Um 1740 machte sich unter den deutschen Dichtern eine gewisse Unzufriedenheit breit in Bezug auf den Alexandriner, der lange Zeit einer der am meisten benutzten Verse gewesen war: man empfand ihn zumehmend als starr und unbeweglich und schaute sich nach Möglichkeiten um, Verse weniger einförmig und schwungvoller zu gestalten.
Am Ende landete man beim Hexameter; aber der Ausgangspunkt der Bemühungen war trotz allem der Alexandriner! Der ist ein Reimvers und sieht bekanntlich so aus:
x X / x X / x X || x X / x X / x X / (x)
Also ein sechshebiger Iambus mit zwölf oder dreizehn Silben und einem festen Einschnitt nach der sechsten Silbe. Dieses recht starre Schema begann man nun aufzulockern; am weitesten ging dabei Ewald von Kleist.
Kleist ließ den Reim fallen, der Vers endet bei ihm immer weiblich (mit einer unbetonten Silbe); und er füllte die Senkungsstellen entweder mit einer oder mit zwei unbetonten Silben! Die in der Versmitte zumindest; der Auftakt blieb einsilbig, und die sechste Senkung wurde immer zweisilbig besetzt. Damit sieht der Vers so aus:
x X / x (x) X / x (x) X || x (x) X / x (x) X / x x X / x
Vier Verse aus Kleists zu seiner Zeit sehr bekanntem „Frühling“:
Auf fernen Wiesen am See stehn majestätische Rosse,
Sie werfen den Nacken empor und fliehn und wiehern für Wollust,
Dass Hain und Felsen erschallt. Gefleckte Kühe durchwaten,
Geführt vom ernsthaften Stier, des Meyerhofs büschichte Sümpfe
Auf fer– / nen Wie– / sen am See || stehn ma– / jestä– / tische Ros– / se,
x X / x X / x x X || x X / x X / x x X / x
Sie wer– / fen den Nack– / en empor || und fliehn / und wie– hern für Woll– / lust,
x X / x x X / x x X || x X / x X / x x X / x
Dass Hain / und Fel– / sen erschallt. || Gefleck– / te Kü– / he durchwa– / ten,
x X / x X / x x X || x X / x X / x x X / x
Geführt / vom ernst– / haften Stier, || des Mey– / erhofs bü– / schichte Süm– / pfe
x X / x X / x x X || x X / x x X / x x X / x
Das klingt schon ziemlich hexametrisch?! Die unbetonte Anfangssilbe macht keinen wirklichen Unterschied; der feste Einschnitt in der Versmitte aber schon, denn der ist beim Hexameter ja sehr beweglich! Aber auch hier hat sich Kleist etwas ausgedacht:
Wenn die vierte Senkung zweisilbig besetzt ist, rutscht der Einschnitt hinter die erste der beiden unbetonten Silben! Drei Beispielverse:
Du drohst den Stürmen, sie schweigen, berührst die Berge, sie rauchen,
Das Heulen aufrührischer Meere, die zwischen wässernen Felsen
Den Sand des Grundes entblössen, ist deiner Herrlichkeit Loblied.
Du drohst / den Stür– / men, sie schwei– / gen, || berührst / die Ber– / ge, sie rau– / chen,
x X / x X / x x X / x || x X / x X / x x X / x
Das Heu– / len aufrüh– / rischer Mee– / re, || die zwisch– / en wäss– / ernen Fel– / sen
x X / x x X / x x X / x || x X / x X / x x X / x
Den Sand / des Grun– / des entblös– / sen, || ist dei– / ner Herr– / lichkeit Lob– / lied.
x X / x X / x x X / x || x X / x X / x x X / x
– Werden jetzt diese beiden Einschitte bunt gemischt, gewinnt der Vers noch mehr Ähnlichkeit mit dem Hexameter!
Gar nicht mal so selten geht Kleist sogar den Schritt zu einem richtigen Hexameter, was meint: er schreibt einen Vers, der in einem „hexametrischen Umfeld“ ohne Bedenken als Hexameter verstanden würde. Das geschieht immer dann, wenn die erste, im Silbenbild unbetonte Silbe ein einsilbiges Wort von einigem Gewicht ist; folgt dahinter ein weiterer Einsilber, der recht leicht ist, kann die Betonung nach vorn rutschen!
Zeigt sich voll laufender Wolken der Himmel und ferne Gefilde
Zeigt sich voll / laufender / Wolken || der / Himmel und / ferne Ge- / filde
X x x / X x x / X x || x / X x x / X x x / X x
– Das fiele in keinem Hexameter-Text dieser Welt auf … Aber es gibt sogar noch stärker zum Hexameter hinklingende Verse, nämlich dann, wenn zu dieser auf die Anfangsilbe rutschenden Betonung ein schwacher Verseinschnitt kommt, der von einem starken Satzeinschnitt übertönt wird; wodurch die Zäsur vom letzteren gebildet wird!
Setzt über Klüfte, Gewässer und Rohr. Moräste vermissen
Setzt über / Klüfte, Ge- / wässer und / Rohr. || Mo- / räste ver- / missen
X x x / X x x / X x x / X || x / X x x / X x
– Der Verseinschnitt liegt vor „und“, aber den hört man nun wirklich nicht? Ein lupenreiner Hexameter mit Zäsur im vierten Fuß …
Es ist schon eigenartig, wie sich die Dichter dieser Zeit vom Alexandriner vorgearbeitet haben in Richtung auf den Hexameter hin; den dann Klopstock in seinem Messias mit einem Schlag in die deutsche Dichtung hineinhob! Er war zu seinem Vers über das Beispiel des antiken Hexameters gekommen, und der Messias war so eindrucks- und wirkungsvoll, dass der dabei benutzte Vers sofort anerkannt wurde.
Ewald von Kleist hatte seinen „Frühling“ früher vollendet als Klopstock den „Messias“; gedruckt worden ist er allerdings später, und der von ihm verwendete Vers hat so keine Nachahmer gefunden, wenn Klopstock selbst auch recht angetan war von diesem „aufgelösten Alexandriner“.
Wäre es anders gekommen, hätte Kleist seinen Text zuerst veröffentlicht?! Ich denke mal, nein; dafür war ihm Klopstock als Dichter einfach zu weit voraus. Aber lesenswert ist der „Frühling“ trotzdem! Manchmal ein wenig dröge, mit einigem Leerlauf, das sicher; aber auch immer wieder mit schönen, ausdrucksstarken und einprägsamen Versen.