Gedicht, in dessen nur drei Reimpaaren aber trotzdem einige der Besonderheiten des Knittels hörbar werden:

 

Halte dich still, halte dich stumm,
Nur nicht fragen, warum? warum?

Nur nicht bittere Fragen tauschen,
Antwort ist doch nur wie Meeresrauschen.

Wie’s dich auch aufzuhorchen treibt,
Das Dunkel, das Rätsel, die Frage bleibt.

 

Im ersten Vers setzt Fontane zwei betonte Silben nebeneinander, nur durch die Zäsur getrennt; der inhaltliche Einschnitt schafft hier zwei „Choriamben“, also zwei allgemein als stark und schön klingend geltende Einheiten!

Halte dich still, halte dich stumm,

X x x X / X x x X

Da lässt sich einiges an Wirkung erzielen, und Fontane hat diese Möglichkeit auch häufiger genutzt – „Andre sind reich, ich bin arm„, „X x x X / X x X“ findet sich zum Beispiel in „So und nicht anders“.

In V4 ist ein klein wenig unsicher, welche Silbe die zweite  Betonung trägt – am wahrscheinlichsten das „doch“, aber das „nur“ kommt auch in Frage, denke ich; dann hat der Vers eine dreisilbig besetzte Senkung, aber das klngt gar nicht mal so übel?!

V6 beginnt, als einziger der sechs Verse, mit einer unbetonten Silbe.

Erzählformen: Das Distichon (12)

„Der farnesische Herkules“ war schon in der Antike eine berühmte Skulptur, und ist das in der weiteren europäischen Geschichte auch geblieben: Wer mag, kann sich dazu ja mal den Wikipedia-Eintrag ansehen (wobei der englische ein wenig ausführlicher als der deutsche ist) – ein Blick auf eine Abbildung der Statue wäre aber bestimmt sinnvoll, um zu wissen, was da im folgenden beschrieben wird!

Paul Heyse hat nämlich über diese Skulptur einen Text in Distichen geschrieben, randvoll mit Anspielungen auf die Antike – die Statue selbst, die berühmten zwölf Taten des Herkules, Götter und Göttinnen …

Aber auch, wenn vielleicht nicht jeder Bezug gleich klar ist: Heyses wenig ehrerbietiger Tonfall ist in jedem Fall unüberhörbar!

 

Welch ein schwellend Gebirge von Fleisch und Muskeln! Am Kopf nur
Kam er ein wenig zu kurz; enge sind Schädel und Stirn.
Doch so schuf ihn Natur mit Bedacht; ein Klügerer hätte
So fruchtlosem Geschäft schwerlich das Leben geweiht,
Nicht vom Schmutze gesäubert die Welt, von wüstem Geziefer,
Noch prometheischen Trotz rettend vom Geier befreit.
Aber erkennst du denn nicht, halbgöttischer Tor: des Augias
Stall füllt wieder sich an, wieder ergänzt sich die Zahl
Grimmiger Hydrahäupter; es kreischen die Stymphaliden,
Kraft und Gewalt aufs neu‘ schmieden in Bande den Geist.
Darum senkst du nun freilich das Haupt in zweifelnder Schwermut;
Doch nicht gänzlich umsonst hast du die Kräfte bewährt.
Glück bei Weibern trägt es dir ein; es liebten die schönen
Seelen sogar von je diesen athletischen Wuchs.
Mit so geringem Verstande gepaart, und Omphale setzt auf
Solch stiernackigen Freund gerne den zärtlichen Fuß.
Ja, im Olymp, wo Hebe, die Zierlichschwebende, furchtlos
Dir in die schwielige Faust bräutlich ihr Patschchen gelegt,
Stiftest du Zwietracht fast. An ihrem gewaltigen Kriegsgott
Schielt nun Venus vorbei, neidet der Kleinen ihr Glück.
Fast wird eifersüchtig der Vater der Menschen und Götter,
Da leutseligen Blicks Juno den Neuling begrüßt.
Nur die Grazien flüchten entsetzt; es rümpfet Minerva
Höhnisch die Lippe: „Warum ließ man den Hausknecht herein?“

 

– So geht das, wenn man plötzlich unter den Göttern erscheint … Sprachlich ist, ganz passend, auch eine gewisse Nachlässigkeit da;  „setzt auf // solch stiernackigen“ etwa ist schon ein heftiger Zeilensprung, und in älteren Fassungen des Textes gab es sogar noch einen härteren, gleich im Distichon darüber:

Glück bei Weibern trägt es dir ein; es liebten sogar die
Schönen Seelen von je diesen athletischen Wuchs.

– Aber der ist dann, scheint’s, durch einfaches Umstellen doch abgemildert worden.

Erzählverse: Der Blankvers (53)

In Gottfried Kellers „Schwurgericht“ schickt eine vielbeschäftigte Mutter ihren kleinen Sohn, damit er dem nicht allzuweit entfernt arbeitenden Vater das Versperbrot bringt; der Junge zieht mundharmonikaspielend los.

 

Schon weit ist er; doch über Korn und Klee
Tönt weich und sanft, wie all der blaue Himmel,
Sein einfach Lied nun aus dem Feld herüber:
Der Kinderpuls, ein Lufthauch und die Ferne,
Sie schaffen eine rührend zarte Weise,
Die, fast verwehend jetzt, dann leise schwillt.
Und weil die Mutter hier noch steht und horcht
Und denkt, nun hat er wohl den Forst betreten,
Vernimmt der Vater drüben schon die Töne
Und kennt sein Vögelchen an dem Gesang.
Er lauscht erfreut – auf einmal bricht es ab,
Und stumm bleibt ewig dieser Kindermund!
Kein Knäblein kommt zum Vater, keines kehrt
Zur Mutter abends mit dem Müden wieder.

 

– Der Junge ist ermordet worden, wie sich im weiteren herausstellt. Ich mag die Art, wie Keller die Begebenheit erzählt und die böse Tat eben zwischen Mutter und Vater geschehen lässt; und seine ganz unaufgeregten, weichen, fließenden Verse.

„Und weil die Mutter“ – hm. Ist „Derweil“ gemeint?! Wirklich begründend kanns ja eigentlich nicht sein.